Psychiatr Prax 2008; 35(1): 44-46
DOI: 10.1055/s-2007-1022673
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Klinik als rechtsfreier Raum?

Strafrechtliche und zivilrechtliche Aspekte von Rechtsverstößen psychiatrischer PatientenFelix M. Böcker
  • Saale-Unstrut-Klinikum Naumburg, Klinik für psychische Erkrankungen (Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik), Naumburg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
24. Januar 2008 (online)

 

In der Diskussion um Verweildauerverkürzung und Bettenabbau in der Allgemeinpsychiatrie bei deutlicher Zunahme belegter Betten in Kliniken für Forensische Psychiatrie wird regelmäßig und zu Recht darauf hingewiesen, dass viele forensisch-psychiatrische Patienten vor der Einweisung in den Maßregelvollzug Kontakt zum allgemeinpsychiatrischen Versorgungssystem hatten und zu einem großen Teil dort stationär behandelt wurden, ja dass Patienten direkt aus der allgemeinpsychiatrischen Klinik in den MRV verlegt werden [1], [2], [3], [4]. Immer wieder einmal wird in diesem Zusammenhang die Vermutung bzw. der Vorwurf laut, die in Kliniken der Regelversorgung tätigen ärztlichen Kollegen würden schwierige Patienten "forensifizieren", also in den Maßregelvollzug "abschieben", indem sie von diesen Patienten begangene Straftaten zur Anzeige bringen. Eine Erörterung der Frage, wie mit Rechtsverstößen psychiatrischer Patienten während der Behandlung umzugehen ist, erscheint deshalb notwendig.[1]

Tatsächlich kommt es vor, dass Patienten während des Aufenthalts in der psychiatrischen Klinik strafbare Handlungen begehen. Das Risiko der Anwesenheit solcher Patienten ergibt sich schon aus der Versorgungsverpflichtung; die Häufigkeit entsprechender Vorkommnisse hat beispielsweise Fähndrich in seiner Klinik mit der BADO systematisch zu erfassen versucht. Es kommt auch vor, dass in der Klinik strafbare Handlungen bekannt werden, die vor der Aufnahme begangen wurden und bisher nicht Gegenstand von Ermittlungsverfahren geworden sind.

In den Vordergrund stellt die Rechtsprechung den Rechtsschutz der Patienten in Unterbringungsverfahren (im Sinne eines Schutzes vor willkürlichem Freiheitsentzug und Zwangsbehandlung). Der Abwehr von Gefahren, die von einem Patienten außerhalb der Klinik ausgehen, wird in gewissem Umfang Rechnung getragen. Dem Schutz der übrigen Patienten in der Klinik und der dort beschäftigten Mitarbeiter kommt vergleichsweise weniger Bedeutung zu. Dies wird als weitgehend "interne Angelegenheit" betrachtet:

So hat das Landgericht Halle, um ein Beispiel zu nennen, in einem Beschluss vom 11.1.2007 ausgeführt: "...Konkrete Anhaltspunkte für eine erhebliche Fremdgefährdung durch den Betroffenen...sind nicht dargetan noch sonst nach Aktenlage ersichtlich. ...Soweit der Antragsteller auf eine Bedrohung des Personals des Klinikums zeitlich vor bzw. während der richterlichen Anhörung bzw. auf ein aggressives Verhalten des Betroffenen gegenüber dem Personal abstellt, vermag dies keine erhebliche Fremdgefährdung zu begründen. ...lag seinem Verhalten ersichtlich das Widerstreben zugrunde, gegen seinen Willen untergebracht zu sein. Maßgeblich ist aber nicht dieses Verhalten während der Unterbringung, sondern vielmehr die Prognose, ob es ohne weitere Unterbringung, also in Freiheit, zu einer Gefährdung anderer durch den Betroffenen kommen wird. Dafür finden sich keine Anhaltspunkte, auch nicht soweit der Betroffene im Beisein des Richters der behandelnden Ärztin Gewalt angedroht hat, nachdem er entlassen sei. Die Kammer wertet dies nicht als ernst zu nehmende Androhung, sondern nur als querulatorische Verhaltensweise, um der eigenen, das Handeln der Ärzte ablehnenden Position Nachdruck zu verleihen. ..."

Das Fallbeispiel soll als Illustration dienen, um die subtile Tendenz deutlich zu machen, die psychiatrische Klinik als eine Art von "rechtsfreiem Raum" zu betrachten oder wenigstens als einen Ort, an dem andere, eigene Regeln gelten.

Mögliche rechtswidrige Handlungen von Patienten in der Klinik umfassen ein breites Spektrum, auch hinsichtlich des Schweregrades:

Beschimpfung und Beleidigung (Opfer: meist Mitarbeiter der Klinik) Sexuelle Anzüglichkeiten (Opfer: Mitarbeiterinnen, Patientinnen) Diebstahl (Opfer: meist Mitpatienten) Bedrohung (Opfer: meist Mitarbeiter der Klinik) Sachbeschädigung (meist Einrichtungsgegenstände) Brandstiftung (Gefährdung aller im Gebäude anwesenden Personen) Tätlicher Angriff (Opfer: Mitarbeiter oder Mitpatienten)

Im Alltag erweist es sich im Umgang mit solchen Vorkommnissen als außerordentlich schwierig, die Grenze zu bestimmen zwischen einer bedeutungslosen Bagatelle, einem nur für die Fortschreibung des Behandlungsplans bedeutsamen Verhalten und einem rechtlich relevanten Geschehen. Neben der unmittelbaren Belastung für die Opfer müssen weitere Konsequenzen bedacht werden:

Mit einem Kugelschreiber oder einem Malstift lässt sich ein Krankenzimmer in Minuten verwüsten. Wenn solche Schäden nicht immer wieder sofort behoben werden, droht die Station in kurzer Frist zu verwahrlosen. Der regelmäßige Ersatz zerstörten Inventars - Stühle, Tische, Fernsehgeräte - bedeutet für die Klinik eine erhebliche finanzielle Last. Wenn rechtswidrige Handlungen häufig vorkommen, wird das Stationsklima von Angst, Verunsicherung und dem Bedürfnis nach Kontrolle geprägt sein. In der Folge droht die Abwanderung von Patienten und Mitarbeitern. Vor allem aber haben Gewalttaten prognostische Bedeutung im Hinblick auf das Risiko weiterer derartiger Taten in der Zukunft.

Im Vordergrund des Klinikalltags steht der präventive Aspekt; die Kunst besteht darin, den Umgang mit dem Patienten so zu gestalten, dass es möglichst gar nicht erst zu rechtswidrigen Handlungen kommt. Diese sind aber nicht immer zu verhindern. Dann stellen sich einige Fragen:

Soll von dem Täter Schadenersatz verlangt werden? Soll das Opfer Strafanzeige erstatten? Soll der leitende Arzt eine Strafanzeige veranlassen?

Die für die zivilrechtliche Haftung maßgeblichen Bestimmungen finden sich im Bürgerlichen Gesetzbuch (§823 Schadensersatzpflicht; §827Ausschluss und Minderung der Verantwortlichkeit; §829Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen). Für die Entscheidung, ob es möglich ist, von einem Patienten Ersatz für einen von ihm verursachten Schaden zu fordern, sind demnach zwei Fragen zu beantworten:

Befand der Verursacher sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit? Wenn das nicht der Fall ist, haftet er in vollem Umfang; der Krankenhausträger kann Ersatz des entstandenen Schadens von ihm verlangen. Wurde die Aufsichtspflicht verletzt? Wenn das nicht der Fall ist, haftet auch der zurechnungsunfähige Verursacher eines Schadens, - soweit die Billigkeit nach den Umständen eine Schadloshaltung erfordert - und ihm nicht die Mittel zum Lebensunterhalt entzogen werden.

Die Billigkeit dürfte gegeben sein, soweit ein erhöhter Instandhaltungs- Aufwand nicht im Pflegesatz enthalten ist, weil sonst die Klinik regelmäßig die von verschiedenen Patienten verursachten Schäden aus eigenen Mitteln zu tragen hätte; die Mittel zum Lebensunterhalt werden jedenfalls dann nicht entzogen, wenn auf die Schadenersatzforderung hin eine Haftpflichtversicherung sich bei dem Klinikträger meldet und die Forderung zurückweist.

Die weitaus meisten rechtswidrigen Handlungen psychisch Kranker in psychiatrischen Kliniken werden nicht zur Anzeige gebracht. Ein klärendes Gespräch mit dem Opfer (durch den leitenden Arzt oder den zuständigen Oberarzt) gehört zur obligaten Nachsorge. Wenn das Opfer, also der betroffene Mitpatient oder Mitarbeiter, darauf besteht, Strafanzeige zu stellen, wird der ärztliche Leiter der Klinik dies in der Regel hinzunehmen haben, auch wenn er selbst keine Veranlassung sieht, die Behörden einzuschalten. Wenn umgekehrt das Opfer (der betroffene Mitpatient oder Mitarbeiter) es ablehnt, seinerseits Strafanzeige zu stellen, wird der leitende Arzt diese in der Regel nicht erzwingen können.

Unabhängig davon wird in jedem Fall eine Entscheidung darüber erforderlich (und im Ergebnis zu dokumentieren) sein, ob der leitende Arzt der Klinik selbst Strafanzeige stellen soll. Hier wird eine Rechtsgüter-Abwägung vorzunehmen sein, die mehrere Gesichtspunkte berücksichtigen muss. Dazu gehören etwa

die Schwere der rechtswidrigen Handlung die Häufigkeit solcher Vorkommnisse das Ausmaß des Schadens der psychopathologischer Befund zur Tatzeit (Einsichtsfähigkeit, Steuerungsfähigkeit) die Prognose und selbstverständlich das Interesse des Patienten an der Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht.

Letztlich muss eine Entscheidung getroffen werden, mit der die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Für eine Strafanzeige spricht:

Dem Täter (und anderen potenziellen Tätern) wird signalisiert, dass Gewalt und dissoziales Verhalten nicht toleriert werden. Das rechtswidrige Verhalten wird aktenkundig (und damit ggf. für spätere Verfahren verwertbar). Die Schuldfähigkeit zur Tatzeit und die Prognose werden in einem geordneten und nachprüfbaren rechtsstaatlichen Verfahren geklärt. (Mit der Begutachtung sollte ein Kollege betraut werden, der mit dem Patienten bisher nicht befasst und jedenfalls nicht in Auseinandersetzungen verstrickt war.) Mitarbeiter und Mitpatienten als Opfer werden nicht allein gelassen. Innerhalb und außerhalb der Klinik wird deutlich gemacht, dass auch in einer psychiatrischen Klinik das Strafgesetzbuch gilt.

Zu einer Einweisung in den Maßregelvollzug ("Forensifizierung") kann es auch dann, wenn eine Straftat während einer stationären psychiatrischen Behandlung angezeigt wird, nur kommen, wenn alle Voraussetzungen des §63 StGB erfüllt sind: Tatbestand einer rechtswidrigen Handlung; psychische Erkrankung; aufgehobene oder erheblich verminderte Schuldfähigkeit infolge der psychischen Erkrankung; ungünstige Kriminalprognose infolge der psychischen Erkrankung; keine milderen Alternativen verfügbar; Verhältnismäßigkeit gewahrt. Entscheidend ist, dass ein Risiko erheblicher rechtswidriger Handlungen in der Zukunft besteht, das anders nicht abgewendet werden kann.

Ist es in einer solchen Situation tatsächlich sachgerecht zu fordern, dass die Straftat nicht angezeigt werden soll? Ist die Anzeige nicht vielmehr geradezu geboten? Wenn ein Patient während einer stationären Behandlung eine Straftat begeht, die vom leitenden Arzt der Klinik zur Anzeige gebracht wird, und in dem dann folgenden Verfahren rechtskräftig festgestellt wird, dass die genannten Voraussetzungen vorliegen: Sollte denn von dem verantwortlichen Arzt wirklich verlangt werden, die Strafanzeige zu unterlassen, um die "Forensifizierung" dieses Patienten zu vermeiden, und dabei das mit der ungünstigen Kriminalprognose verbundene Risiko stillschweigend zu übergehen und die Verantwortung für die weitere Gefahrenabwehr allein zu übernehmen? Nicht in jedem Fall entspringt der Entschluss, Straftaten psychiatrischer Patienten zur Anzeige zu bringen, dem Wunsch, sich dieser schwierigen Patienten zu entledigen. Manchmal zeugt er auch von besonderem Verantwortungsbewusstsein.

Literatur

  • 01 Böcker FM . Weig W . Zwischen Selbstbestimmungsrecht und Fürsorgepflicht: Stellenwert von Unterbringung und Zwangsbehandlung in der psychiatrischen Versorgung.  Nervenarzt. 2005;  76 (Suppl 1) S293
  • 02 Kieser C . Fähndrich E . Wie geht die "Versorgungspsychiatrie" mit gewalttätigen Patienten um? Im Grenzbereich zwischen kommunaler Psychiatrie und Maßregelvollzug.  Psychiat Prax. 2003;  30 127-132
  • 03 Schmidt-Quernheim F . Kommunizierende Röhren - vom schwierigen Verhältnis von Psychiatrie und Maßragelvollzug. Beobachtungen aus der Sicht einer forensischen Ambulanz.  Psychiat Prax. 2007;  34 218-222
  • 04 Spießl H . Binder H . Mache W . Osterheider M . Cording C . Psychiatrische Regelbehandlung und Maßregelvollzug: Gibt es Wechselwirkungen?.  Nervenarzt. 2005;  76 (Suppl 1) S294

01 Strafbare Handlungen von Mitarbeitern der Klinik gegenüber Patienten sind nicht Gegenstand dieses Beitrags.

Priv.-Doz. Dr. med. Felix M. Böcker

Klinik für psychische Erkrankungen (Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik) am Saale-Unstrut-Klinikum Naumburg

Humboldtstr. 31

06618 Naumburg

eMail: FM.Boecker@t-online.de