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DOI: 10.1055/s-2007-972190
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Heilkunst und Kunst - seit Jahrhunderten im Dialog
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
20. März 2007 (online)
Im Rahmen des 88. Deutschen Röntgenkongresses im Mai 2007 in Berlin stellt die Thieme Verlagsgruppe gemeinsam mit Kongresspräsident Professor Ulrich Mödder verschiedene Exponate zum Thema "Kunst und Medizin" aus. Darunter sind zwei großformatige Bilder, die der Künstler Thomas Locher eigens für die Tagung entworfen hat. Neu ist die Verbindung von bildender Kunst und Heilkunst nicht. Schon der Begriff der "Heilkunst" verweist auf die Nähe. Denn seit jeher haben Künstler Anatomie, Funktion und Psyche des Menschen in ihren Werken verarbeitet und damit einen direkten Bezug zur Medizin hergestellt.
Medizin und bildende Kunst kommen sich seit Jahrhunderten immer wieder nahe: Maler stellen Krankheit, Untersuchung und Behandlung in ihren Werken dar und interpretieren sie individuell. Andererseits wird das ärztliche Handeln häufig als Kunst bezeichnet und auch medizinische Dokumentation hat oft einen künstlerischen Stellenwert. In vielen Kulturen bildete sie lange Zeit die einzige Form der Darstellung medizinischen Fortschritts.
Bilder und Zeichnungen verschiedener Zeitabschnitte belegen die unterschiedlichen Sichtweisen der Künstler der jeweiligen Epochen auf Medizin und Gesundheit. Grabmale wohlhabender Ärzte der Antike etwa zeigen Ärzte als edle und besonnene Männer. Platon stellt Hippokrates auf eine Stufe mit den großen Bildhauern seiner Zeit: Die Medizin gilt als erlernbare Kunst. Mittelalterliche Bilder zum Thema beziehen meist auch Text ein - und dass obwohl die meisten Menschen damals weder schreiben noch lesen konnten. Der griechische Arzt Galenos ist in dieser Zeit im prächtigen Gewand dargestellt - ärztliche Kunst genoss hohes Ansehen und war nicht jedem zugänglich.
Mit Beginn der Neuzeit intensiviert sich der Austausch zwischen Wissenschaft und Kunst. Intellektuelles humanistisches Interesse und Neugierde für Mensch und Natur drängen darauf, den Körper durch Sehen und Darstellen zu erfassen. Einen Höhepunkt dieser Zeit bilden die Tafelbilder "De humani corporis fabrica" des flämischen Anatom Andreas Vesalius. In der Renaissance und im Europa der Aufklärung konzentriert sich die Darstellung der Medizin deshalb immer mehr auf den menschlichen Körper. Die "Commentarii" des florentinischen Goldschmieds und Bildhauers Lorenzo Ghiberti fordern: Bildhauer müssen Sektionen beigewohnt haben, weil sich ohne diese Kenntnis keine gelungene Statue formen lässt.
Herausragend unter Malern und Zeichnern dieser Zeit markiert Leonardo da Vinci eine epochale Schwelle: Er vervollkommnet die perspektivische Darstellung, wodurch sich der menschliche Körper nun räumlich wiedergeben lässt. Damit setzt er bleibende Standards, die sich kaum überbieten lassen. Die dadurch mögliche lebensnahe Darstellung der Lage von Muskeln, Sehnen und Knochen, Organen und Gefäßen gibt wiederum der Anatomie neue Anstöße.
Medizinische Szenen in der bildenden Kunst nach 1800 zeigen vor allem auch den Einsatz medizinischer Instrumente. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dienen Patienten schließlich nicht länger als Objekte medizinischer Kunstgriffe. Vermehrt bilden sie den Mittelpunkt der Darstellung. Medizin gilt mehr und mehr auch als menschenfreundliche Kunst. Auch die Literatur beginnt in dieser Zeit aus Patientensicht zu erzählen. Berühmte Ärzte auch dieser Zeit waren wiederum außergewöhnliche Künstler: Albert Schweitzer, führt auf seinen Reisen stets ein Klavier mit sich. Im Jahr 1930 geht der Goethe-Preis für Literatur an Sigmund Freud.
Die Beziehung von Kunst und Medizin ist zeitgenössisch ungebrochen präsent. Auf der Kunstmesse Documenta in Kassel im Jahr 1972 etwa unterzogen sich Freiwillige einem Narkoseexperiment des Künstlers Günther Saree. Im "big sleep" sollten sie die vorübergehende Situation von Vergänglichkeit erfahren. Plastinierte Körper provozieren heute weltweit Diskussionen zum Spannungsfeld zwischen Kunst, Medizin und Ethik. Auch die im Rahmen des 88. Röntgenkongresses ausgestellten Kunstwerke übersetzen die medizinisch-naturwissenschaftliche Auffassung vom Menschen in die individuelle Sprache des Künstlers. Das von Professor Ulrich Mödder und der Thieme Verlagsgruppe ins Leben gerufenen Kunstprojekt knüpft damit an die Jahrhunderte währende und gleichzeitig sehr lebendige Tradition von Medizin und Kunst an.