Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: S4
DOI: 10.1055/s-2006-941731
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Patienten-relevante Endpunkte und ihre Bedeutung in der Medizin

Patient-relevant end points and their significance in medicineM. Middeke1
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Publication Date:
10 May 2006 (online)

Welche Ergebnisse aus der klinischen Forschung sind für die Patienten wirklich relevant und wem obliegt diese Beurteilung? Was ist der wirkliche Nutzen für die Patienten? Inwieweit decken sich bei dieser Beurteilung die verschiedenen Sichtweisen von Patienten, Ärzten, Pharmaindustrie und Krankenkassen? Angesichts der großen Fortschritte in der Medizin, insbesondere bei der Therapie der wichtigsten Volkskrankheiten, und der Vielzahl von klinischen Studien werden diese Fragen immer drängender gestellt. Es geht dabei auch um die Verteilung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen. Welche Intervention wird als allgemein nützliche Gesundheitsleistung vom System akzeptiert und von den Kassen erstattet, und welche Leistungen müssen ganz oder teilweise vom Patienten selbst finanziert werden? Patienten-relevante Nutzenbewertung ist bereits am Beispiel der Insulinanaloga ein aktuelles Diskussionthema.

Die Definition von Nutzen berücksichtigt die verschiedenen Ebenen des Gesundheitssystems. Nutzendefinitionen (abgeleitet von der englischsprachigen Begrifflichkeit) sind:

Nachweis der klinisch pharmakologischen Wirkung = efficacy (Effekt, Wirksamkeit), Nachweis der Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen = effectiveness (Effektivität), Nachweis des gesundheitsökonomischen Nutzens = efficiency (Effizienz).

Damit ist ganz offensichtlich, dass die Nutzenbewertung z. B. einer therapeutischen Maßnahme bzw. eines neuen Wirkprinzips aus der Sicht des Pharmakologen, einer Fachgesellschaft, der betroffenen Patienten oder der Kassen ganz unterschiedlich sein kann, aber nicht zwangsläufig sein muss. Aus ärztlicher Sicht muss der Nutzen für die Patienten stets im Mittelpunkt stehen.

Nutzen muss qualitativ und quantitativ differenziert dargestellt werden. Parameter und Dimensionen der Nutzenbewertung sind:

Krankheitsspezifisches Überleben, Gesamtmortalität, Lebensqualität, klinische Effekte, absolute Risikodifferenz und relatives Risiko (odds ratio), NNT (Number Needed to Treat), direkte und indirekte Kosten.

Alles gleichzeitig in einer Studie zu messen, ist nicht möglich. Die Gewichtung liegt bei den meisten klinischen Studien bisher vorwiegend auf dem Nachweis der Überlegenheit eines therapeutischen Verfahrens unter idealen Bedingungen in kontrollierten Studien. Das geht aber häufig an der realen Alltagssituation vorbei. Die Forderung nach Reale-Welt-Studien ist daher berechtigt. Versorgungs- und Ergebnisforschung sind zwei neue Ansätze, um die Situation der Versorgungsqualität im Alltag und den Nutzen für Patienten unter Alltagsbedingungen zu erforschen. Sie ergänzen sinnvollerweise die klassische klinische Forschung. Patienten-relevante Endpunkte müssen sich dabei stärker an der Alltagssituation der Patienten orientieren

Kostenträger und Gesundheitspolitiker legen immer härtere Kriterien an die Bewertung neuer Therapien. Aufgrund begrenzter finanzieller Ressourcen rückt der Wirtschaftlichkeitsgedanke immer stärker in den Vordergrund. Andererseits wird heute gefordert, nicht nur auf die Wirksamkeit einer Therapie und auf „harte” Endpunkte zu schauen, sondern auch weitere wichtige Aspekte aus Sicht des Patienten, wie z. B. die Verträglichkeit oder Zufriedenheit, zu berücksichtigen.

Viele Patienten verbinden Gesundheit primär mit dem Erhalt ihrer Lebensqualität. Was aber ist darunter zu verstehen und wie lässt sich Lebensqualität überhaupt messen? Wie gelingt dies in speziellen Patientengruppen, z. B. bei Kindern und Jugendlichen oder auch bei Demenzkranken? In den Studien zählt die Lebensqualität oft nur zu den sekundären, „weichen” Endpunkten. Patienten aber erscheint z. B. die Verträglichkeit einer Dauermedikation manchmal wichtiger als ein verhinderter Herztod oder ein Schlaganfall in weiter Ferne.

Darüber hinaus: Zählt nur die Lebensqualität der betroffenen Patienten oder müssen, wie z. B. bei der Demenz, auch die Auswirkungen im sozialen Bereich berücksichtigt werden? Wie ist der Nutzen für die Patienten und ihre Umgebung zu bewerten?

Diese und viele weitere offene Fragen zu diesem Themenbereich wurden im Experten-Workshop „Patientenrelevante Endpunkte und ihre Bedeutung in der Medizin” am 1. Dezember 2005 in Berlin bearbeitet und diskutiert.

Dabei wird ein breites Spektrum Patienten-relevanter Endpunkte bei sehr unterschiedlichen Erkrankungen von Experten aus ganz verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems behandelt.

Wir leben in einer spannenden Zeit des Umbruchs. Daher ist das vorliegende Supplement durchaus auch als ein Beitrag zur Diskussion um die Neugestaltung des Gesundheitswesens zu verstehen.

Prof. Dr. Martin Middeke

DMW Chefredaktion, Georg Thieme Verlag KG

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