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DOI: 10.1055/s-2006-941515
Könnte „ES” nicht auch mir passieren?
Vom Lernen, heilsame Gespräche zu führenPublication History
Publication Date:
22 June 2006 (online)

Herzinfarkte bei zwei Allgemeinärzten und einem Orthopäden in den letzten Monaten in Kassel lassen mich aufhorchen und an Ursachen denken, die über bekannte Risikokonstellationen hinausgehen, ganz abgesehen von Erkrankungen anderer Kollegen, die nicht publik werden.
Der orthopädische Kollege, ca. 55 Jahre, Einzelpraxis, ist Mitglied des Qualitätszirkels „Schmerztherapie”. Nach dem plötzlich aufgetretenen Infarkt, nach zehnwöchiger Rehabilitation und nach Implantation eines internen Defibrillators wird er an aorto-koronaren Bypässen operiert, während ich diese Zeilen niederschreibe.
Anlässlich der Konferenz Psychosomatische Grundversorgung in Bad Nauheim (7. - 9.10.2005) erfahre ich ganz nebenbei während des Hotelfrühstücks, dass jener Kollege einige Tage zuvor einen Herzinfarkt erlitten hat. Ich bin wie vom Donner gerührt, weil mir zwar sein Zigarettenkonsum bekannt ist, er aber auf mich körperlich immer einen gesunden Eindruck macht, ansonsten ich jedoch wenig von ihm weiß. Unwillkürlich denke ich an seine Lebensplanung, die schlagartig eine Wendung erfahren wird.
Ohne zu zögern bringe ich die Neuigkeit an jenem Sonntagmorgen in der Konferenz ein und bin erstaunt, welche Bezüge die sich formierende Gruppe zum vorausgegangenen Freitag und Sonnabend herstellt. Es geht um Druck und Spannung, denen Ärzte und ihre Patienten ausgesetzt sind, die aber auch gegenseitig ausgeübt wird. Urplötzlich treten Beziehungsebenen zutage, die bis zum Qualitätszirkel in Kassel und dessen Arbeitsweise und Thematik (z. B. „der Fuß”) zurückgreifen und sich anderseits nach vorne in die folgenden Wochen auswirken. (s.Wolfram Schüffel, Konferenz Psychosomatische Grundversorung, Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung, Bad Nauheim).
Zwei Tage nach der Konferenz treffen sich zwei Qualitätszirkel zur halbjährlichen gemeinsamen Arbeitstagung (der QZ Psychotherapie/Psychoanalyse und er QZ Schmerztherapie haben Anfang 2005 anlässlich des Themas „Schwindel” zusammengefunden und halbjährliche Treffen vereinbart), aber keiner meiner Kollegen noch ich selbst sprechen das Ereignis des Herzinfarktes an, sondern gehen zur Tagesordnung über.
Ich selbst erwähne ebenso wenig, dass mich bereits zu diesem Zeitpunkt ein Medikamentenregress durch die Krankenkassen rückwirkend für das Jahr 2001 bedrückt, nachdem ich gerade ein Prüfverfahren zur Heilmittelverordnung hinter mir habe.
Derartige Prüfverfahren, die häufig mit einem Regress und erheblichen finanziellen Belastungen für die jeweilige Praxis enden, sind vergleichbar mit Gerichtsverfahren, in denen wir Ärzte als Angeklagte beweispflichtig sind und die Krankenkassenvertreter (Antragsteller) bezeugen müssen, dass wir Medikamente und Heilmittel nach den gesetzlichen Vorgaben der Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit verordnen. Praxisbesonderheiten werden dabei berücksichtigt, müssen aber im Einzelfall auch belegt werden.
Anlässlich weiterer Treffen der Qualitätszirkel, der Schmerzkonferenz und der Balint-Gruppe bin ich nach wie vor nicht offen genug, über das Bedrückende dieser Horrrorszenarien zu sprechen, spüre jedoch zunehmend, wie Entlastung aus der Gruppenarbeit erwächst.
Bewusst wird mir das Ganze, als Ende November die entscheidende Sitzung des Prüfungsausschusses kurzfristig für den 7. Dezember anberaumt wird.
Rücksprache mit erfahrenen Kollegen, Sondierungsgespräche mit dem Rechtsanwalt, Stellungnahme zum 2. Gutachen (mit Hilfe meiner Frau) Formulierung der Patientendokumentation, Nachfragen bei Kollegen in Oldenburg (er hat soeben einen Regress über eine 5-stellige Summe abwehren können) und Würzburg, Information der Praxiskollegen und des gesamten Praxisteams, intensive Gespräche mit meiner Frau, ich drehe mich wie im Karussel. Ich strauchele und falle auf einen Glastisch, der komplett zersplittert, versuche mich zu konzentrieren, beschränke die Patientengespräche auf das Notwendigste, ich bemühe mich und vergesse Terminvereinbarungen, alles kreist um den Regress.
Vorläufige Entwarnung am 8. Dezember, der Regress ist zunächst abgewehrt, aber die Kassen kündigen Widerspruch an, auf zur nächsten Runde!
Wann hört dieser Horror endlich auf? Ich begreife, was unser orthopädischer Kollege durchgemacht hat.
Was hat mir geholfen? Die Druckentlastung und die Auflösung des Staus führe ich zurück auf die großartige Unterstützung meiner Frau (sie kennt Praxis und alle Patienten gut), durch das Praxisteam, durch Balint-Kollegen, durch den Supervisor, durch die Patientengruppe und nicht zuletzt durch die Kollegen, die im Prüfungsausschuss zwar knallhart hinterfragen, aber in der Abstimmung gegen die Kassenvertreter votierten.
Auf der Strecke geblieben sind das Zirkeltreffen am 10. Dezember in Frankfurt, die Kontakte zu den Familien und Freunden sowie die persönlichen und privaten Dinge, die wir unter dem Stichwort Freizeit und Lebensqualität subsummieren.
Dramatische Honorareinbrüche bis zu 30 Prozent für die Quartale nach Einführung des neuen EBM, eine Nachricht, die uns alle vor Weihnachten aufschreckt, hat auf mich nicht mehr diese verheerende Wirkung. Innerhalb von drei Monaten habe ich die heilsame Wirkung der Gespräche erfahren,
Erst im Verlauf der Feiertage lässt das Bedrückende nach und ich freue mich, dass „ES” mir bis dahin nicht passiert ist.
Kassel, im Januar 2006
Dr. med. Gisbert Müller
Friedrich-Ebert-Str. 39
34117 Kassel