PiD - Psychotherapie im Dialog 2007; 8(3): 274-277
DOI: 10.1055/s-2007-970998
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vom Psychotherapeuten zum Konzernvorstand - Etappen eines Lebensweges

Jon  Baumhauer im Gespräch mit , Arist von  Schlippe und Jochen  Schweitzer
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Publication Date:
14 September 2007 (online)

Jon Baumhauer ist Vorstandsvorsitzender der E. MERCK OHG.

PiD: Herr Baumhauer, Sie stehen heute an der Spitze eines großen Konzerns und waren davor Psychotherapeut. Wie kommt man zu so einem Lebenslauf?

Jon Baumhauer: Durch Familienzugehörigkeit. MERCK ist ein Familienunternehmen und ich bin als Merck-Abkömmling Gesellschafter geworden. Es muss unter den Gesellschaftern einen geben, der als Sprecher der Eigentümerfamilie im Unternehmen fungiert. Ich bin Vorsitzender des Vorstandes der Konzernobergesellschaft E. MERCK OHG, und damit zwar rechtlich der oberste Repräsentant der MERCK-Gruppe, aber nicht für das operative Geschäft verantwortlich, das von der MERCK KGaA geführt wird.

Möchten Sie kurz schildern, wie Sie in die Verantwortung hineingewachsen sind?

Geboren wurde ich 1944 in Freiburg, bin dann in München aufgewachsen. Nach Internat und Bundeswehr habe ich in New York und München studiert, zunächst Philosophie, dann Psychologie und Geschichte. Ich habe kurz in New York an der Uni gearbeitet und später nach Beendigung meines Psychologiestudiums mehrere Jahre an einem Institut der Uni München.

Waren Sie in New York auch schon in der Psychologie tätig?

Nein, da habe ich Philosophie abgeschlossen und die Chance genutzt, als „Teaching-Assistant” am College zu unterrichten. Später habe ich in München als Psychologe im Institut für soziale Pädiatrie gearbeitet, ich konnte bei Prof. Hellbrügge an Forschungsthemen zu Entwicklungsfragen bei Kleinkindern mitarbeiten.

Möchten Sie ein Beispiel erzählen, was sie damals gemacht haben?

Damals ging es um Entwicklungstests bei Kleinkindern; die Resultate erschienen später als „Münchener funktionale Entwicklungsdiagnostik”. Auf dieser Basis wurden weitere Forschungsprojekte entwickelt.

Später habe ich mich als klinischer Psychologe, mit einer Kollegin in München niedergelassen. Ich war durch eine verhaltenstherapeutische und familientherapeutische Ausbildung gegangen und habe mehr als 20 Jahre als Psychologischer Psychotherapeut in München gearbeitet. Allmählich habe ich in unserem Familienunternehmen immer mehr Verantwortung übertragen bekommen und bin jetzt seit fast 30 Jahren in unseren Aufsichtgremien tätig. Ich bin nach und nach in verschiedene Ämter gewählt worden, aus denen meine gegenwärtige Position resultiert.

Als Sie Ihr Philosophie- oder Psychologiestudium abgeschlossen haben, haben Sie schon damit gerechnet, einmal da zu sein, wo Sie heute stehen?

Nein, überhaupt nicht. Ich hatte mir anfänglich auch nicht zugetraut, in solche Verantwortung berufen zu werden, zumal ich relativ jung in den Gesellschafterrat gewählt wurde.

Schon parallel zu Ihrer psychotherapeutischen Tätigkeit?

Ja, das lief lange Jahre parallel. Nachdem die Arbeit in Darmstadt zunahm, musste ich dann Zug um Zug die Münchener Arbeit verringern. Schließlich war es nicht mehr möglich, beides nebeneinander zu machen.

Haben Sie in der Praxis auch weiter mit Kindern gearbeitet?

Anfänglich ja, ich bin aber mit den Kindern „groß geworden”. Die Kinder wurden älter und ich bekam Jugendliche und junge Erwachsene als Patienten. Meine Kollegin hatte sich mehr auf Kinder spezialisiert, vor allem im nonverbalen Bereich der Therapie, der mir nicht lag. Mir fiel der verbale Austausch leichter, so geriet ich zunehmend in die Erwachsenentherapie und bin dann dabei auch geblieben.

Und irgendwann sind dann Manager als Patienten zu Ihnen gekommen?

Es kamen Eltern von Jugendlichen, die ich früher in der Praxis hatte. Darunter waren ein Richter in München und ein Manager in einer hohen Position eines großen Konzerns, die nun mit ihren eigenen Schwierigkeiten kamen. Über diese beiden geriet ich durch Mundpropaganda an eine Klientel von Führungskräften. Mich haben die Interaktionsschwierigkeiten solcher hoch belasteten Persönlichkeiten in ihrem beruflichen und persönlichen Umfeld sehr interessiert.

Wenn Sie so heute daran zurückdenken, gibt es einen Teil der damaligen Arbeit, der Ihnen heute fehlt?

Ganz ehrlich, ich bin glücklich über die Chance, noch einmal etwas ganz Neues machen zu können. Ich konnte mir immer schwer vorstellen, mein Leben lang als Psychotherapeut zu arbeiten, ich hatte mir gewünscht noch eine andere Chance zu bekommen.

Sie haben einmal gesagt, es sei leichter, ein großes Untenehmen zu steuern, als mit ausgebrannten Managern zu arbeiten.

Da ich nicht für die operative Seite verantwortlich bin, habe ich leicht reden. Aber es ist schon so: Mir persönlich fällt es leichter, in einer großen Organisation an einer Schaltstelle mitzuarbeiten, als im Einzeldialog mit sehr schwierigen Biografien zu Rande zu kommen. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass häufig die Grenzen der Psychotherapie erreicht werden.

Wie haben Sie denn Ihre Position bei MERCK bekommen?

Was die Wahl in unsere Aufsichtsgremien angeht, hat jeder Gesellschafter im Prinzip eine Chance, wenn er eine gewisse Qualifikation überzeugend nachweisen kann und das Vertrauen seiner Mitgesellschafter erwirbt.

Wie alt waren Sie, als Sie erstmals in ein Aufsichtsgremium gewählt wurden?

Das war 1979, damals war ich 35.

Und wie lief der weitere Weg?

In Schritten. Ich kam zunächst in den Gesellschafterrat, wurde nach zehn Jahren stellvertretender Vorsitzender, kam in den Personalausschuss dieses Gremiums, und wurde 1995 Vorsitzender des Gesellschafterrates. Als wir unseren Familienrat gründeten, wurde ich auch in dieses Gremium berufen. Bei der Börsenöffnung 1995 wurde ich dann zusätzlich in den Aufsichtsrat der MERCK KGaA entsandt. Es entstand gleichzeitig eine neue Struktur in der Leitung der Konzernobergesellschaft. 2002 wurde ich dort Vorsitzender des Vorstands.

Wie sieht ein typischer Arbeitsalltag von Ihnen heute aus?

Ich habe mit meinen Kollegen zusammen dafür zu sorgen, die Vorbereitung großer strategischer Entscheidungen zu optimieren, und dafür zu sorgen, dass die Familieninteressen der Gesellschafter und die operativen Vorgaben aus dem Management abgeglichen werden. Ich sehe es außerdem als meine Aufgabe, die Familie als Gesellschafterkreis für ein weiterhin langfristiges Engagement zu gewinnen. Wenn man so will, obliegt dem Familienrat, dessen Vorsitzender ich bin, das Familienmanagement dieses großen Personenkreises in allen Facetten. Mir ist es weiterhin ein besonderes Anliegen, mich um die jungen Gesellschafter zu kümmern, immerhin schon die zwölfte Generation! Mir geht es darum, ihr Interesse an MERCK wach zu halten.

Da steckt das Commitment dahinter, die Familie und das Unternehmen nicht als identische, aber als zwei aufeinander angewiesene Partner zusammenzuhalten?

Ja, ich glaube, dass unsere Gesellschafter in der Zugehörigkeit zu dem Unternehmen einen Mehrwert für ihre eigene Person sehen und sich stark mit MERCK identifizieren. Wenn es nicht gelingt, die Identifizierung mit dem gemeinsamen Unternehmen am Leben zu erhalten, lösen sich die Bindungen rasch auf.

Und umgekehrt sehen sie ja auch einen Mehrwert fürs Unternehmen?!

Ja, für das Unternehmen ist diese Bindung der Garantiefaktor, dass wir als Firma selbstständig bleiben können, die Mitarbeiter Vertrauen in ihre eigene Position haben können. Für die Belegschaft bedeutet das Engagement der Familie die größte Sicherheit für ihre Zukunft.

Weil sie keine Angst haben müssen, einmal „feindlich übernommen” zu werden?

Das ist bei einem Fortbestand des Zusammenhalts ausgeschlossen. Wir haben in der Familie explizite strategische Grundaussagen, an die wir uns halten und deren Wert und Bedeutung wir weitergeben wollen. Dazu gehört unsere Selbstständigkeit, ein Commitment zum Standort Deutschland und eine strategische Ausrichtung auf eine Balancierung zwischen Pharma und Chemie. Dazu gehört auch, dass wir ein innovatives Unternehmen sein wollen und langfristig denken.

… auch, dass Sie sich niemals direkt oder indirekt an der Produktion von Kampfstoffen beteiligen.

Ja, das gehört zu unseren ethischen Grundsätzen, die Gesellschafter würden außerordentlich rebellieren, wenn sie sich mit der Unternehmenspolitik oder unseren Produkten nicht identifizieren könnten.

Dieser Wertfindungsprozess ist ja ein expliziter gewesen, wenn ich das richtig verstehe - eine Aktivität des Familienrates?

Ja. Gleichzeitig wurde auch im Unternehmen ein Leitbild entwickelt. Die Balance der beiden Leitbilder ist geglückt, sie ergänzen sich. Das Management muss wissen, welche Vorgaben vonseiten der Eigentümer existieren.

Leitbildentwicklungen werden ja nicht überall geschätzt, weil Leitbilder zuweilen von oben herab verordnet wirken.

Die Leitbildentwicklung im Unternehmen wurde zwar von der Geschäftsleitung initiiert, doch es entwickelte sich bottom-up aus den einzelnen Abteilungen. Das Personalwesen hatte die Strukturierung übernommen, bis die Resultate in einem sehr verdichteten Leitbild mündeten. Parallel lief die Einigung auf eine strategische Grundausrichtung innerhalb der Familie. Für die Mitarbeiter bedeutet es Sicherheit, dass wir auf einem gemeinsamen Fundament stehen.

Das klingt nach einem starke Identifikation erzeugenden Instrumentarium?

Beispielsweise im Zuge der Akquisition von SERONO, die wir gerade getätigt haben, der größten Investition, die wir je getätigt haben, entstanden bei den Mitarbeitern naturgemäß Ängste. Veränderungen in dieser Kategorie lösen eo ipso Beunruhigungen aus. Und im Zuge des Integrationsprozesses kommt es natürlich auch zu Personalentscheidungen, die schwierig sind. Da war es entscheidend, dass man den Mitarbeitern versichern konnte: Es gibt Grundprinzipien und von denen weichen wir nicht ab. Die Eigentümer garantieren euch, dass diese Grundwerte geachtet werden.

Wenn Sie ein anderes Unternehmen davon überzeugen wollten, wie Sie es machen - und die verstünden das sozusagen nur betriebswirtschaftlich. Würden Sie denen denn sagen können: „Das rechnet sich auch!”?

Davon bin ich absolut überzeugt. Ich glaube, dass die Qualität des Zusammenlebens, die Qualität des Wohlbefindens eines Mitarbeiters, seines Gefühls der Sicherheit proportional am Erfolg messbar ist. MERCK ist in dieser Hinsicht noch ein Familienunternehmen im traditionellen Sinn. Ein Mitarbeiter, der hier einmal eingetreten ist, kann damit rechnen, dass er hier auch bleiben kann, wenn er tüchtig ist. Viele sind in der dritten, vierten Generation bei uns. Es ist ein hohes Zugehörigkeitsgefühl entstanden, mit einer geringen Fluktuation. Des Weiteren spielen Anerkennung und Bestätigung eine wichtige Rolle und Wertschätzung ist Teil der Unternehmenskultur. Und ein drittes Element ist, dass wir uns nachweislich leisten können, langfristige Ziele zu verfolgen. Das beste Beispiel sind die Flüssigkristalle, heute unsere großen Starprodukte, mit denen wir auch hohe Margen erzielen. Die Entwicklungen mussten sehr langfristig anlaufen, bis es zu den heutigen Erfolgen kam. Es ist für eine Publikums-Gesellschaft, die unter dem Druck von Quartalszahlen oder Shareholder-Value steht, sehr viel schwieriger, solche langfristigen Projekte durchzuziehen.

Ich finde interessant, dass wir im Gespräch auf viele der klassischen Vorteile von Familienunternehmen kommen - die Sicherheit, die Langfristigkeit.

Die Forscher im Unternehmen beschäftigen sich mit Themen, deren wirtschaftlicher Erfolg in weiter Ferne liegt, das gilt insbesondere für die Pharmaforschung, aber auch für den Chemiebereich. Es ist einigen Mitarbeitern zu verdanken, dass sie ein sehr frühes Gespür für das hohe Potenzial der Flüssigkristalle hatten. Andere Firmen haben nach und nach die Lust verloren. Irgendwann blieben wir fast als einzige übrig, heute sind wir weltweit Marktführer.

Wie koordinieren Sie denn die Meinungsbildung in dieser Familie, wenn alle weltweit auseinander wohnen?

Familienmitglieder sind definiert als die Abkömmlinge der Enkel von Emanuel Merck, der erstmals im industriellen Maßstab produzierte und Anfang des vorletzten Jahrhunderts lebte. Die Familie trifft sich mindestens einmal im Jahr zu einer Gesellschafterversammlung, an der auch die Ehepartner und alle volljährigen Familienmitglieder teilnehmen können.

Wie viele Menschen kommen da?

Es gibt 130 Gesellschafter und mit den Angehörigen sind es rund 200 Personen. Es kommen meist etwa 130. Alle fünf Jahre werden Wahlen zu unserem Familienrat abgehalten, der aus maximal 13 Mitgliedern besteht. Dieser wählt seinerseits den Gesellschafterrat, der dem Aufsichtsrat einer Publikumsgesellschaft entspricht. Fünf Mitglieder entstammen dem eigenen Kreis; hinzu kommen vier externe Unternehmerpersönlichkeiten. Der Familienrat trifft sich häufig, in der Regel an acht bis zwölf Tagen im Jahr. Wir reisen auch einmal im Jahr zusammen zu einer Auslandsgesellschaft und nutzen die Chance zu informellen Gesprächen, auch mit der Geschäftsleitung. Die jungen Gesellschafter werden jedes Jahr zu einer gesonderten Veranstaltung gebeten und jedes zweite Jahr reisen wir mit ihnen ebenfalls zu einer Auslandsgesellschaft, um ihnen zu zeigen, wo und wie sich unsere Märkte entwickeln. Letztes Jahr hatten wir im Krebsforschungszentrum Heidelberg ein fantastisches Treffen und haben dort gelernt, was es bedeutet, wenn man für Krebskranke, die eigentlich keine Hoffnung mehr haben, Medikamente zur Verfügung stellen kann, wie deren Wirkmechanismen funktionieren und wie in der Forschung neue Ansätze gefunden werden können. Es war eine Veranstaltung, die alle beeindruckt hat. Diese Treffen generieren natürlich ein Stück Identität mit dem Unternehmen für die jungen Menschen. Die gemeinsamen Erlebnisse stärken auch die Familienbindungen.

Ich kann mir nach Ihren Worten die Identitätspflege der Familie Merck jetzt ganz gut vorstellen …

Wir fühlen uns als Treuhänder eines großen Vermögens, das wir gerne der nächsten Generation wieder in die Verantwortung übergeben, und dazu brauchen Sie bestimmte Qualitäten familiärer Kohäsion.

Das wird ja gleichwohl nicht ohne Konflikte abgehen.

Es gibt natürlich auch Konflikte. Wir haben Mechanismen, auch in den Verträgen verankert, wie so etwas zu lösen ist. Im Extremfall ist es einem Gesellschafter auch möglich auszuscheiden, was unter Umständen schwierig ist, denn Gesellschaftsanteile können Sie nicht einfach irgendwo verkaufen.

Wann ist das das letzte Mal passiert?

Es ist in den letzten zehn Jahren einmal passiert und davor in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Es ist die Ultima Ratio. Die Familie ist konsensfähig und sucht die Einigung. Vielleicht ist in seltenen Fällen einmal ein psychotherapeutisches Vorwissen von Nutzen: Konfliktmanagement, Dialogfähigkeit zu erhalten, Konflikte auch zu artikulieren, zu lokalisieren, hilft dann schon. Wir nutzen auch, wenn es notwendig erscheint, die externe Hilfe eines Gesprächsleiters bei heiklen Themen. Das Bewusstsein, dass Konflikte über 300 Jahre hinweg immer lösbar waren, macht zuversichtlich.

Da haben Sie sozusagen einen 300 Jahre alten Erfahrungsschatz …

Genauso ist es. Man wird wahrscheinlich nichts Neues kreieren an Konflikten, die nicht vielleicht schon einmal gelöst worden sind. Wir haben aber durch bestimmte Regulierungen auch zur Konfliktprävention beigetragen. So haben wir sehr früh alle „Stammesrechte” abgeschafft. Heute wissen die Gesellschafter zuweilen kaum noch, welchem Stamm sie eigentlich angehören. So gibt es keine Ansprüche bestimmter Personengruppen auf Ämter oder Mandate.

Lebt das typische Familienmitglied stärker von seiner Dividende bei MERCK oder stärker von seiner beruflichen Tätigkeit?

Nein, die meisten haben entsprechende Berufe und den Willen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und zu finanzieren. Die Gesellschafter lassen ihre Dividenden zum größten Teil im Unternehmen. Für die Mitarbeiter war es ein äußerst beruhigendes Signal, dass weder beim Börsengang 1995 noch bei späteren Kapitalerhöhungen Gesellschafter Kasse gemacht haben. Das waren immer Gelegenheiten, sehr viel Geld zu verdienen, und keiner hat davon Gebrauch gemacht.

Gibt es neben dem Familienrat noch ein Feld, wo es für Sie gut ist, einen psychotherapeutischen Hintergrund zu haben?

Ich glaube nicht, dass Psychologen bessere Menschenkenner sind als andere. Sie reflektieren vielleicht stärker die Interaktionsmuster. Was ich in der therapeutischen Tätigkeit gelernt habe, ist zuzuhören. Ich glaube, dass mir das manchmal besser gelingt als anderen. Und ich nehme an, dass das Motivieren von Menschen zuweilen leichter fällt, wenn man eine gewisse psychologische Vorbildung hat, aber ansonsten bezweifle ich, dass sehr viel psychotherapeutischer Transfer möglich ist, der direkt nutzbar ist.

Gab es umgekehrt Dinge, die Sie zu verlernen hatten? Berufliche Haltungen?

Das ist sicher so. Die Rolle des Heilenden und Helfenden muss man ablegen. Das erzeugt ein falsches Klima.

Was waren die anspruchsvollsten „Curricula”, die Sie beim Hineinwachsen in Ihre jetzige Tätigkeit durchlaufen mussten?

Sicher die betriebswirtschaftlichen Grundkenntnisse. MERCK ist ein sehr komplexes Unternehmen, in seiner Vielschichtigkeit, in seinen Sparten und internationalen Geschäftsfeldern. MERCK ist viel komplexer als ein Unternehmen, das sich nur mit einer Produktgruppe beschäftigt. Es gibt insgesamt bei uns Hunderttausende von Produkten, in ganz unterschiedlichen Bereichen. Ein anderes Beispiel: Der Dialog mit Forschern ist anspruchsvoll, alles Menschen mit hoher Professionalität in ihrem Gebiet. Dasselbe gilt für Produktions-, Rechts-, Finanz- oder Steuerthemen. Die meisten Unterlagen, die wir erhalten, sind auf einen hohen Aggregatzustand verdichtet. Die zugrunde liegenden Entscheidungsprozesse müssen verstanden werden.

Müssen Sie die Forschungsanträge entscheiden?

Die Vertreter der Eigentümer müssen sie genehmigen. Anträge werden von der Geschäftsleitung sorgfältig vorbereitet auf der Basis einer mit der Familie abgestimmten Strategie. Dennoch behält sich die Familie vor, große Investitionsanträge durch ihre Vertreter zu genehmigen.

Gehen solche Impulse für Forschungstätigkeit auch von Ihnen aus?

Nein, sie kommen normalerweise aus den operativen Bereichen. Alle großen Produkte haben meist lange Vorlaufzeiten, man muss sehr frühzeitig den nächsten Ertragsbringer aufbauen. Bis ein Medikament auf den Markt kommt, vergehen zehn bis zwölf Jahre; Entscheidungen über heutige Projekte beeinflussen, generieren hoffentlich die Umsätze der Jahre 2018 bis 2020.

In welchem Umfang nutzt denn MERCK externe Beratung im Bereich Soft Factors, also Coaching, Teamberatung, Personalentwicklung etc.?

Vielfältig. Wir nehmen zum Beispiel bei Personalentscheidungen häufig externe Kompetenz in Anspruch. Unsere Top Talents im Unternehmen, die für Führungspositionen vorgesehen sind, durchlaufen ein Curriculum der „MERCK-University”, die aus internationalen universitären Bausteinen besteht. Wir haben für viele Einzelfragen Berater von außen, in den unterschiedlichsten Bereichen. Die Familie ihrerseits nutzt auch gelegentlich externe Kompetenz für schwierige Orientierungsprozesse.

Wenn Menschen bei Ihnen als externer Berater, Coaches oder Teamberater arbeiten wollten, worauf müssten die achten?

Ich will dies für die Familiengesellschafter beantworten: Externe Berater müssen die Fähigkeit mitbringen, über alle Generationen hinweg Vertrauen einzuflößen und ein Gespür für die Tradition und die Wertvorstellungen innerhalb der Gesellschafterfamilie zu entwickeln.

Es gibt ja unter den Organisationsberatern eine Gruppe, die sich selbst als „Prozessberater” beschreibt und sich in ihrem Selbstverständnis von der Expertenberatung à la McKinsey abgrenzt. Ist diese Differenz für Sie bei MERCK bedeutsam?

Ja. Als Familie würden wir wahrscheinlich eher von außen die Prozesse begleiten lassen. Für die fachliche Beratung würden wir bevorzugt unsere eigenen Leute hinzuziehen. Wir hoffen ja, dass diese die Kompetentesten sind.

Gibt es noch eine Frage, von der Sie erwartet hätten, dass wir sie stellen?

Nein, ich vermute allerdings, dass, die Antwort auf die Frage, wie nützlich die Psychotherapie für diese Position ist, Sie vielleicht etwas enttäuscht hat. Wie gesagt: Ich glaube, da ist nicht sehr viel „zu holen”.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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