Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2007; 42(4): 250-258
DOI: 10.1055/s-2007-980026
Fachwissen: Intensivmedizin

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Critical Illness Polyneuropathy und Critical Illness Myopathy. Pathogenese und Diagnostik

Critical illness polyneuropathy and myopathy. Pathogenesis and DiagnosticMarkus Alb, Stephanie Hirner, Thomas Luecke
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Publikationsdatum:
24. April 2007 (online)

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Zusammenfassung

Die 'critical illness polyneuropathy' (CIP) und die Žcritical illness myopathyŽ sind seit der Erstbeschreibung von Bolton et al. zunehmend beachtete Komplikationen bei Intensivpatienten. CIP und CIM, alleine oder in Kombination, treten gewöhnlich bei Patienten auf, die länger als eine Woche auf einer Intensivtherapiestation behandelt werden. Typischerweise zeigen diese Patienten eine muskuläre Schwäche der Gliedmaßen sowie eine erschwerte Entwöhnung vom Beatmungsgerät. Neurologische und elektrophysiologische Untersuchungen sowie Muskelbiopsien bei Verdacht auf eine Myopathy können bei der Identifikation und Charakterisierung von Polyneuropathien und Myopathien helfen.

Summary

Since the first description of Bolton et al., critical illness polyneuropathy (CIP) and critical illness myopathy (CIM) are increasingly observed as a complication in intensive care patients. CIP and CIM commonly occur in patients with an ICU length of stay exceeding one week. Typically, these patients show weakness of the limbs and difficulties in weaning from the respirator. Neurological and electrophysiological examinations as well as muscle biopsies if myopathy is of concern may help to characterize and identify polyneuropathy and myopathy.

Kernaussagen

  • CIP und CIM stellen eine schwere und prognostisch relevante Komplikation bei Intensivpatienten dar. Als wichtige Anzeichen gelten erschwerte Entwöhnung vom Beatmungsgerät sowie eine schlaffe Parese der unteren Extremität. Oft sind die tiefen Sehnenreflexe abgeschwächt oder fehlen ganz.

  • Die exakte Pathogenese der CIP bleibt unklar. Vermutet wird ein enger Zusammenhang mit systemischen Auswirkungen von SIRS und Sepsis, sodass aufgrund einer zellulären und humoralen Antwortreaktion auf die systemische inflammatorische Reaktion im gesamten Organsimus eine Störung der Mikrozirkulation (Verminderung der Nährstoffutilisation) hervorgerufen wird.

  • Ungeachtet vieler histopathologischer Charakteristika kann die CIM in die 3 Haupttypen „Muskelatrophie”, „degenerativ-nekrotische Veränderung” und „selektiver Verlust des dicken Filaments Myosin” unterteilt werden. Diese Typen treten oft gemeinsam auf.

  • SIRS, Sepsis und septischer Schock spielen in der Entwicklung der CIM eine wesentliche Rolle. Diese Verbindung führte zur Hyopthese, dass mikrozirkulatorische Störungen und Entzündungsreaktionen in den Untergang der Motorneuronenintegrität involviert sein müssen.

  • In den letzten Jahren wurden weitere Faktoren wie die Langzeitapplikation von Glukokortikoiden und Muskelrelaxanzien sowie eine hyperglykämische Stoffwechsellage in der Genese der CIM identifiziert.

  • Auch mitochondrale Dysfunktionen unterschiedlicher Ursache stehen im Verdacht, die Muskelerholung und -regeneration nachhaltig zu beeinträchtigen.

  • Die tatsächliche Inzidenz und Mortalität von CIP und CIM sind bis heute nicht bekannt. Unterschiedlichste Patientenkollektive, uneinheitliche Diagnosekriterien bzw. Deklination einerseits, aber auch Untersuchungszeitpunkt und Expertise des Untersuchers andererseits beeinflussen die Diagnose entscheidend.

  • Nervenleitgeschwindigkeit und Nadel-Elektromyographie sind wertvolle und sensitive Diagnoseinstrumente. Veränderungen des Aktionspotenzials können in der Frühphase jedoch oft normal, im Verlauf auch rückläufig sein.

  • Histologisch aufgearbeitete Muskel- und Nervenbiopsien lassen eine erhebliche Diskrepanz zwischen den elektrophysiologischen Befunden und der Histologie erkennen. Dies kann unter anderem auf Zeitpunkt und Lokalisation der Biopsie zurückgeführt werden. Die häufigste Veränderung in histologischen Muskelschnitten ist die Atrophie von Typ-II-Fasern, was einen Beleg für den Innervationsverlust darstellt.

  • Viele Autoren sehen in der aggressiven Therapie von SIRS und Sepsis („Early-goal directed Therapy”) den wichtigsten Bestandteil in der CIP- und CIM-Therapie. Eine intensivierte Insulintherapie mit Blutglukosewerten zwischen 80-110mg/dl konnte die Inzidenz um 44 % reduzieren. Eine weitere Therapieoption in der Behandlung der CIP könnte die intravenöse Gabe von Immunglobulinen darstellen.

Literatur

Dr. med. Markus Alb

eMail: markus.alb@anaes.ma.uni-heidelberg.de

Dr. med. Stephanie Hirner

eMail: stephanie.hirner@anaes.ma.uni-heidelberg.de

PD Dr. med. Thomas Luecke D.E.A.A.

eMail: thomas.luecke@anaes.ma.uni-heidelberg.de