Balint Journal 2006; 7(2): 63-64
DOI: 10.1055/s-2006-941514
Bericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Melancholie - Genie und Wahnsinn in der Kunst”

(Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie Berlin) Eindrücke eines verbildeten Fachmannes als leicht verhüllter Beitrag zur Seele der Orthopädie zum einen der Psychiatrie zum anderenW. T. Kanzow1
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
22. Juni 2006 (online)

Verbildet: Wer ist nicht ständig auf der Suche nach Bestätigungen für das in einem Gärende? Aber was in einem der Bestätigung bei der Konstruktion der eigenen Wirklichkeit harrt, kann tief verborgen liegen, und das Zu-Tage-treten, das plötzliche Berührtwerden und das Erkennen, gleichsam ein Wiedererkennen, kann - bei aller Vertrautheit mit sich selbst - einen doch sehr überraschen. Und diese Berliner Ausstellung unter dem Namen „Melancholie” mit der Anziehungskraft langer Warteschlangen hat aus Tiefen wachgerufen: reichhaltig und verschieden. Hier mein Abriss.

Das erste Verborgene, das bei dieser Ausstellung so erstaunlich zu Tage trat und faszinierte, war die Form der Melancholie: wie wird sie gestaltet, dass sie spürbar wird? Die Antworten durchstreiften das Feld der Haltung. Die Idee grub sich ein, wie die Melancholie sich in der Haltung ausgedrückt und wie sie in stummer und unberedter Form doch fesselnd wirkt: wie macht sie das? Der Haltung gehörte die Aufmerksamkeit, also jener menschlichen Komposition, die vieles meint, aber in der Biegung und Beugung der Wirbelsäule ihren Kern und vielleicht auch ihr Ziel und Ende findet: von der Anschauung her bis zum Röntgenbild. Und zu dieser Haltung gehört neben dem Rückgrat auch der Kopf, besser: das Haupt. Dass dessen Zugehörigkeit zur Wirbelsäule und zur Haltung besonders erwähnt wird, ist schon ein Akt der Gegenübertragungsinterpretation und das liegt wohl daran, dass dem Kopf zwar zugehöriges, aber eben auch abgegrenztes und separates gegenüber der Wirbelsäule zugebilligt wird. Der Hals, der Nacken wird zum Ort einer Beziehung. Und um diese Beziehung, diese zwischen Haupt und tragender Säule geht es, genauer: ging es. Erschüttert und begeistert war ich über die Entdeckung (und das Wiedererkennen), wie markant sich an dieser Beziehung von Rückgrat und Haupt die Darstellung der Melancholie von der einer melancholischen Attitüde unterscheidet (und Differenz ist ja das, was Identität sichtbar werden lässt).

Die „Melancholie” wie bei Dürer: da ist das Haupt in die Hand gestützt. Der sich wiederum aufstützende Arm trägt einen schwer erscheinenden Kopf. Es ist nicht mehr in grader Verbindung und Beziehung die eigene Wirbelsäule, die ihr Haupt trägt.

Die Wirbelsäule: Sie ist ja Form gewordene eigene Haltung. Sie ist die langfristige Zementierung der individuellen Körpersprache. In der Wirbelsäule findet die individuelle Seele ihre körperliche Struktur. Sie schafft sich identische Form. Der Kopf dagegen ist der Träger der Gedanken, der Seele, der gegenwärtigen Ausrichtung und Konfrontation (!).

In der Melancholie fehlt für das Anstehende eine Haltung. Die Wirbelsäule kann ihre gewordene Struktur nicht als tragfähige anbieten. Der Kopf braucht einer Hilfsstütze, er muss als Notbehelf von außen, von Händen, die wieder für sich Stützen suchen, mühsam gehalten werden. Er wird bewegungsunfähig geborgen und zugleich auch - in den Händen - verborgen: das Gesicht kann nicht mehr schauen noch anschauen. Eine Beziehung, ein Anknüpfen an ein Außen bleibt jenseits der Vorstellung. (Und der Betrachter findet keinen Blick.) Der Kopf: er kann gottseidank nicht verloren gehen. Aber unverknüpft hilft keine frühere Haltung und Identität aus der Geschichte. Es bedrängt das Bild des Menschen, der nicht weiß, was ihm zu tun ist und dessen Hände gebunden sind, Fassung zu sein. Alle Melancholiker hielten den Kopf in der Hand. Kein Shunt'scher Kragen war gemalt. (Wegen dieser sanften Invektive gegen orthopädisches Agieren der Gerechtigkeit halber auch eine gegen die Psychosomatik: im Lehrbuch von v. Uexküll [1985] reduziert sich die Wirbelsäule auf Lumbagospekulationen …)

Anders als z. B. bei Dürer waren die späteren Darstellungen: gerade die in der Romantik mit „Melancholie” betitelten Bilder. Sie waren anders in der dargestellten Haltung und in der Beziehung zum Außen und zum Betrachter: Da war der Kopf nicht ausschließlich in der Hand des gebeugten Menschen, da fand sich immer noch ein Halt und eine Haltung für den Kopf, da konnte das Rückgrat das Haupt mit Muskelkraft posieren… und ein Blick war aufzufangen. Die Übertragung vermittelte nicht Ausweglosigkeit, sondern eine gewollte Botschaft und Aufforderung. Und die Gegenübertragung war Ärger: Ärger über die Pose als bloße Mitteilung und eine unbefriedigte Sehnsucht nach einem tieferen, einem authentischeren, nach einem unverstellteren(!) Gefühl. Ach ja: Tiefenpsychologie.

Soweit der Beitrag zum Orthopädischen. Nun der psychiatrische.

Die Melancholie: Sie ist sprachlich in der klassifikatorischen Landschaft der Psychiatrie trotz der Verdienste Tellenbachs heimatlos geworden. Was die Ausstellung lehrt, ist, dass sie nur bei völliger Verkennung des Dargestellten mit „Depression” übersetzt werden dürfte. Gegen eine solche Einreihung in die Alltagsordnung heutiger Konstrukte und gegen diese scheinbar wissende Erledigung wehrt sie sich. Da passt sie nicht hinein, denn ihr Anliegen ist ein weitergehendes Menschliches, wenn sie eine anthropologische Krise umkreist und sich noch über und weit vor einer psychiatrischen Antwort bewegt.

Die „Melancholie” der Ausstellung prägt mit ihren Bildern und Skulpturen, aber gerade auch durch die Beispiele der menschlichen Antworten auf die „Melancholie” eine weit von unserem Depressionsbegriff entfernte, diagnostisch nahezu vergessene menschliche Situation: Das ist der Mensch, der erwachsen werdend vor einer weiten säkularen Welt als seiner Aufgabe steht.

Die Melancholie: Das ist die Ratlosigkeit vor dem geforderten Aufbruch. Die Melancholie - selbst ein unlebbarer Zustand - muss Auswege finden, will sie nicht sterben lassen. Und die Ausstellung zeigt viele und sie zeigt die großen Wege: Ein Weg aus der Melancholie ist der des Künstlers, ein Weg am Rande der Welt. Ein Weg und Aufbruch ist der, der die Welt mit Kunstfertigkeit, dem Handwerk, im kleinen und konkreten gestaltet. Und ein weitergehender und verwandter Weg ist der des Naturwissenschaftlers, der der Zeit und dem Raum sichernde Konturen abgewinnt, und damit für sich und andere Wissens- und Glaubenslinien bahnt - gegen das immer zu große und unfertige Feld. Und es ist der Wahnsinn, der sich als letzter Aus- und Rück- und irrender Weg der Melancholie anbietet, und die sich an ihm entwickelnde Kunst der Psychiatrie als dessen ordnendes Geleit.

Die Psychiatriegeschichte rankt um den Wahnsinn und sieht in ihrer Mitte die Schizophrenie. Sie nimmt als ihre Kunst den Ordnungsruf der Gesellschaft so ernst und behandelt die Psychopathologie des Verrücktseins derart, dass sie die Melancholie vergessen hat: die Melancholie als Haltloses vor dem Leben. Und in ihrer Mitte: die Angst des Wahnsinnigen vor dem Leben - die Ratlosigkeit, wenn seine gewachsene Haltung, wenn sein Rückgrat seinen Kopf nicht tragen will. Das Vergessen der Melancholie ist das Vergessen der Lebensangst des heute schizophren Benannten. Es ist aber die Melancholie - und was könnte gewichtiger sein - die die Suicidgedanken mit sich bringt: wenn der Patient weniger im Schoß seines Irrsinns verkettet sondern wieder gebessert vor dem Leben steht - psychopathologisch befreit wieder am alten Ort seiner Melancholie.

Vergessen hat diesen höheren Ort der Melancholie die Psychiatrie. Ist es sein Weg? Der Psychiater …, vielleicht weil er sich selbst täglich in seiner Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn eine künstlerische Ordnung gegen die Melancholie zu geben vermag?

In fremden Hallen so schön und treu seine Fragen wiederzufinden …

Dr. med. Walter Thomas Kanzow

Facharzt für Psychiatrie u. Psychotherapie

Forstweg 23

24105 Kiel