Z Sex Forsch 2007; 20(2): 176-185
DOI: 10.1055/s-2007-960693
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Physische Integrität und Selbstbestimmung: Kritik medizinischer Leitlinien zur Intersexualität[1]

A. de Silva1
  • 1Zentrum für Feministische Studien, Universität Bremen
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Publication Date:
05 June 2007 (online)

Übersicht:

Der Autor vergleicht drei Leitlinien zur Behandlung intersexueller Kinder und Jugendlicher unter dem Gesichtpunkt, wie weit sie die körperliche Integrität der Betroffenen schützen und deren Selbstbestimmungsrecht wahren. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (2002), so der Autor, vernachlässigen diese Aspekte in eklatanter Weise. Die Empfehlungen der Chicago Konsensus Konferenz (2005) verbessern zwar die Standards der Aufklärung und Begleitung Intersexueller und ihrer Eltern, sehen aber weiterhin kosmetische genitalverändernde Eingriffe auch in einem Alter vor, in dem das Kind noch nicht einwilligungsfähig ist. Lediglich die Standards von Diamond und Sigmundson (1997) respektieren dem Autor zufolge körperliche Integrität und Selbstbestimmung intersexueller Personen in hinreichender Weise. Sie leisten zudem einen Beitrag zur Entpathologisierung der Intersexualität und fordern für erwachsene Intersexuelle die Option eines „dritten Geschlechts”.

1 Die Selbstbezeichnungen von Personen, die als intersexuell betrachtet werden, variieren. Dies gilt ebenso für medizinische Bezeichnungen. In meinen Ausführungen verwende ich den Begriff „Intersexualität” und bezeichne damit ein Bündel vielfältiger geschlechtlicher Variationen. Diese sind den Geschlechtsvarianten „weiblich” und „männlich” gleichwertig.

Literatur

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  • 3 Chase C. Hermaphrodites with attitude. Mapping the emergence of intersex political activism. In: Corber RJ, Valocchi S (Hrsg). Queer studies: An interdisciplinary reader. Malden (Mass), Oxford: Blackwell, 2003; 31-45
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  • 14 Klöppel U. Prinzipismus Zweigeschlechtlichkeit. Zum Menschen- und Gesellschaftsbild in der medizinisch-psychologischen Umgangsweise mit Intersexualität.  QUER - denken, lesen, schreiben. 2006;  12 12-22
  • 15 Plett K. Intersexualität aus rechtlicher Perspektive. In: polymorph (Hrsg.): (K)ein Geschlecht oder viele? Transgender in politischer Perspektive. Berlin: Querverlag, 2002; 31-42
  • 16 Plett K. Intersexuelle - gefangen zwischen Recht und Medizin. In: Koher F, Pühl K (Hrsg.): Gewalt und Geschlecht. Konstruktionen und Praxen. Opladen: Leske und Budrich, 2003; 21-41
  • 17 Richter-Appelt H. Intersexualität. Störungen der Geschlechtsentwicklung.  Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz. 2007;  50 1-10
  • 18 Sinnecker G HG. Ethische Fragen der Intersexualität. 2006. www.kindergynaekologie.de/html/dggg_abs1.html (25.5.2006)
  • 19 Ude-Koeller S, Müller L, Wiesemann C. Junge oder Mädchen? Elternwunsch, Geschlechtswahl und geschlechtskorrigierende Operationen bei Kindern mit Störungen der Geschlechtsentwicklung.  Ethik in der Medizin. 2007;  18 63-70

1 Die Selbstbezeichnungen von Personen, die als intersexuell betrachtet werden, variieren. Dies gilt ebenso für medizinische Bezeichnungen. In meinen Ausführungen verwende ich den Begriff „Intersexualität” und bezeichne damit ein Bündel vielfältiger geschlechtlicher Variationen. Diese sind den Geschlechtsvarianten „weiblich” und „männlich” gleichwertig.

2 Im US-amerikanischen Kontext ist insbesondere die Intersex Society of North America (www.isna.org) und ihre Gründerin Cheryl Chase zu nennen, in der Bundesrepublik Deutschland allen voran Michel Reiter sowie die Organisationen Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (www.dgti.org) und die xy-Frauen (www.xy-frauen.de).

3 Zur Kritik am bisher üblichen Umgang mit intersexuellen Individuen in Behandlungssituationen und zu den Defiziten bezüglich der Einwilligung in therapeutische Maßnahmen vgl. u. a. Beh und Diamond (2000), Fausto-Sterling (2000), Chase (2003), Hester (2004) und Richter-Appelt (2007); zu rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Intersexualität vgl. u. a. Plett (2003 und in diesem Heft); zu Aspekten geschlechtlicher und sexueller Normierung vgl. u. a. Kessler (1997), Fausto-Sterling (2000), Klöppel (2002; 2006) und Hester (2003; 2004).

4 Ein ungewöhnlich großer Penis wird hingegen keiner Schaftreduktion unterzogen. Dies ist ein Indiz dafür, dass es sich bei Klitorisreduktion oder Penisaufbau um Eingriffe zum Zwecke der physischen Polarisierung der dominanten Geschlechter handelt.

5 Wie die Hamburger Studie zur Intersexualität zeigt, werden die chirurgisch konstruierten Geschlechtsorgane oft nicht in dem Sinne verwendet, mit dem sie überhaupt angelegt wurden. So gibt es Personen, „die in der Kindheit eine Vaginalplastik erhalten haben und nun im Erwachsenenalter jede Form penetrativer Sexualität vermeiden” (Richter-Appelt 2007: 7). Richter-Appelt erklärt dieses Verhalten mit den traumatischen Erfahrungen, die die Personen im Verlauf ihrer medizinischen Behandlung erlebt haben.

6 Eine kontrasexuelle Rekonstruktion ist ein operativer Eingriff, bei dem z. B. bei einem chromosomal und gonadal männlichen Kind mit Mikropenis aus dem (nach den Leitlinien als „unzulänglich” betrachteten) männlichen Genitale ein weibliches konstruiert wird.

7 Wie unterschiedlich die Entscheidungen mündiger Individuen in Bezug auf medizinische und chirurgische Interventionen sein können, wird an den verschiedenen Wegen deutlich, die Transpersonen einschlagen: Manche entscheiden sich für maximale und risikoreiche chirurgische Interventionen, andere für weniger aufwendige Maßnahmen und wieder andere gegen somatische Maßnahmen (vgl. de Silva 2005; Cromwell 1999). Entsprechend kann man erwarten, dass sich Personen mit einer intersexuellen Morphologie für individuell passende Maßnahmen entscheiden würden, wenn sie eine Chance hätten, über ihre Körperlichkeit zu befinden. Letzteres impliziert, auf nicht notwendige medizinische und chirurgische Interventionen in der Kindheit zu verzichten.

8 An anderer Stelle wird jedoch im Zusammenhang mit DSD auch eine offensichtlich wertende Sprache verwendet, wie z. B. „abnormal sex” (Hughes et al. 2006: 545).

9 „The outcome in undermasculinised males with a phallus is dependent on the degree of hypospadias and the amount of erectile tissue. Feminising as opposed to masculinising requires less surgery to achieve an acceptable outcome and results in fewer urological difficulties” (Hughes et al. 2006: 558).

10 Auch wenn die Autoren und Autorinnen des Dokuments empfehlen, erst bei klitoralen Phänotypen der Pradergrade III bis V chirurgische Interventionen in Erwägung zu ziehen, dabei zur Erhaltung der erektilen Funktion und Sensibilität mahnen und den Vorrang der sexuellen Funktionsfähigkeit vor kosmetischen Erwägungen betonen (Hughes et al. 2006: 557), bleibt die „Korrektur” einer funktionsfähigen Klitoris, die auch mit einer Urethra versehen sein kann, letztlich eine kosmetische und kulturell bedingte Intervention.

11 Dies wird am Beispiel der Klitorisschaftreduktionsplastik und der Vaginalplastik deutlich: „Outcomes from clitoroplasty identify problems related to decreased sexual sensitivity, loss of clitoral tissue, and cosmetic issues. Techniques for vaginoplasty carry the potential for scarring at the introitus, necessitating repeated modifications before sexual function can be reliable. Surgery to construct a neo-vagina carries a risk of neoplasia” (Hughes 2006: 558).

12 Die Verweise beziehen sich auf die Internetversion und auf die Nummer der Empfehlungen.

13 Als grobe Richtlinien für die Zuweisung vgl. Diamond und Sigmundson (1997: Nr. 5).

14 Um Redundanzen zu vermeiden, führe ich dies hier nicht weiter aus und verweise auf Diamond und Sigmundson 1997: Nr. 1, 2, 7, 16 und 17.

A. de Silva

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