Laryngorhinootologie 1984; 63(4): 203-205
DOI: 10.1055/s-2007-1008276
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Indikation zur Tonsillektomie im Kindesalter aus heutiger Sicht*

Modern Aspects of Tonsillectomy in InfantsH. Gastpar
  • Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkranke der Universität München
    (Direktor: Prof. Dr. H. H. Naumann)
* Vortrag, gehalten auf der 67. Versammlung der Vereinigung Südwestdeutscher Hals-Nasen-Ohrenärzte in Bamberg vom 23. bis 25. September 1983
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Publication Date:
29 February 2008 (online)

Zusammenfassung

Die Indikation zur Tonsillektomie - häufig ein kontroverses Thema zwischen HNO-Arzt und Pädiater - hat selbstverständlich auf der Grundlage der Funktion und Pathophysiologie der Gaumentonsillen zu erfolgen. Der einzigartige anatomische Aufbau der Gaumentonsillen mit der charakteristischen Retikulierung ihres baumartig verzweigten, schlauchförmigen Kryptenepithels am Eingang des aerodigestiven Traktes gibt bereits Hinweise auf ihre Immunfunktion, weil hierdurch eine enge und lange Kommunikation zwischen alimentären Noxen und dem subepithelial gelegenen lymphatischen Gewebe ermöglicht wird. Ihre immunologische Hauptaufgabe liegt in der Erkennung, Verarbeitung und Vermittlung der Antigene an das übrige lymphatische Gewebe. Insbesondere beim Kind wird in den Gaumentonsillen eine Erstinformation über die zahlreichen Umweltantigene ermöglicht, mit denen es in den ersten Lebensjahren konfrontiert wird, und somit ein „Lernprozeß des immunologischen Systems” in Gang gesetzt, weswegen bis zum vollendeten vierten Lebensjahr grundsätzlich Bedenken gegen eine Tonsillektomie angebracht erscheinen. Obwohl das Kryptenepithel außerordentlich reichlich mit Lymphozyten der T- und B-Reihe durchsetzt ist, sind die Gaumentonsillen für die unmittelbare Immunabwehr entbehrlich, weil das reichliche lymphoepitheliale Gewebe des Waldeyerschen Rachenringes dieselbe Immunfunktion erfüllt und durch eine Tonsillektomie nachweislich kein persistierender Immundefekt resultiert. Aus bakteriologischvirologischer Sicht ergeben sich je nach Ausprägung und Verlauf der Tonsillitiden wichtige Aspekte für eine Indikation zur Tonsillektomie, weswegen - vor allem bei Kindern - im Einzelfall eine Differenzierung zwischen rezidivierender und chronischer Tonsillitis anzustreben ist. Auch bei der sekundären zervikalen Lymphadenitis sollte eine solche Unterscheidung getroffen werden. Die chronische Tonsillitis spielt im Kindesalter zahlenmäßig eine untergeordnete Rolle. Eine Tonsillektomie ist in Absprache mit dem Pädiater hierbei nur in den wenigen Fällen indiziert, in denen rezidivierende Streptokokkeninfekte zu Organmanifestationen an Niere, Herz und Gelenken geführt haben und Hinweise auf einen tonsillogenen Fokus vorliegen.

Summary

Any discussion of tonsillectomy must necessarily be based on the function and pathophysiology of the palatine tonsils. Their unique anatomic structure illustrates their main immunological function: to recognize and process the transgressors from the enviroment, to transfer the resulting immunological information to the entire lymphatic system and, therefore, to contribute to the immuno-defensive mechanism of the infant organism. In spite of the abundance of lymphocytes of the T-and B-type in the reticular zone of their epithelium, the tonsils seem to be dispensable because the lymphoepithelial tissue of the pharyngeal mucosa has the same immunological function and, moreover, tonsillectomy does not result in any persistent immunologic defect. However, tonsillectomy in infants up to an age of 4 years should be recommended with great reluctance if at all, since up to this age the tonsils play an important part in the immunological “learning process”. Some bacterio-virological aspects are equally important for the indication of tonsillectomy in individual cases as the differentiation between chronic and recurrent tonsillitis. In the treatment of the secondary cervical lymphadenitis, too, such differentiation is mandatory. Chronic tonsillitis in terms of a „focal disease” is a rare event in infants, and tonsillectomy is recommended only in such exceptional cases where recurrent streptococcal infections resulted in rheumatism or glomerulonephritis.