ergoscience 2007; 2(2): 64-65
DOI: 10.1055/s-2007-963058
Diskurs

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diskurs zu: Borgetto B, et al.

Die Forschungspyramide - ein Diskussionsbeitrag zur Evidenz-basierten Praxis in der ErgotherapieS. Voigt-Radloff
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Publication Date:
12 April 2007 (online)

Borgetto et al. weisen auf das Problem hin, dass die klinisch-experimentellen Ansätze, die der quantitativen Versorgungsforschung und qualitative Ansätze meist unverbunden nebeneinander stehen. Sie beabsichtigen nach Studiendesigns zu suchen, die der Therapie (der Heilmittelerbringer) angemessenen sind und entwickeln ein Modell, das die 3 oben genannten Ansätze konzeptionell in Verbindung bringen soll. Da die Autoren explizit zum Diskurs einladen, werden hier einige kritische Überlegungen zu ihren Ausführungen dargelegt.

Die Intention der Autoren, für Therapieberufe ein breiteres Konzept von Evidenz-basierter Praxis als den klassischen biomedizinischen Ansatz der Evidenz-basierten Medizin zu entwickeln, ist aus meiner Sicht sehr hoch anzuerkennen. Folgende 2 Beispiele sollen die große Bedeutung eines solchen Vorhabens unterstreichen.

Das Gelingen von gesundheitsförderlicher Betätigung hängt von sehr vielen ineinander greifenden Faktoren ab: nicht nur von der Grunderkrankung und Behinderung des Klienten, sondern auch von seinen Angehörigen und sonstigen sozialen Umfeld, den physikalischen Kontextfaktoren, seinen Betätigungspräferenzen und der Größe seines prämorbiden Interessens- und Betätigungsreservoirs, auf das er zurückgreifen kann, wenn Krankheit einige der Aktivitäten verhindert. Es ist sehr schwierig, diese Faktoren zu erfassen. Noch schwerer lässt sich ermitteln, inwieweit Therapie die Faktoren positiv verändern kann. In einem klassischen quantitativen Ansatz müsste man sie mit sehr vielen Messinstrumenten messen, handelt sich dann aber wieder das Problem der multiplen Testung ein. Für kleinere Stichproben können daher qualitative Forschungsansätze, die die oben genannten Faktoren z. B. im Rahmen von Interviews erfassen, die Zusammenhänge untersuchen. Der große Unterschied zwischen Ergotherapie und einem Medikament besteht darin, dass die Wirkung der Ergotherapie stärker von den Bedingungen abhängt, unter denen sie „eingenommen” wird. Ein Medikament muss keine Beziehung zu einem Klienten aufbauen, hat keine Leistungsschwankungen, leidet nicht unter Stress und Termindruck, unterscheidet sich nicht in Berufserfahrung und Clinical Reasoning, kennt kein Burn-out und vieles mehr. Hat sich ein Medikament in mehreren klinischen Studien als wirksam erwiesen, ist es wahrscheinlich, dass es im Alltagseinsatz unter Routinebedingungen ähnlich wirkt. Die Alltagswirkung von Ergotherapie hängt aber von vielen Faktoren ab, die sich innerhalb einer Studie und in der Alltagsroutine unterscheiden können. Daher ist es sinnvoll, die Wirkung von Ergotherapie unter Alltagsbedingungen zu erforschen, was einen Teil der Versorgungsforschung darstellt.

Bei der praktischen Umsetzung des Pyramidenkonzepts gäbe es aber nach meiner Auffassung einige Schwierigkeiten. Selten finden sich zur selben Forschungsfrage unterschiedliche Studien in allen 3 von Borgetto et al. beschriebenen Forschungsansätzen. Es bestehen kaum vorgebahnte Suchstrategien für qualitative Studien und solche aus der Versorgungsforschung. Folgende weitere Probleme sind zu bedenken:

Ein randomisiertes Kontrolldesign kann nicht nur unter künstlichen „Laborbedingungen” in der klinisch-experimentellen Forschung, sondern auch unter weitgehend alltagnahen Bedingungen eingesetzt werden. In einem randomisierten Wartegruppen-Kontrolldesign lässt sich z. B. die 1. Gruppe mit einer neuen strukturierten, aber dennoch praktisch gut umsetzbaren Intervention behandeln. Die Wartegruppe erhält zunächst die bisherige Routinebehandlung. Nach einem definierten Zeitraum wird gewechselt. Dies alles kann unter realen Bedingungen auch in ergotherapeutischen Abteilungen oder Praxen geschehen. Die „Kunst” der guten Wirksamkeitsforschung besteht darin, das Interventionsprogramm und die Rahmenbedingungen so praxisnah wie möglich zu gestalten. Daher ist zu empfehlen, neu entwickelte Interventionen zunächst auf ihre Praktikabilität und Akzeptanz bei Therapeuten und Klienten zu prüfen, bevor sie in aufwendigen und teuren kontrollierten Studien auf Wirksamkeit untersucht werden. Die klassische Evidenzhierarchie nach Sackett wird in Forscherkreisen kritisch diskutiert 5 8. So ist z. B. nicht immer eindeutig, ob eine nicht randomisierte kontrollierte Studie, die eine Vielzahl von bekannten Störvariable gut kontrolliert, genauso so hoch einzustufen ist wie eine randomisierte Studie, bei der eine Vielzahl unbekannter Störvariable Einfluss nehmen könnte oder die Ergebnisse nicht gemäß bekannter Gruppenunterschiede adjustiert wurden.Borgetto et al. gehen nicht näher auf die Frage der Robustheit von Ergebnissen ein. Kommen 2 oder mehr Studien mit gleicher Forschungsfrage unter ähnlichen Bedingungen zu ähnlichen Ergebnissen und gibt es dazu keine Studie mit gegenläufigen Ergebnissen, kann das Ergebnis als robust gelten und die Evidenz hoch eingestuft werden. Die klassische Evidenzhierarchie lässt jedoch schon eine hohe Einstufung (Ib) zu, wenn nur eine gut angelegte randomisiert kontrollierte Studie vorliegt.Des Weiteren berücksichtigt die klassische Einstufung der Studien in die Evidenzhierarchie kaum folgende ergotherapierelevante Qualitätsmerkmale: Der Vergleich von Interventions- und Kontrollgruppe soll möglichst zeigen, dass keine Unterschiede in der Baseline-Charakteristik vorhanden sind 7. Ob hier nur Alter, Geschlecht und Anzahl der Diagnosen oder aber individuelle Betätigungspräferenzen der Klienten sowie ihre sozialen und physikalischen Kontextfaktoren erfasst und verglichen werden, ist für der klassischen Evidenz-Einstufung unerheblich. Dies sind jedoch wesentliche Einflussgrößen zur Beurteilung ergotherapeutischer Maßnahmen. Die eingesetzten Messinstrumente sollen gute metrische Eigenschaften aufweisen 6. Wie gut die Messinstrumente komplexe ergotherapierelevante Konstrukte wie Alltagbetätigung erfassen, ist nicht Gegenstand der Evidenz-Einstufung. Meist gibt es dazu in den Artikeln zu wenig Information. Studiendesigns, in denen Klienten ihre eigene Kontrollgruppe bilden, sind in der Therapie einfacher zu verwirklichen, finden in der klassischen Evidenz-Einstufung aber kaum Berücksichtigung. In diesen Studien erhalten Klienten über einen bestimmten Zeitraum eine geplante Intervention, die nach einer Zwischenperiode ohne die spezifische Behandlung wieder aufgenommen wird. Der Wechsel ist mehrfach wiederholbar. Dabei wird immer gemessen, inwieweit sich das interessierende primäre Zielkriterium (z. B. Selbstständigkeit im Alltag) in den unterschiedlichen Phasen verbessert, gleich bleibt oder verschlechtert. Borgetto et al. ordnen die Erfassung der subjektiven Sichtweise des Klienten eher der qualitativen Forschung zu. Mit formalisierten Selbsteinschätzungsbögen kann die Klientenperspektive jedoch ebenso quantitativ und somit sowohl in der klinisch-experimentellen als auch in der Versorgungsforschung ermittelt werden. Umgekehrt ist die ethnografische Beobachtungsstudie ein klassisches qualitatives Forschungsdesign, erfasst aber nur von außen beobachtbare Informationen. Die Autoren führen aus, dass qualitative Forschung komplexe Phänomene erfasst und einen umfassenden Ausschnitt der wahrgenommenen Wirklichkeit abbildet. Dabei darf die Überlegung nicht vernachlässigt werden, dass jede Benennung eines Phänomens und jede Kategorisierung seiner Teilaspekte bereits eine vom Forscher beeinflusste sprachliche Kodierung und somit schon eine Komplexitätsreduktion darstellt. Komplexitätsreduktion ist also ein Problem in allen 3 Forschungsansätzen. Die Zuordnung bestimmter Suchfunktionen in Pubmed zu den 3 Forschungsansätzen ist aus folgenden Gründen kritisch zu bewerten: Viele Journale, die therapierelevante Case studies veröffentlichen, sind in Pubmed nicht indiziert. Höchstwahrscheinlich liegen also tatsächlich viel mehr Case studies vor. Das Limit-Kriterium Clinical trials schließt auch RCT mit ein. So zeigt eine Pubmed-Recherche nach Clinical trials des letzten Jahres mit dem Hauptthema Ergotherapie z. B. 13, nach RCT 9 und nach Clinical trials ohne RCT 4 Treffer an. Selbst unter den angezeigten Clinical trials ohne RCT befinden sich Studien, die eindeutig nicht der Versorgungsforschung zuzuordnen sind. Auch Untersuchungen mit randomisiertem Design können Studien zur Versorgungsforschung darstellen. Therapierelevante Studien mit sozialwissenschaftlichem Fokus sind in Pubmed weniger repräsentiert. Borgetto et al. stellen nicht dar, wie die 3 Forschungsansätze in Langzeitforschungsstrategien aufeinander abgestimmt werden könnten. Qualitative Forschung ließe sich z. B. nutzen, um Hypothesen zu generieren, die dann in Interventionsprogramme integriert werden. Im Anschluss finden ein oder mehrere RCT zur Wirksamkeit der Intervention statt. Bei erfolgreichen Ergebnissen erfolgt eine Implementierung in die therapeutische Praxis. Schließlich untersucht die Versorgungsforschung die Auswirkungen des neuen Angebots in der Routine. Qualitative Forschung kann auch ergänzend oder vertiefend eingesetzt werden, wenn unklar ist, warum eine Intervention in klinisch-experimentellen Studien oder ein Routineservice in Evaluationsstudien der Versorgungsforschung positive (oder negative) Ergebnisse zeigt.

Die Idee, Evidenz für eine klinische therapeutische Fragestellung in allen 3 Forschungsbereichen zu suchen, ist theoretisch gut. Für die Ergotherapie haben Steultjens et al. [3] mit ihrer Synthese der besten Evidenz und dem Einschluss von nicht kontrollierten Studiendesigns in ihren Review dazu einen ersten konkreten Schritt unternommen. Praktisch sind eine derart komplexe Recherche und Literaturbewertung für hauptamtlich klinisch tätige Therapeuten nicht möglich -, es mangelt an Zeit, Expertise und eventuell Motivation. Daher scheint es angeraten, den seit 6 Jahren immer wieder vorgebrachten Vorschlag einer Datenbank mit durchgeführten Studienbewertungen von Bachelor- oder Master-Studenten [1] [2] [4] in die Tat umzusetzen.

Grundsätzlich halte ich die Idee, dass sich klinisch tätige Ärzte oder Therapeuten für einzelne Fragestellungen wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege durch eigene intensive Recherche und Studienbeurteilung besorgen, für nicht praxistauglich. Wissenschaftlich geschulte Personen müssen das internationale Forschungswissen auf ein durch Fachpraktiker umsetzbares Niveau herunterbrechen. Dabei sollten Fachkreise des DVE, Schulen und Hochschulen der Ergotherapie, Fachzeitschriften und Fortbildungsanbieter eng kooperieren. Die Aufgabe, Wissen in praxisgerechten und umsetzbaren „Stückchen” anzubieten, wird durch das Konzept der Forschungspyramide schwieriger, weil noch mehr und unterschiedlicheres Wissen handlich verpackt und schmackhaft gemacht werden muss. Diese Aufgabe kann sich aber lohnen, weil Erkenntnisse aus allen 3 Forschungsansätzen die Praxis der Ergotherapie verbessern können.

Literatur

  • 1 Voigt-Radloff S. Evidenz und Qualitätsmanagement - Ergotherapeutische Forschungs- und Entwicklungsaufgabe bei knappen Ressourcen.  Ergotherapie - Zeitschrift für Angewandte Wissenschaft. 2004;  5 11-20
  • 2 Voigt-Radloff S. Evidenzbasierte Praxis. Scheepers C, Steding-Albrecht U, Jehn P Ergotherapie - Vom Behandeln zum Handeln. Lehrbuch für die theoretische und praktische Ausbildung Stuttgart; Thieme 2006
  • 3 Voigt-Radloff S. Gelesen und kommentiert: Ergotherapie für zuhause lebende Senioren (Steultjens EMJ, Dekker J, Bouter LM, et al. Occupational therapy for community dwelling elderly people: a systematc review. Age Ageing 2004; 33: 453 - 460).  ergoscience. 2006;  1 36-37
  • 4 Voigt-Radloff S. Studien zur Wirksamkeit von Ergotherapie.  Ergotherapie & Rehabilitation. 2001;  6 7-24
  • 5 www.bqs-qualitaetsreport.de/2004/grundlagen/Recherche/kritische_aspekte
  • 6 www.consort-statement.org/examples6a.htm
  • 7 www.consort-statement.org/Translation/GermanCONSORTfull.pdf
  • 8 www.ebm-netzwerk.de/ebm/grundlagen/images/evidenzklassierungen.pdf

Sebastian Voigt-Radloff, EuMSC

Email: sebastian.voigt@uniklinik-freiburg.de

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