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DOI: 10.1055/s-2007-958720
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Haben wir das Richtige gelernt?[*]
Did We Miss the Point?Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
07. Februar 2007 (online)
… Haben wir neben medizinischen Fakten auch das freie Denken gelernt?
Haben wir gelernt, uns für andere Menschen auch dann einzusetzen, wenn es nicht um medizinische Dinge geht, wir also einmal keine Rechnung schreiben können?
Haben wir gelernt, unsere ärztliche Tätigkeit, von der es heißt, sie sei verantwortungsvoll wie wenige andere, richtig einzuordnen in der Gesellschaft? Mit anderen Worten: wie stand und steht es um unser Engagement außerhalb des eigenen Studiums und des Berufes?
Ich denke, hier hätte mehr geschehen können und müssen. Der Blick über den eigenen Tellerrand fiel den meisten schwer. Ich weiß, ein Medizinstudium ist nicht gerade ideal für großartige zusätzliche Aktivitäten, nach der neuen Studienordnung sogar noch viel weniger als zu unserer Zeit. Doch taugt dies nur bedingt als Ausrede. Viele Freiräume, die es an der Universität durchaus gab, wurden von uns nicht genutzt. Leider liegen wir damit voll im Trend: Politik oder gar Uni-Politik ist bei Studierenden ziemlich out. Der AStA dieser Universität verzichtet freiwillig auf das von früheren Generationen hart erkämpfte „allgemeinpolitische Mandat”, das heißt, zu wichtigen politischen Themen nimmt er nicht mehr Stellung, man ergeht sich stattdessen im klein-klein und wundert sich dann, wenn plötzlich Studiengebühren vor der Tür stehen oder ganze Institute geschlossen werden sollen, weil Geld im Bildungssystem fehlt - oder: wir jungen Assistenzärzte merken „plötzlich”, dass im Jahr 2005 in Deutschland erstmals mehr Geld für Pharmaprodukte ausgegeben worden ist, als für die Bezahlung der Ärzte.
Ich erinnere mich, im Fakultätsrat von Professoren mehrfach gefragt worden zu sein, warum wir Studenten denn so brav seien und nicht schärfer protestieren würden gegen Kürzungen im Bildungsbereich. Dass man sich dies von - mit Verlaub - älteren Herren sagen lassen musste, das war schon etwas beschämend.
Gerade wir Mediziner werden um die Auseinandersetzung mit politischen Themen nicht herumkommen. Nichts beweist dies deutlicher als die vergangenen und noch laufenden Ärztestreiks. Es ist leicht, sich immer nur dann auf die Straße zu begeben, wenn es um die Verteilung des knappen Geldes geht. Wir müssen uns schon über politische Hintergründe informieren, uns einmischen, Dinge verändern, sonst machen wir uns angreifbar und werden mit unseren Forderungen nicht weit kommen - und seien diese noch so berechtigt.
„Die Medicin”, so Rudolf Virchow im Jahr 1848, „ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medicin im Grossen.”
Virchow war 27 Jahre alt, ungefähr so alt wie wir, als er zu dieser Erkenntnis kam. Virchow war nicht nur ein bedeutender Arzt und Forscher, Vater der modernen Zellenlehre und der pathologischen Anatomie. Er war auch ein engagierter Politiker, der gesellschaftliche Missstände erkannte und als Abgeordneter im Reichstag und preußischen Landtag entscheidend dazu beitrug, sie abzuschaffen.
Versuchen wir also, uns Virchows Engagement ebenso gut zu merken, wie die berühmte Virchow'sche Trias - die natürlich noch jeder im Kopf hat …
Wir werden gleich das so genannte Genfer Gelöbnis nachsprechen. Ich bin nicht sicher, ob allen klar ist, was das genau ist. Das Gelöbnis wurde 1948 in Genf vom Weltärztebund (auch als World Medical Association bekannt) beschlossen. Es ist eine direkte Reaktion auf die Verbrechen der Nazi-Medizin und den folgenden Nürnberger Ärzteprozess. Alle deutschen Ärzte sind, indem sie die ärztliche Berufsordnung anerkennen, automatisch auf dieses Gelöbnis verpflichtet, ob mit oder ohne Zeremonie. Nur unter dieser Bedingung wurden die westdeutschen Ärztekammern nach dem Krieg überhaupt in den Weltärztebund aufgenommen.
Die bloße Notwendigkeit eines solchen Gelöbnisses sollte uns alle nachdenklich machen. Insbesondere darf eine feierliche Zeremonie kein Freibrief sein, sich von nun an nicht mehr mit medizinethischen Fragen zu beschäftigen. Darf die Medizin alles, was sie kann? Wir alle werden irgendwann einmal in moralische Konfliktsituationen geraten. Dann kommt es auf die praktische Umsetzung eines solchen Gelöbnisses an - und wer Zeitung liest, weiß, wozu Ärzte zum Beispiel in Kriegen oder in Handlangerdiensten für staatliche Gewalt auch heute noch fähig sind.[1]
Dass sich manchmal auch ganze Institutionen schwer tun, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und ihren Gedenkworten auch Taten folgen zu lassen, konnten engagierte Studierende auch an dieser Fakultät erleben.[2]
Die Virchow-Trias liefert mir das Schlusswort: Freuen wir uns, dass das theoretische Lernen ein Ende hat, feiern wir, dass es endlich hinter uns liegt, bleiben wir aber trotzdem wachsam und kritisch.
Interessenskonflikt: keine angegeben.
1 Anmerkung Der folgende Text ist auszugsweise einer vom Autor am 21. Juli 2006 gehaltenen Rede zur Absolventenfeier der Medizinischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen entnommen (Anm. der Herausgeber)
1 Anmerkung Der folgende Text ist auszugsweise einer vom Autor am 21. Juli 2006 gehaltenen Rede zur Absolventenfeier der Medizinischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen entnommen (Anm. der Herausgeber)
2 Vgl. Artikel im Lancet vom August 2004 über Mitwirkung amerikanischer Ärzte an Folterungen irakischer Gefangener. Vgl. Diskussion um die Mitwirkung von Ärzten bei Hinrichtungen in den USA, Neue Zürcher Zeitung vom 18./19.2.2006, Süddeutsche Zeitung vom 22.2.2006. Vgl. den Ertrinkungstod eines des Drogenschmuggels verdächtigten Mannes aus Sierra Leone in Bremen, nachdem ein Arzt eine zwangsweise Magenspülung an ihm vorgenommen hatte, der hinzugerufene Notarzt erstattete Anzeige gegen seinen Kollegen, taz vom 7.1.2005, Frankfurter Rundschau vom 12.1.2005. Generell dazu: „Medicine can be distorted by the state”, JAMA 1996; 276: 1631ff.
3 Vgl. dazu Abbott A. University faces up to wartime use of slaves. Nature 2003; 422: 792 sowie Frewer A, Siedbürger G (Hrsg). Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von „Ausländern” im Gesundheitswesen. Frankfurt a.M./New York 2004.
Korrespondenzadresse
F. Bruns
Institut für Geschichte
Ethik und Philosophie der Medizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl- Neuberg- Str. 1
30625 Hannover
eMail: flo.bruns@gmx.de