Aktuelle Neurologie 2007; 34(2): 73-74
DOI: 10.1055/s-2006-952014
Editorial
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GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz und SGB V - spezielle Chancen und Risiken für das Fach Neurologie

Statutory Health Insurance: Competition-Promoting Law and SGB V - Special Chances and Risks for NeurologyC.-W.  Wallesch1
  • 1Klinik und Poliklinik für Neurologie, Otto-von-Guericke-Universität
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Publication Date:
18 March 2008 (online)

Über das „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung” ist erbittert gestritten worden, bezeichnenderweise vor allem über die Einnahmeseite einschließlich Kostendämpfungsmaßnahmen, jedoch nur wenig über Veränderungen in der Struktur und Organisation der Leistungserbringung. Ich möchte das am 2.2.2007 vom Bundestag verabschiedete Gesetz unter dem Gesichtspunkt erörtern, welche Regelungen sich besonders auf die ambulante und stationäre neurologische Versorgung auswirken könnten. Änderungen durch den Bundesrat sind hinsichtlich der hier diskutierten Aspekte nicht zu erwarten. Es soll hier aus Platzgründen nur das SGB V betrachtet werden. Daneben möchte ich nur darauf hinweisen, dass die Pflegekassen sich zukünftig auch an der integrierten Versorgung beteiligen können (SGB XI § 92b), was wichtige Perspektiven eröffnet.

Die herausgegriffenen Neuregelungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie sind mir bei einem ersten Abgleich mit den bisherigen Bestimmungen aufgefallen. Änderungen werden z. T. auszugsweise zitiert, Interessierte werden auf den im Internet vom BMG publizierten Text verwiesen (www.bmg.bund.de).

Im SGB V werden neu eingefügt oder geändert:

§ 11 (4):

„Versicherte haben Anspruch auf ein Versorgungsmanagement insbesondere zur Lösung von Problemen beim Übergang in die verschiedenen Versorgungsbereiche. Die betroffenen Leistungserbringer sorgen für eine sachgerechte Anschlussversorgung des Versicherten und übermitteln sich gegenseitig die erforderlichen Informationen. Sie sind zur Erfüllung dieser Aufgaben von den Krankenkassen zu unterstützen (…)”. Die Pflegekassen sind in die Regelung einbezogen. Ob die Unterstützung durch die Krankenkassen auch eine finanzielle Dimension hat, bleibt unklar.

§ 35b (1):

„Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen kann (…) beauftragt werden, den Nutzen oder das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Arzneimitteln zu bewerten. (…). Die Bewertung erfolgt durch den Vergleich mit anderen Arzneimitteln und Behandlungsformen unter Berücksichtigung des therapeutischen Zusatznutzens für die Patienten im Verhältnis zu den Kosten. Beim Patientennutzen sollen insbesondere die Verbesserung des Gesundheitszustandes, eine Verkürzung der Krankheitsdauer, eine Verlängerung der Lebensdauer, eine Verringerung der Nebenwirkungen sowie eine Verbesserung der Lebensqualität, bei der wirtschaftlichen Bewertung auch die Angemessenheit und Zumutbarkeit einer Kostenübernahme durch die Versichertengemeinschaft angemessen berücksichtigt werden (…).” Es ist absehbar, dass das IQWiG die Rolle einnehmen wird, die das National Institute of Clinical Excellency (NICE) in England spielt. Dies kann begrüßt werden, es sollten dann aber auch - wie in England - die entsprechenden Mittel zur Verfügung gestellt werden. Die Neurologie ist besonders betroffen, weil die NICE-Analysen grenzwertige Kosten-Nutzen-Relationen für neurologisch bedeutsame Medikamente (Schubprophylaxe der MS, Antidementiva) festgestellt haben.

§ 37b regelt die ambulante Palliativversorgung, § 73d die mit Spezialpräparaten mit hohen Jahrestherapiekosten, die von einem „Arzt für besondere Arzneimitteltherapie” bestätigt oder veranlasst werden müssen (MS?, Antidementiva? Clopidogrel? - das kann durchaus Sinn machen, wenn es vernünftig ausgestaltet wird).

§ 116b (2):

„Ein zugelassenes Krankenhaus ist zur ambulanten Behandlung der in dem Katalog nach Absatz 3 und 4 genannten hochspezialisierten Leistungen, seltenen Erkrankungen und Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen berechtigt, wenn und soweit es im Rahmen der Krankenhausplanung des Landes auf Antrag des Krankenhausträgers unter Berücksichtigung der vertragsärztlichen Versorgungssituation dazu bestimmt worden ist (…)”. § 116b ist deshalb für die Neurologie bedeutsam, weil er u. a. auf folgende Erkrankungen abzielt:

Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen, Patienten mit multipler Sklerose, Patienten mit Anfallsleiden.

Die bisherige Fassung des § 116b sah Verträge mit den Krankenkassen als Grundlage vor, die von diesen nicht angeboten wurden. Die Krankenhausplanung der Länder ist auf die übertragene neue Aufgabe in keiner Weise vorbereitet. Krankenhäuser haben bereits im Vorgriff auf das neue Gesetz Anträge gestellt. Hier ist eine Initiative des Berufsverbandes gefragt, um Wildwuchs und unnötige Frontbildungen zu verhindern.

§ 140b (Verträge zu integrierten Versorgungsformen) erhält folgenden Zusatz:

„Die Verträge zur integrierten Versorgung sollen eine bevölkerungsbezogene Flächendeckung der Versorgung ermöglichen”. Hier ergibt sich möglicherweise eine Einschränkung der bisherigen Gestaltungsfreiheit der Vertragspartner von Verträgen zur integrierten Versorgung, insbesondere hinsichtlich der Verwendung von Mitteln aus der Anschubfinanzierung.

Klinikärzte dürften dem Gesetzgeber für folgende Neuregelung danken:

§ 275 (1c):

„Bei Krankenhausbehandlung nach § 39 ist eine Prüfung nach Absatz 1 Nr. 1 zeitnah durchzuführen. Die Prüfung nach Satz 1 ist spätestens sechs Wochen nach Eingang der Abrechnung bei der Krankenkasse einzuleiten und durch den Medizinischen Dienst dem Krankenhaus anzuzeigen. Falls die Prüfung nicht zu einer Minderung des Abrechnungsbetrags führt, hat die Krankenkasse dem Krankenhaus eine Aufwandspauschale in Höhe von 100 Euro zu entrichten.” Das ist doch mal ein Anreiz, sorgfältig zu kodieren und zu dokumentieren.

Völlig bizarr hingegen scheinen die Regelungen zur „zulassungsübergreifenden Anwendung von Arzneimitteln in klinischen Studien” (§ 35c, vgl. [1]):

„Außerhalb des Anwendungsbereichs des § 35b Abs. 3 haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit zugelassenen Arzneimitteln in klinischen Studien, sofern hierdurch eine therapierelevante Verbesserung der Behandlung schwerwiegenden Erkrankung im Vergleich zu bestehenden Behandlungsmöglichkeiten zu erwarten ist, damit verbundene Mehrkosten in einem angemessenen Nutzen Verhältnis zum erwarteten medizinischen Zusatznutzen stehen (…) und der Gemeinsame Bundesausschuss der Arzneimittelverordnung nicht widerspricht. Der Gemeinsame Bundesausschuss ist mindestens zehn Wochen vor dem Beginn der Arzneiverordnung zu informieren; er kann innerhalb acht Wochen nach Eingang der Mitteilung widersprechen (…).” Die Arbeit von Diener et al. [1] legt nahe, dass viele von uns und vermutlich alle Pädiater geradezu gewohnheitsmäßig „klinische Studien” und nicht nur individuelle Heilversuche durchführen. Wir sollten dem Gemeinsamen Bundesausschuss Arbeit geben und dadurch viele neue Arbeitsplätze schaffen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - abgesehen von seiner Haltung zum Off-label-use - auf der Leistungsseite durchaus Gestaltungswillen und Stringenz aufweist. Individuell mag man zustimmend oder ablehnend eingestellt sein. Für Ärzte, die an der Patientenversorgung teilnehmen, sind Veränderungen in der Finanzierung (Gesundheitsfonds, Bürgerversicherung, Kopfprämie) nachrangig. Wir sollten uns kritisch - das Positive und das Negative bedenkend - mit der zunehmenden Regulierung der Leistungserbringung befassen.

Literatur

Prof. Dr. med. C.-W. Wallesch

Klinik und Poliklinik für Neurologie, Otto-von-Guericke-Universität

Leipziger Str. 44

39120 Magdeburg

Email: neuro.wallesch@medizin.uni-magdeburg.de