Z Sex Forsch 2007; 20(2): 93-98
DOI: 10.1055/s-2007-960697
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Intersexualität im Wandel

H. Richter-Appelt1
  • 1Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Hamburg
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Publication Date:
05 June 2007 (online)

Im Dezember 2006 fand am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf ein von der Hamburger Forschergruppe Intersexualität organisiertes „Interdisziplinäres Forum zur Intersexualität: Körper - Geschlecht - Identität” statt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Ärzte, Psychologen und Betroffene präsentierten den aktuellen Stand der Diskussion zu Behandlungsmaßnahmen, psychologischen Aspekten, Traumatisierungen und rechtlichen Fragen in Deutschland. Abschließend wurde der Film „Tintenfischalarm” von Elisabeth Scharang gezeigt, der die Erfahrungen des Intersexuellen Alex Jürgen eindrücklich darstellt (www.Tintenfischalarm.at). Die Vorträge des Forums sollen mit dieser Veröffentlichung einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden.

Vor zehn Jahren erschien in dieser Zeitschrift die Arbeit von Lutz Garrels „Das Geschlechtserleben Intersexueller im Diskurs” (Garrels 1998). Er beschreibt die Diskussion seit den 1950er-Jahren und benennt drei Phasen. Die erste Phase wird von den Theorien John Moneys bestimmt, der in den 1950ern Empfehlungen für den Umgang mit Kindern mit nichteindeutigem Genitale gegeben hatte. Money et al. (1955) formulierten die Annahme, durch konsequente Erziehung und möglichst frühzeitige Anpassung des Körpers, u. a. durch chirurgische Interventionen, an das Erziehungsgeschlecht, sei eine optimale Behandlung gegeben und so könne eine stabile Geschlechtsidentität als Mann oder Frau erreicht werden. In der zweiten Phase konzentrierte man sich auf die Wirkung pränataler Hormone auf das Geschlechtsrollenverhalten und konnte feststellen, dass bei Personen mit bestimmten Diagnosen trotz eindeutiger Erziehung zu einem Geschlecht sehr oft für dieses Geschlecht untypischen Verhaltensweisen beobachtet wurden. Dies führte aber nicht zu einer Änderung der Behandlungsrichtlinien. Die dritte Phase schließlich wurde durch Intersexuelle, die mit der Behandlung unzufrieden waren, in den USA der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts angestoßen. Es waren vor allem Betroffene mit einem 46,XY-Karyotyp mit einer eindeutigen Zuweisung, meistens zum weiblichen Geschlecht. Die Kritik richtete sich in erster Linie gegen die frühen geschlechtsangleichenden bzw. -zuweisenden Operationen, gegen die Empfehlung, Diagnose und Behandlungskonzept vor den Betroffenen geheim zu halten sowie gegen die fehlende Möglichkeit der Betroffenen, Behandlungsschritte im Sinne des „informed consent” selbst zu bestimmen. In der Arbeit von Garrels werden bis auf die Studien bei Personen mit einem Adrenogenitalen Syndrom (mit einem 46,XX-Chromosomensatz), die von Dittmann et al. (1992) in Hamburg sowie von Kuhnle et al. (1995) in München durchgeführt wurden, keine weiteren Untersuchungen aus dem deutschen Sprachraum erwähnt.

Auch in Deutschland gingen Anfang des 21. Jahrhunderts Intersexuelle an die Öffentlichkeit und die Medien wurden auf das Thema aufmerksam. Immer wieder wurde eine Revision der Behandlungsrichtlinien gefordert. Es herrschte aber große Unsicherheit, wie diese Revision aussehen sollte. Die Kritik galt vor allem den Chirurgen, die in Anlehnung an Money meinten, mit den geschlechtskorrigierenden Operationen ein Leben in einem eindeutigen Geschlecht und mit einer zufrieden stellenden Sexualität ermöglichen zu können. Intersexuelle begannen sich in zunehmendem Maße dagegen zu wehren, als krank bezeichnet zu werden, und lehnten eine Zwangsbehandlung intersexueller Kinder, die noch nicht einwilligungsfähig sind, ab. Es handle sich dabei nicht um die Anpassung des Körpers an eine bereits ausgebildete Geschlechtsidentität (wie bei der Transsexualität), sondern vielmehr um die Anpassung eines nichteindeutigen Körpers an eine Norm, in der es nur Männer und Frauen gebe. Die Einordnung in eine binäre Geschlechterordnung werde für Intersexuelle von Geburt an erzwungen. Betroffene forderten und fordern die Anerkennung ihrer Andersartigkeit anstatt der Beseitigung von Auffälligkeiten. Auch die Traumatisierung durch die Behandlung spielt in der Kritik eine wesentliche Rolle.

Andererseits gab es aber Nachuntersuchungen aus den USA, die zeigten, dass es durchaus behandelte Personen gibt, die mit dem Ergebnis der Behandlung zufrieden zu sein scheinen. Es wurde deutlich, dass viel zu wenig über das Leben von Intersexuellen und deren Behandlungserfahrungen bekannt ist, um für die vielen neu aufgeworfenen Fragen Antworten bereit zu haben.

Inzwischen kann man von einer vierten Phase der Diskussion sprechen, in der die Behandlungsmaßnahmen hinterfragt und grundlegend revidiert werden (Thyen et al. 2005). Die Geschlechtszuweisung geht danach nicht mehr automatisch mit genitalkorrigierenden bzw. geschlechstzuweisenden Operationen einher. Die Operationen sollen bei nicht einwilligungsfähigen Kindern nur dann durchgeführt werden, wenn eine medizinische Notwendigkeit dafür besteht, oder zu einem späteren Zeitpunkt mit Zustimmung der Betroffenen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland haben sich an dieser Revision entscheidend beteiligt.

Im Jahr 2000 gründeten wir in Deutschland eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit dem Ziel, Grundlagenforschung und psychosoziale Fragestellungen in einem gemeinsamen Forschungsverbund zu untersuchen. Unter der Leitung des pädiatrischen Endokrinologen Olaf Hiort gelang es, für die in der Klinischen Forschergruppe 111 „Intersexualität - vom Gen zur Geschlechtsidentität” zusammengefassten Projekte eine Förderung von der DFG zu erhalten (www.forschergruppe-is.uk-sh.de)[1]. Es begann eine fruchtbare Zeit der Zusammenarbeit, in der die unterschiedlichen Fachrichtungen sehr von einander profitierten. Neben molekularbiologischen Projekten (Leitung: Olaf Hiort und Paul Martin Holterhus) und einem Projekt zum Geschlechtsrollenverhalten von Kindern mit Intersexualität (Leitung: Ute Thyen), werden geschlechter- und sexualpsychologische Untersuchungen der Hamburger Forschergruppe Intersexualität (Leitung: Hertha Richter-Appelt) an Erwachsenen mit verschiedenen Formen von Intersexualität durchgeführt (www.intersex-forschung.de). Im Zentrum unseres Projektes standen dabei von Anfang an neben Personen mit Adrenogenitalem Syndrom (mit einem XX-Chromosomensatz) Personen mit einem XY-Chromosomensatz, die in der weiblichen Rolle leben, also die so genannten XY-Frauen. Untersucht werden die körperliche Entwicklung und die Behandlungserfahrungen dieser Gruppe, ihr soziales Leben sowie Intersexualitäts-bedingte bzw. -spezifische Schwierigkeiten und Erlebnisse, zum Beispiel im Hinblick auf Geschlechtsidentität und Sexualität. Besondere Beachtung wird den Traumatisierungen in der Vergangenheit durch die Behandlung, aber auch durch Familie und Umwelt geschenkt. Das Interesse der Selbsthilfegruppe der „XY-Frauen” an unseren Studien war von Anfang an groß, aber auch von besonderer Skepsis begleitet. Mit wachem Auge beobachteten sie unsere Forschung und gaben uns so manchen kritischen Hinweis auf weitere wichtige Fragestellungen.

Es kommt vor, dass nach der Teilnahme an einer Studie, bei der Fragen zur Vergangenheit gestellt werden, Erinnerungen hochkommen, die bisher verdrängt waren. Dies ist ein Phänomen, das wir aus der Behandlung von traumatisierten Menschen kennen und dem mit besonderer Sorgfalt begegnet werden muss. Nicht selten handelt es sich dabei um besonders schmerzhafte Erfahrungen mit medizinischen Behandlungen, mit Familienangehörigen und dem sozialen Umfeld. Es war daher wichtig, für die Studienteilnehmerinnen über die Befragung hinaus eine psychologische und in manchen Fällen auch psychotherapeutische Betreuung anzubieten, die auch mehrfach in Anspruch genommen wurde. Im Großen und Ganzen waren die Betroffenen dankbar, endlich über ihre Erfahrungen mit jemandem sprechen zu können, und erkannten die Wichtigkeit, an derartigen Studien teilzunehmen.

Im Rahmen der Forschungsaktivitäten der interdisziplinären Arbeitsgruppe konnten wir auf zwei Symposien, die 2004 und 2006 in Lübeck stattfanden, international mit Kolleginnen und Kollegen Ergebnisse und Erfahrungen austauschen und neue Fragestellungen diskutieren. Auf beiden Treffen beteiligten sich auch Betroffene aktiv am Programm. Drei Wissenschaftler/innen des Forschungsverbundes und eine Vertreterin der Selbsthilfegruppen (Hiort, Richter-Appelt, Thyen und Thomas) wurden eingeladen, an der Konsensus Konferenz in Chicago 2005 teilzunehmen. Dieser besonders intensive internationale wissenschaftliche Austausch zwischen Pädiatern, Endokrinologen, Chirurgen, Molekularbiologen, Genetikern, Sozialpädiatern und Psychologen, die zu bestimmten Themenkomplexen Diskussionsgrundlagen vorbereiteten und vorstellten, findet in diesem Heft wiederholt Erwähnung. Auch wenn so manche Kritik an der aus diesem Treffen hervorgegangenen Veröffentlichung (Hughes et al. 2006) geäußert wird, handelt es sich hier um einen großen Fortschritt hinsichtlich der Betrachtung und Behandlung von Intersexualität. Es wurde aber auch deutlich, wie viele Fragen noch unbeantwortet sind. Einige dieser Fragen werden in diesem Heft diskutiert. Von sexualwissenschaftlicher Seite ging es vor allem auch darum, die Sexualität von Intersexuellen nicht mehr auf die sexuelle Funktionsfähigkeit - und damit ist in der Regel heterosexueller Koitus mit Penetration gemeint - zu reduzieren. Unabhängig davon, welchem Geschlecht jemand angehört, umfasst Lebensqualität im Bereich der Sexualität sehr viel mehr als nur die sexuelle Funktion, nämlich die Fähigkeit sich zu verlieben, eine sexuelle Beziehung zu initiieren und aufrechtzuerhalten, Attraktivität subjektiv zu erleben, sexuelle Erregbarkeit und Befriedigung zu erfahren und geben zu können. Von Betroffenen wird vor allem auch die Möglichkeit, eine Ehe schließen und Kinder bekommen oder adoptieren zu können gewünscht (vgl. Richter-Appelt 2007 a).

Betroffenen sollte die Möglichkeit geboten werden, auch schon im Jugendalter allein und ohne Anwesenheit der Eltern Fragen zu Sexualität und eventuell auftretenden Problemen stellen zu können. Dabei soll nicht nur die sexuelle Funktion thematisiert werden, sondern auch Aspekte sexueller Beziehungen, die homo-, hetero- oder bisexuell sein können. Gerade aufgrund der Erfahrungen mit medizinischen Behandlungsmaßnahmen berichten Betroffene oft von einer Abneigung der Sexualität gegenüber und ein relativ hoher Prozentsatz an Betroffenen vermeidet jegliche Form von Partnersexualität. Gerade nach Genitaloperationen werden beeinträchtigte Erregbarkeit und Schmerzen berichtet, die das Aufnehmen sexueller Kontakte erschweren. In extremen Fällen werden auch Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) berichtet, und zwar im Zusammenhang mit Erlebnissen während medizinischer Behandlungen, sexuellen Übergriffen oder Erfahrungen mit intimen Partnerschaften. Diese Aspekte kommen im vorliegenden Heft außer in der ausführlichen Falldarstellung eines „XX-Mannes” von Schweizer et al. zu kurz. Sie werden an anderer Stelle noch ausführlich diskutiert werden.

Lange wurde auf der Chicago Konsensus Konferenz die Definition von Intersexualität diskutiert und infrage gestellt. Entsprechen die geschlechtsdeterminierenden und -differenzierenden Merkmale des Körpers (Chromosomen, Gene, Hormone, Keimdrüsen, äußere Geschlechtsorgane) nicht alle dem gleichen Geschlecht, spricht man von Intersexualität. Der Bergriff „Intersexualität” hatte in der wissenschaftlichen Literatur weitgehend den Begriff des „(Pseudo-)Hermaphroditismus” abgelöst. Auf der Konsensus Konferenz legte man sich jedoch nach langer Diskussion darauf fest, in Zukunft nicht mehr von „Intersexualität” sondern von „Störungen der Geschlechtsentwicklung” (Disorders of Sex Development, DSD) zu sprechen. Vor allem von Teilnehmerinnen der Selbsthilfegruppen wurde die Frage gestellt, ob es sich bei Intersexualität überhaupt um eine Störung der Geschlechtsentwicklung handle oder aber um eine Variante der Natur. Während etliche Teilnehmer, vor allem aus Nordamerika, den Begriff „Intersexualität” als diskriminierend empfanden und „Störung” bevorzugten, um nicht von „Krankheit” sprechen zu müssen, findet man unter Betroffenen aus Europa durchaus die Auffassung, der Begriff „Intersexualität” sei weniger diskriminierend als „Störung der Geschlechtsentwicklung”. Auf „Varianten der Geschlechtsentwicklung” wollte man sich auf der Konferenz nicht einigen, da unter Personen mit DSD durchaus welche zu finden sind, bei denen man aufgrund der Behandlungsnotwendigkeit zwar nicht unbedingt von Krankheit, wohl aber von einer Störung sprechen müsse. Diese Auseinandersetzung macht deutlich, dass die grundlegende Diskussion über Begrifflichkeit und Sprachgebrauch noch nicht beendet ist. Während es in Europa durchaus üblich ist von „Intersexuellen” zu sprechen, vermeiden die nordamerikanischen Fachleute diese Formulierung und fordern, von „Personen mit Intersexualität” zu sprechen. Diese Differenzierung betrifft eine Frage der Identität. Einige Intersexuelle in Deutschland kämpfen durchaus darum als Intersexuelle oder auch mit einer intersexuellen Identität in der Gesellschaft akzeptiert zu werden.

Im Hamburger Projekt zu Behandlungserfahrungen von Personen mit verschiedenen Formen der Intersexualität haben wir uns entschieden, weiterhin von „Intersexualität” zu sprechen, da wir unter diesem Begriff das Projekt gestartet haben und unserer Erfahrung nach Betroffene in Deutschland in der Mehrheit immer noch diesen Begriff bevorzugen. Legt man sich nicht strikt auf eine Zweigeschlechtlichkeit fest, beschreibt er auch recht gut die beobachteten Varianten. Wichtig ist zu betonen, dass es sich dabei nicht um eine Diagnose sondern einen Oberbegriff für verschiedene Formen von Auffälligkeiten der Geschlechtsentwicklung handelt (Richter-Appelt 2007 b).

Literatur

  • 1 Dittmann R W, Kappes M E, Kappes M H. Sexual behavior in adolescent and adult females with congenital adrenal hyperplasia.  Psychoneuroendocrinology. 1992;  17 153-170
  • 2 Garrels L. Das Geschlechtserleben Intersexueller im Diskurs.  Z Sexualforsch. 1998;  11 197-211
  • 3 Hughes I A. et al . Consensus statement on managemanet of intersex disorders.  Arch Dis Child. 2006;  91 554-563
  • 4 Kuhnle U, Bullinger M, Schwarz H P. The quality of life in adult female patients with congenital adrenal hyperplasia: A comprehensive study of the impact of genital malformations and chronic disease on female patients life.  Europ J Pediat. 1995;  154 708-716
  • 5 Money J, Hampson J G, Hampson J L. Hermaphroditism: Recommodations concerning assignment of sex change, and psychologic managemant.  Bull Johns Hopkins Hosp. 1955;  97 284-300
  • 6 Richter-Appelt H. Probleme der intersexuellen Entwicklung. In Sigusch V (Hrsg). Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Stuttgart: Thieme, 2007 a (4. Aufl); 236-250
  • 7 Richter-Appelt H. Intersexualität. Störungen der Geschlechtsentwicklung.  Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitssch. 2007 b;  50 52-61
  • 8 Thyen U, Richter-Appelt H, Wiesemann C, Holterhus P-M, Hiort O. Deciding on gender in children with intersex conditions: Considerations and controversies.  Treatment in Endocrinology. 2005;  4 1-8

1 In einem weiteren, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projektverbund, dem Netzwerk „Intersexualität” (www.netzwerk-is.uk-sh.de), werden seit 2004 neben grundlagenwissenschaftlichen biologischen Fragestellungen im Rahmen einer klinischen Evaluationsstudie (Leitung: Ute Thyen) in erster Linie Kinder, aber auch erwachsene intersexuelle Personen untersucht.

Prof. Dr. H. Richter-Appelt

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf · Zentrum für Psychosoziale Medizin · Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie

Martinistr. 52

20246 Hamburg

Email: hrichter@uke.uni-hamburg.de