Senologie - Zeitschrift für Mammadiagnostik und -therapie 2007; 4(4): 242-245
DOI: 10.1055/s-2007-1022683
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Alternative Therapie - Welche Bedeutung, welchen Wert hat komplementäre und alternative Medizin (KAM) in der Onkologie?

U. R. Kleeberg
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Publication Date:
25 January 2008 (online)

 

Schon bei der Frage, was verstehen Sie eigentlich unter KAM, divergieren die Vorstellungen. Für den Betroffenen, den Krebskranken, ist es ein hoffnungsvoller Wunsch, dass der bittere Kelch vorübergehen oder doch erträglich sein möge. KAM soll hier auch die wachsende Bereitschaft unterstützen, das Schicksal selber in die Hand zu nehmen, es mit sanfter, vermeintlich ungefährlicher Medizin zu mildern, wenn nicht zu wenden [1].

"Natürliche, biologische Medizin" und "Stärkung der Körperabwehr" im Kampf gegen den Krebs soll Ergänzung zu der harten, auf "Stahl, Strahl und Chemie" begrenzten Schulmedizin sein. Phytotherapeutika, Vitamine, Antioxydantien etc. sind die Werkzeuge, Homöopathie und Anthroposophie die esoterischen Verfahren, die "ungeahnte Möglichkeiten" eröffnen. Solche Heilsbotschaften wenden sich gegen eine Medizin, die als "Schule", als "verbohrt", konservativen Heilsvorstellungen verhaftet, als zerstörerisch dargestellt wird.

"Nach der ‘Chemo’ gehe ich zu meinem Heilpraktiker, der hat Zeit für mich und baut mich wieder auf". So ähnlich ist immer wieder zu hören, stiller Vorwurf an den Naturwissenschaftler, der sich bemüht, der Erkrankung rational zu begegnen, aber dessen Zeitaufwand für eine ganzheitliche Begleitung in unserem zunehmend merkantilen Interessen untergeordneten Gesundheitssystem budgetiert ist. Ärztlicher Altruismus, als selbstverständliches Berufsethos eingefordert, kann dieser staatlich angeordneten Garotte nicht ausreichend entgegenwirken.

So trägt der Wunsch nach "alternativer Medizin" den Kummer über die Erkrankung, die wachsende Unzufriedenheit über den Verlauf und die mit der Therapie verbundenen Lasten, schließlich den Zorn am Versagen der "Schulmedizin" in sich [2].

"Sickness is neither a blessing nor a punishment but, rather, an objective, usually random occurrence that must be faced with logic and science and truth" [3], so klärt Susan Sontag den spiritistischen Nebel um die Krankheit. Dies zu akzeptieren ist schwer. Generell besteht das Bedürfnis, durch einen eigenen Beitrag die Genesung effektiv zu unterstützen. Statt dies aktiv durch Lebensführung, Bewegung und Ernährung zu realisieren, ist der passive Griff zu "komplementären und alternativen Methoden" bequemer, noch dazu wenn dies von einem irregeleiteten Parlament in Gesetzesform und als Kassenleistung sanktioniert wurde (Gesundheitsstruktur-Gesetz. Dtsch. Bundestag 1992 zu besonderen Heilmethoden).

Die Öffentlichkeit verbindet mit KAM die Befriedigung einer Sehnsucht nach einem "natürlichen" Leben, für Gesundheitspolitiker ist sie ein wählerwirksames Feigenblatt im ökologischen Trend, als Nebeneffekt noch Kosten sparend. Große Damen unserer Gesellschaft fördern Stiftungen, spenden Lehrstühle, finanzieren Projekte, um dem vermeintlichen Forschungsdefizit für KAM zu begegnen.

Und KAM hat, für die Wirtschaftspolitik relevant, einen erheblichen Anteil an unserer Volkswirtschaft. Die von der GKV erstatteten Kosten belaufen sich laut KBV auf etwa 20% der Gesamtausgaben für die ambulante Krankenversorgung von ca. 32 Mrd. €. Die teure Krebsmedizin liegt unter 6%. Etwa 200 000 Arbeitnehmer sind in der KAM-Pharmaindustrie beschäftigt, eine Ablehnung der Kostenübernahme durch unser solidarisch finanziertes Gesundheitssystem wäre politischer Selbstmord; Sturm der Opposition, drohende Arbeitslosigkeit von Tausenden und Volkes Protest wären die Folge.

Ein kleiner, aber dominierender Teil der Ärzteschaft wirft, unterstützt von der Laien- wie ärztlichen Presse, der naturwissenschaftlichen Medizin vor, wichtige Errungenschaften der KAM zu negieren und nicht einmal für einen Erfahrungsaustausch und das Überbrücken des konstruierten Grabens zwischen "Schulmedizin" und Komplementärmedizin bereit zu sein. "Pluralismus in der Medizin" ist das Wunschbild auch unseres Ärztekammerpräsidenten (4), "Diskurs auf gleicher Augenhöhe" soll "Verständnis und Zusammenarbeit" vertiefen, wobei er übersieht, dass dem sakrosankten Diktum der Homöopathie und Anthroposophie nicht durch "Verständnis" beizukommen ist. Nicht Akzeptanz der "geisteswissenschaftlich" bewiesenen "Erfahrungsmedizin", sondern rationale, eben naturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit deren Postulaten, ist zwingend erforderlich: wichtiger Verbraucherschutz für den Krebskranken und die Solidargemeinschaft.

So endete das Dialogforum der Bundesärztekammer wie es enden musste (5): "Gleiche Augenhöhe" bedeutet eben Akzeptanz eines "Korridors der Vernunft", Bewertung von Therapien gemäß naturwissenschaftlichen Grundsätzen "evidenz-basierter Medizin" (c) als Basis für die solidarische Finanzierung unseres Gesundheitswesens. Als Grundlage des gewünschten Pluralismus wurden nochmals bestätigt:

A - Die Vermittelbarkeit der jeweiligen medizinischen Richtung, B - das Verhältnis zu anderen medizinischen Systemen und C - der Wirksamkeitsnachweis.

So wird die Jahrhunderte alte Diskussion um den Wert komplementärer und alternativer Therapieverfahren fortgeführt:

J. F. Struensee aus Altona, tragischer Pionier einer vorweggenommenen Aufklärung, schreibt 1763 (6): "Der Pöbel verlangt etwas Außerordentliches und Wunderbares bei der Cur seiner Krankheiten. Weil er dies bei einem wahren Arzt nicht findet, so gibt er ihm wenig Beyfall. Der Rath eines alten Weibes, eines Marktschreiers gefällt ihm besser...". Und weiter: "Es scheint mit dem Charakter der Deutschen Nation verbunden zu sein, dass ihre Ärzte allzeit etwas Scharlatanerie mit ihrer Kunst verbinden... Zum Glück ist die deutsche Sprache den Ausländern wenig bekannt, sonst würden sie einen sonderbaren Begriff von uns bekommen..."

Angesichts des breiten Einsatzes von KAM in Deutschland und deren politisch in falsch verstandener Liberalität sanktionierter und motivierter Finanzierung durch die Krankenkassen ist es immer wieder notwendig, praktizierende Onkologen für dieses Thema zu sensibilisieren und ihnen kritische Literatur an die Hand zu geben. Internationalem Usus entsprechend, sind die Autoren dabei verpflichtet, mögliche Interessenskonflikte mitzuteilen und auf Produktneutralität zu achten. Das reicht aber nicht aus: Interessenskonflikte erstrecken sich auch auf weltanschauliche und spirituelle Aspekte. Geisteswissenschaftliche statt naturwissen- schaftliche Beweisführung mag ihren Wert für Glaubensgemeinschaften haben, stellt aber für die EBM einen Interessenskonflikt dar und ist nicht zu akzeptieren. Naturwissenschaftlern braucht man nicht zu erklären, worauf sich EBM gründet. Um so mehr befremdet es, wenn in onkologischen Fachzeitschriften, mit entsprechender Werbung geschmückt und finanziert, wesentliche Grundsätze und das "primum nihil nocere" missachtet werden (7,8,9).

Hinweise, dass bestimmte Medikamente von Krankenkassen zu bezahlen sind, belegt das Geschick juristischer Argumentation, nicht aber Wirksamkeit, geschweige denn einen Nutzen. Die Entscheidung der Deutschen Gesundheitsministerin, die Zulassungskriterien für KAM zu lockern, wird daher auch durch die EU bespöttelt und streng kritisiert (10). Offensichtlich haben wir uns seit Struensees Zeiten nicht verändert, und das wird wohl auch so bleiben, Charakterzug unserer Nation.

100 Jahre später schreibt Rudolf Virchow 1845 (11): "Weniger groß, doch umso bedeutungsvoller durch ihren Einfluß auf leicht bewegliche Volksmassen, ist die Kohorte der Propheten des Aberglaubens. Homöopathie und Hydropathie, Magnetismus und Exorzismus - Phantome des Mittelalters - erheben ungestört ihr Haupt, und das Licht der Wissenschaft ist noch nicht klar genug, um sie ungesäumt zerstreuen zu können".

Weitere 100 Jahre später wird die Auseinandersetzung fortgeführt (12), und aktuell feiert sie wieder mal fröhlichen Urständ (13).

"Evidenz-basierte Medizin (EBM)" solle durch "Erkenntnis-basierte Medizin (Cognition-based Medicine, CBM)" ergänzt und Patientenpräferenzen in den Vordergrund gestellt werden (5). Untersuchungen hierzu zeigen international ein einheitliches Bild: Tumorpatienten und deren Angehörige, die sich mit dem Schicksal der Erkrankung nicht abfinden und nichts unversucht lassen wollen, aber auch wegen unerwünschter Begleiteffekte der "Schulmedizin" hinsichtlich deren kurativer und palliativer Zielsetzung skeptisch sind, fordern "natürliche" Alternativen zur "Stärkung des Immunsystems" (14).

Dies ist in der Regel verbunden mit irrationalen Vorstellungen über die Vorenthaltung wirksamer Behandlungsoptionen und über sich vermeintlich kontrovers gegenüberstehende medizinische Lager gleichwertiger Effektivität (15).

Je nach Altersgruppe, Tumorentität und Nation suchen bis zu 60%, also ein substanzieller Anteil der Krebskranken Kontakt zu unkonventionellen Therapieverfahren umstrittener Wirksamkeit (16,17,18), wobei im kuriosem Gegensatz zur Bewertung der evidenzbasierten Maßnahmen die Risiken der KAM verharmlost werden (19,20). Nur ein kleiner Teil der Tumorkranken allerdings sieht die KAM als echte Alternative zur naturwissenschaftlichen Behandlung (16). Indizien für den zusätzlichen Bedarf an KAM sind vor allem die mit Krankheit und Behandlung verbundene Pein, von Sorgen über Angst bis zur (latenten) Depression reichend, weibliches Geschlecht, gestörte Partnerschaft sowie höhere Bildung und ein höherer Sozialstatus (16,17,18).

Präklinische Daten sind kein Surrogat für einen klinischen Nutzen. "Immunmodulation" durch Mistelpräparate, Enzym- und Selentherapie, Orthomolekulare Medizin, Eigenblutinjektionen, Organpeptidtherapie usw. wird als grundsätzlich günstige und erstrebenswerte Aktivität gegen Krebs beworben. Eine Immunmodulation kann aber ganz im Gegenteil ein relevantes Risikopotenzial in sich tragen, wovor verschiedentlich gewarnt wurde (21,22,23,24). So wurde u. a. belegt, dass die hierdurch freigesetzten Interleukine, speziell IL6 (21,23), sowie die aktivierten Makrophagen einen das Wachstum und die Metastasierung fördernden Effekt und eine Transformation in höher maligne Tumorzellen bewirken können (25). Nicht zuletzt auch wegen relevanter UAW ist beim Einsatz von Mistelpräparaten wie anderer unspezifischer Immunmodulatoren grundsätzlich bei Tumorkranken Zurückhaltung geboten (19,20,26). Bemühungen, die Wirksamkeit von KAM gemäß den Prinzipien der EBM zu belegen, blieben ohne nachvollziehbaren bzw. reproduzierbaren Effekt, abgesehen von subjektiv empfundener Besserung der Lebensqualität. Dies schließt zahllose Publikationen zu Mistelpräparaten mit ein. (26,27,28,29).

Gegründet auf die religionsphilosophischen Überlegungen von R. Steiner (1861-1925) wird der seit Jahrtausenden als Panazee genützte Saprophyt in der anthroposophischen Medizin gegen Krebs und chronische Erkrankungen eingesetzt: "Die Mistel übernimmt als äußere Substanz dasjenige, was wuchernde Äthersubstanz beim Karzinom ist, verstärkt dadurch, dass sie die physische Substanz zurückdrängt, die Wirkung des astralischen Leibes, und bringt dadurch den Tumor des Karzinoms zum abbröckeln, zum In-sich-zerfallen" (30).

Untersuchungen zum Wirksamkeitsnachweis von Mistelpräparaten sind nahezu ausschließlich retrospektive oder seltener prospektive Beobachtungsstudien sowie retrospektive Datensammlungen. Die Auswertungen erfolgten überwiegend von den Präparateherstellern und schlossen vielfach bereits zuvor publizierte Ergebnisse mit ein. Überprüfungen der Datenflut zeigten, dass adjuvante und palliative Indikationen, Tumorentitäten und deren Stadien unkontrolliert vermischt und die Misteltherapie teils alleine, teils simultan zu operativen, strahlen- und chemotherapeutischen Maßnahmen eingesetzt wurde (12,28,29). Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) wurden verharmlost (19,20).

Nur wenige prospektive Studien mit Evidenzgrad I B liegen vor, legen eine Besserung der Lebensqualität nahe, kommen aber hinsichtlich des krankheitsfreien Intervalls und Überlebens zu negativen Ergebnissen (27). In zwei internationalen, adjuvanten Phase-III-Studien der EORTC beim Melanom (31) und bei Kopf-Hals-Karzinomen (32) lässt sich kein günstiger Effekt erkennen, bei ersterer sogar ein Trend zu ungünstigeren Verläufen. Es fanden sich auch keine Unterschiede hinsichtlich der Lebensqualität oder zellulärer Immunreaktionen; Parameter, die in der Mistelwerbung besonders betont werden.

Neben Patienten mit Melanomen, Kopf-Hals-Karzinomen bestehen insbesondere auch bei malignen Hämoblastosen Kontraindikationen für den Einsatz von Mistelpräparaten. Bei letzteren wegen möglicher proneoplastischer immunologischer Effekte (22,23). Hinzuzufügen sind wegen der ontogenetischen Verwandtschaft von Naevozyten zu Zellen des Neuralrohrs auch Patienten mit primären Hirntumoren.

In der palliativen Situation Misteln zur Besserung der Lebenserwartung (TTP bzw. Überlebensdauer) einzusetzen, wird inzwischen auch von deren Protagonisten verneint. Hersteller verweigern daher eine entsprechende Teilnahme an wissenschaftlich kontrollierten, prospektiv-randomisierten Phase-II-Studien.

Die günstigen Auswirkungen, wie sie immer wiederholt werden, lassen sich durch unspezifische Effekte erklären: Psychische Effekte durch Annahme einer pharmakologischen Wirkung, gute psychosoziale und pflegerische Betreuung, die mögliche Freisetzung von Endorphinen, das Absetzen einer nebenwirkungsreichen Therapie etc. können eine bessere Lebensqualität bedingen (Abb. [1]). Eine Bekanntmachung im Bundesanzeiger (33), dass ausreichende Evidenz für eine Verbesserung der Lebensqualität vorläge, bedeutet nicht, dass eine Misteltherapie adjuvant, palliativ, simultan und/oder posttherapeutisch ohne Risiko für den Verlauf von Krebserkrankungen eingesetzt werden kann.

Abb. 1 Misteltherapie: Wirkung belegt durch Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft?

Mitglieder des BfArM fassten 2001 in einer Stellungnahme zusammen: "Angesichts der Datenlage erscheint die Nutzen-Schaden-Abwägung für Mistelpräparate vom Typ Iscador negativ" (34). Daran hat sich trotz Stiftungslehrstühlen für KAM bis heute nichts geändert.

Angesichts der Datenlage erscheint die Nutzen-Schadens-Abwägung für Mistelpräparate negativ. Die breite unkontrollierte Anwendung steht dem Grundsatz des "primum nihil nocere" entgegen.

Diese Jahrhunderte alte Auseinandersetzung wird so weiter gehen, weil die Biologie allein das Menschsein nicht ausreichend erklären kann, weil neben Soma die Psyche einen entscheidenden Einfluss hat und wir dazu neigen, unser subjektives Erleben für bare Münze, für objektiv zu halten. Betroffenheit verleitet leicht zu spirituellen Fehlschlüssen, so u. a. bezüglich Krankheitsursache und Widerstandsvermögen. Unsere Aufgabe als behandelnde Onkologen ist es, Patienten vor Schaden zu bewahren, körperlich, seelisch und auch finanziell. Beherzigen wir den Rat von S. Sontag [3] und begegnen Krankheit mit Logik, Wissenschaftlichkeit und Wahrhaftigkeit.

Literatur

  • 01 Weis J . Bartsch HH . Hennies F . et al . Complementary medicine in cancer patients: Demand, Patients' attitudes, and psychological beliefs.  Onkologie. 1998;  21 144-149
  • 02 Holland JC . Use of alternative medicine - a marker for distress?.  N Engl J Med. 1999;  340 1758-1759
  • 03 Sontag, Susan. Illnes as Metaphor and AIDS and its metaphors. New York: Picador, 1990. 

Weitere Literatur beim Autor

Prof. Dr. Ulrich R. Kleeberg

Hämatologisch-Onkologische Praxis Altona (HOPA)

Struensee-Haus

Mörkenstr. 47

22767 Hamburg