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DOI: 10.1055/s-2007-970834
Gesundheitskonzepte und der Umgang mit Krankheit und Beschwerden
Health Concepts and Coping with Disease and SymptomsPublication History
Publication Date:
04 May 2007 (online)
Prof. Dr. Ansgar Thiel
Prof. Dr. Stephan Zipfel
„Also wir konsumieren schon viel Schmerzmittel, also extrem viel. (…) Voltaren könnte bei uns sicherlich als Hauptsponsor einsteigen” [1].[1]
Nicht für alle Menschen bedeutet Gesundheit die Abwesenheit von Beschwerden. In manchen Gesellschaftsbereichen - wie z. B. im Spitzensport, in welchem Schmerzen und deren Bekämpfung durch Medikamente zum Alltag gehören - indizieren Beschwerden zuweilen sogar „Gesundheit”, denn sie zeigen an, dass man den Körper durch ausreichend Training in eine optimale Verfassung gebracht oder im Wettkampf alles gegeben hat.
Am Beispiel des Spitzensportlers kommt das Verhältnis von subjektiven Gesundheitsvorstellungen und dem Umgang mit Beschwerden in ganz spezifischer Weise zum Ausdruck. Das individuelle Verständnis von Gesundheit ist hier unmittelbar an die Fähigkeit gekoppelt, sportliche Höchstleistungen erbringen zu können - also ganz im Sinne der Gesundheitsdefinition des Soziologen Talcott Parsons [2], demzufolge Gesundheit die Fähigkeit des Individuum zur effektiven Erfüllung sozialer Rollen und Rollenerwartungen darstellt.
Es gibt also nicht „die” Gesundheitsvorstellung. Die sogenannten „subjektiven Konzepte” von Gesundheit werden in erheblichem Maße von Faktoren wie z. B. dem sozialen Kontext mitbestimmt. Dies vermutet man schon lange, mindestens seit Emile Durkheims Studie zum Selbstmord [3]. Heute sind sich die Gesundheitswissenschaftler einig, dass das Verständnis von Gesundheit abhängig ist von der jeweiligen Betrachtungsperspektive (u. a. psychologisch, medizinisch, soziologisch, juristisch) und den zugrundeliegenden Bezugssystemen (Person, Medizin, Gesellschaft) [4] - und das gilt durchaus nicht nur für die Gruppe der Spitzensportler.
Die naheliegende Frage, auf welche Weise sich die subjektive Gesundheitsvorstellung auf die Bewältigung von Krankheiten oder auf das Gesundheitsverhalten auswirkt, wird jedoch erst in jüngerer Zeit verstärkt diskutiert [5] [6]. Und das, obwohl doch das Gesundheitsparadox des klinisch schwer kranken Menschen, der sich ausgezeichnet fühlt, ebenso zum ärztlichen Alltag zu gehören scheint, wie umgekehrt das sogenannte Krankheitsdilemma des klinisch gesunden, sich aber sterbenskrank fühlenden Patienten [7]. Eine interessante und für das ärztliche Handeln sehr fruchtbare Erklärung für dieses Phänomen liefern die Gesundheitswissenschaftler Toni Faltermaier und Irene Kühnlein [8]. Sie fanden in einer Studie vier unterschiedliche individuelle Gesundheitskonzepte: Das „On-Off-Schalter-Konzept”, das „Batteriekonzept”, das „Akkumulatorkonzept” und das „Generatorkonzept”. Für Menschen, die ein On-Off-Schalter-Konzept haben, ist man dann gesund, wenn man nicht krank ist. Und krank ist man erst dann, wenn die Krankheit das Alltagsleben erheblich behindert. Sobald sich diese Patienten an die Beeinträchtigung gewöhnt haben, wird die Krankheit offenbar nicht mehr wahrgenommen. Menschen mit einem Batteriekonzept haben nach Faltermaier und Kühnlein die Vorstellung, dass jedem Menschen nur ein bestimmtes Quantum an Gesundheit zur Verfügung steht. Da diese Batterie auch irgendwann einmal leer sein wird, liegt es nahe, vorsichtig mit seinen Ressourcen umzugehen. Dass man die „Gesundheitsbatterie” auch wieder durch angemessene Aktivität oder Erholung aufladen kann, ist den Menschen mit einem Akkumulatorkonzept durchaus bewusst. Doch die Bereitschaft, über die eigenen Grenzen zu gehen, um die Gesundheit gar noch über den Ausgangszustand zu heben, wird man bei dieser Gruppe wohl eher selten finden. Dies charakterisiert die Generatorvorstellung. Menschen dieser Gruppe scheinen unter Gesundheit vor allem Handlungsfähigkeit und Wohlbefinden zu verstehen und sie gehen offenbar davon aus, dass beides durch aktive Maßnahmen verbessert werden kann.
Die Studie von Faltermeier u. Kühnlein liefert eine gute Grundlage, Untersuchungsergebnisse von Studien zu erklären, wonach mehr als ein Viertel der männlichen und sogar deutlich mehr als ein Drittel der weiblichen Herzinfarktpatienten, die zum Zeitpunkt ihres Infarktes Raucher waren, direkt nach der Entlassung wieder zu rauchen beginnen. Es spricht einiges dafür, dass es sich bei dieser Gruppe um Personen mit einem On/Off-Schalter-Konzept handelt. Die Krankheit ist nur so lange relevant, solange die gewohnten Verdrängungsstrategien nicht greifen - wie z. B. bei einem akuten, lebensbedrohlichen Ereignis. Ist die Bedrohung nicht mehr so unmittelbar, dann scheint alles wieder vergessen zu sein.
Bislang gibt es über den Zusammenhang von Gesundheitskonzepten und Compliance noch kaum empirisch fundierte, repräsentative Aussagen. Studien zur Compliance sollten künftig um den Faktor Gesundheitskonzept ergänzt werden. Denn wenn diese Konzepte den Umgang des Patienten mit Krankheit bestimmen, dann dürfte der Therapieerfolg auch davon abhängig sein, wie der Arzt auf diese subjektiven Konzepte reagiert und den Einzelnen anspricht. Doch auch über die Wirkung „typischer” ärztlicher Kommunikationsstrategien auf den Krankheitsverlauf unterschiedlicher Patiententypen weiß man noch zu wenig [9]. Die bisherigen Arbeiten zu diesem Thema weisen darauf hin, dass beides miteinander zusammenhängt, doch sie liefern noch nicht genügend Informationen über die Bedingungen, unter denen der ärztliche Ratschlag beim Patienten Resonanz erzeugt. Dass Ärzte durchaus offen für einen patientenorientierten Kommunikationsstil sind, zeigt eine aktuelle Querschnittsuntersuchung zum sogenannten „clinical decision making” an einer repräsentativen und stratifizierten Stichprobe von 1050 amerikanischer Ärztinnen und Ärzte aus der Allgemeinmedizin, einer medizinischen oder chirurgischen Subspezialität [10]. So sind immerhin 75 % dieser Ärztinnen und Ärzte dazu bereit, medizinische Entscheidungen mit ihren Patienten zu teilen. Nur 14 % präferieren laut dieser Studie einen klar paternalistischen Entscheidungsstil und nur 11 % übertragen ihren Patienten die mehrheitliche Entscheidung. Dass dieses Selbstverständnis nicht zwangsläufig mit der Realität der Arzt-Patienten-Interaktion in Krankenhäusern korrespondiert, lässt sich daran erkennen, dass 87 % der befragten Ärztinnen und Ärzte der genannten Studie der Meinung sind, ihren präferierten Stil bereits zu praktizieren. Eine weitere Stärkung von gemeinschaftlichen Entscheidungsfindungen (shared-decision making) im Gesundheitssystem setzt also - so auch die Autoren der Studie - Interventionen sowohl auf der Ebene der Patienten als auch der Ärzte voraus [11].
Gleichzeitig ist die Forschung gefordert, ganzheitliche Interventionskonzepte, bei denen auch die Angehörigen miteinbezogen werden, zu prüfen, damit auf der Basis solider empirischer Daten die Ausbildung der Ärzte in diesem Bereich verbessert werden kann. Denn die Aussage, dass Ärzte ausschließlich Spezialisten für Krankheit sind, gilt heute mehr denn je. So lässt die zunehmende Komplexität von Diagnose und Therapie kaum mehr Platz für eine Beschäftigung mit dem „Negativwert des medizinischen Systems”, der Gesundheit [12]. Die Krankheit ist es, die im Fokus des ärztlichen Handelns steht und nur diese ist es, über die detaillierte Auskünfte gegeben werden kann. Die Verwendung des Terminus „positiv” für eine diagnostizierte Krankheit spiegelt dies wider.
Es ist zu vermuten, dass ein besseres Wissen über die Konzepte, die Patienten von Gesundheit haben, auch die Erfolgswahrscheinlichkeit der ärztlichen Therapie erhöht. Für Menschen mit funktionellen Störungen konnte bereits nachgewiesen werden, dass eine ausschließlich biomedizinisch organorientierte Zugangsweise alleine nicht besonders gut wirksam ist, sondern durch kognitiv-interpersonale Ansätze ergänzt werden muss, die auch Informationen über den Lebenskontext und die „Denkweise” des Patienten liefern [13]. Und wie unpassend eine ärztliche Standardvorgehensweise unter bestimmten Umständen sein kann, zeigt das Eingangsbeispiel. So wird ein Spitzensportler, der am nächsten Tag einen wichtigen Wettkampf hat und gleich mal präventiv Voltaren einnimmt, sich wohl kaum von Hinweisen eines Arztes auf zukünftige Nierenschäden davon abhalten lassen. Denn ein solcher, erst lange nach der Karriere zu erwartender Schaden, spielt im aktuellen Gesundheitskonzept des Spitzensportlers in der Regel eine nur untergeordnete Rolle. Und so treffen vermutlich auch die ärztlichen Standardtherapieempfehlungen bei den therapieresistenten Herzinfarktpatienten angesichts deren Gesundheitskonzepte nur auf taube Ohren. Um die Wahrscheinlichkeit einer Mithilfe des Patienten und damit auch die Erfolgsaussichten ärztlichen Handelns zu erhöhen, dürfte es daher von höchster Relevanz sein, wenn über die Ergebnisse der klassischen Krankheitsdiagnostik hinaus auch Befunde zu den Gesundheitsvorstellungen der Patienten in die Therapiegestaltung einflössen.
Literatur
- 1 Thiel A, Mayer J, Digel H. Gesund und Spitzensport. Unveröff. Forschungsbericht. Tübingen; 2007
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2 Parsons T.
Definition von Gesundheit und Krankheit im Lichte der Wertbegriffe und der sozialen Struktur Amerikas. In: Mitscherlich A, Brocher T, Mering O von, Horn K (Hrsg) Der Kranke in der modernen Gesellschaft. Köln; Kiepenheuer & Witsch 1967 - 3 Durkheim E. Le suicide: Étude de sociologie. Paris; Félix Alcan 1897
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4 Schumacher J, Brähler E.
Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit. In: Strauß B, Berger U, Troschke U von, Brähler E (Hrsg) Lehrbuch Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie. Göttingen; Hogrefe 2004: 15-40 -
5 Pill R.
Health beliefs and behaviour in the home. In: Anderson R, Davies JK, Kickbusch J et al. (eds) Health behaviour research and health promotion. Oxford; University Press 1988: 140-153 - 6 Jacob R, Eirmbter W, Hahn A. Laienvorstellungen von Krankheit und Therapie. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativbefragung. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie. 1999; 7 (3) 105-119
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7 Myrtek M. Gesunde Kranke - kranke Gesunde. Psychophysiologie des Krankheitsverhaltens. Bern; Huber 1998
- 8 Faltermaier T, Kühnlein I. Subjektive Gesundheitskonzepte im Kontext: Dynamische Konstruktionen von Gesundheit in einer qualitativen Untersuchung von Berufstätigen. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie. 2000; 8 (4) 137-154
- 9 Schrauth M, Zipfel S. Turning objects into subjects: compliance becomes concordance and paternalism participation. Psychother Psych Med. 2005; 55 (9 - 10) 395-396
- 10 Murray E, Pollack L, White M, Lo B. Clinical decision-making: physicians' preference and experience. BMC Family Practice. 2007; 8 10
- 11 Wilz G, Bohm B. Interventionskonzepte für Angehörige von Schlaganfallpatienten: Bedarf und Effektivität. Psychother Psych Med. 2007; 57 12-18
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12 Luhmann N.
Der medizinische Code. In: Luhmann N Soziologische Aufklärung, Konstruktivistische Perspektiven. Opladen; Westdeutscher Verlag 1990: 183-195 - 13 Henningsen P, Zipfel S, Herzog W. Management of functional somatic syndromes. Lancet. 2007; 369 (9565) 946-955
1 So die Aussage eines Probanden in einer jüngst abgeschlossenen, noch nicht publizierten Studien zum Gesundheitsmanagement im Spitzensport (Thiel, Mayer & Digel, 2007). Dass die Einnahme von Voltaren im Handball zum Alltag gehört, äußerte auch der Handballer Stefan Kretzschmar in verschiedenen Medienberichten während der Handball-WM 2007.
Prof. Dr. Stephan Zipfel
Abteilung Psychosomatische Medizin & Psychotherapie, Medizinische Universitätsklinik
Osianderstr. 5, 72074 Tübingen
Email: stephan.zipfel@med.uni-tuebingen.de