Der Klinikarzt 2007; 36(6): 352
DOI: 10.1055/s-2007-980828
Im Gespräch

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Multimodales Konzept der Intensivmedizin - So viel Analgesie wie nötig, so wenig Sedierung wie möglich!

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Publication Date:
28 June 2007 (online)

 

Michael Tryba, Kassel

Viel stärker als früher richtet sich heute die Analgesie und die Sedierung intensivpflichtiger, beatmeter Patienten an deren individuellen Bedürfnissen aus. An oberster Stelle steht in der Regel eine ausreichende Analgesie. Je länger der Aufenthalt auf der Intensivstation dauert, desto wichtiger werden jedoch die Sedierung zur Abschirmung von traumatischen Maßnahmen und eine Anxiolyse zur Reduktion der psychischen Belastung. Ziel dieser Maßnahmen sind wache, kooperative Patienten. Prof. Michael Tryba, Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie, Klinikum Kassel GmbH, nahm für den klinikarzt Stellung zu den aktuellen Entwicklungen.

? Das Konzept der Analgesie und Sedierung in der Intensivmedizin hat sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Welchen Stellenwert haben Analgesie und Sedierung heute in der Klinik?

Prof. Michael Tryba: In der Vergangenheit haben wir unsere Patienten relativ häufig tief sediert, und es wurde oft versucht, mit der Sedierung Analgesie zu betreiben - was natürlich nicht funktioniert hat. Heute wissen wir um die hohe Bedeutung einer adäquaten Analgesie. Nur wenn ein Intensivpatient - aus welchen Gründen auch immer - eine Bewusstseinsabschirmung benötigt, wird man sich speziell auch um eine ausreichende Sedierung bemühen. Dazu kommen Patienten, bei denen eine Indikation zur Anxiolyse besteht, damit sie die intensivmedizinische Betreuung besser tolerieren. Längerfristig intensivpflichtige Patienten entwickeln zum Teil auch eine exogene Depression. Dann kommen zusätzlich Antidepressiva zum Einsatz, obwohl sie nicht zu den klassischen Analgetika bzw. Sedativa zählen.

Auch die Behandlungsoptionen sind inzwischen wesentlich vielfältiger, weshalb man die einzelnen Therapiekomponenten multimodal angehen kann.

? Welche Bedeutung messen Sie der vegetativen Abschirmung im Rahmen dieses multimodalen Konzepts bei?

Tryba: Wir wissen heute, dass die klassischen Symptome einer vegetativen Entgleisung im Rahmen einer Stressreaktion - also zum Beispiel ein Hypertonus oder Tachykardien - das kardiovaskuläre System des Betroffenen extrem belasten. Gelingt es uns, beispielsweise mithilfe von α-2-Adrenozeptoragonisten solche vegetativen Entgleisungen zu vermeiden, sind wir in der Lage, auch tödliche kardiovaskuläre Komplikationen zu verhindern.

? Welche α-2-Adrenozeptoragonisten setzen Sie in Ihrer Klinik ein?

Tryba: Clonidin ist der klassische α-2-Adrenozeptoragonist, mit dem weltweit die meisten Erfahrungen bestehen, gerade in der Intensivmedizin. In Deutschland ist es der einzige parenteral verfügbare α-2-Adrenozeptoragonist und insofern die Substanz, an der sich alle anderen Optionen messen müssen.

? Eigentlich ist Clonidin nur zur Therapie von Bluthochdruck und bei Alkoholdelir zugelassen. Wo sehen Sie darüber hinaus die Indikation für den Einsatz auf der Intensivstation?

Tryba: Die typischen Indikationen sind hier die Prophylaxe und die Therapie aller Formen eines Delirs - nicht unbedingt nur bei Alkoholikern im klassischen Sinne, sondern vor allem bei Patienten mit chronischem Alkoholkonsum. Indiziert ist die Gabe von Clonidin aber auch bei Patienten, die Substanzen wie Benzodiazepine oder Opiate erhalten, die ebenfalls eine Abhängigkeit induzieren, also bei fast jedem längerfristig beatmeten Intensivpatienten. Bei dem Entzug dieser Analgetika im Verlauf der Weaningphase, kann die Gabe von α-2-Adrenozeptoragonisten mögliche vegetative Reaktionen verhindern.

Weil dies mit einer hohen Regelhaftigkeit geschieht, setzt man Clonidin heute schon frühzeitig ein. Denn mit einer solchen adjuvanten Strategie kann man bis zu 40 % der Opiat- oder Benzodiazepindosierung sparen. Dies ist zum einen wichtig, da zwischen der Dosis der Opiate und der Schwere der Entzugssymptome eine lineare Beziehung besteht. Zum anderen lässt sich so auch das Risiko typischer Nebenwirkungen reduzieren. Natürlich hat dies auch einen ökonomischen Effekt - auch wenn dieser für uns eher von sekundärer Bedeutung ist. Doch praktisch mit jedem Euro, den Sie für einen α-2-Adrenozeptoragonisten einsetzen, können sie etwa das Fünf- bis Zehnfache an Kosten für Analgetika sparen.

Zudem ist Clonidin - besser sogar noch das Ketamin als klassischer Vertreter der NMDA-Antagonisten - in der Lage, eine mögliche Opiattoleranz zu antagonisieren.

? Dieses Vorgehen entspricht den Empfehlungen der im Jahr 2005 veröffentlichten S2-Leitlinien. Können Leitlinienempfehlungen fehlende Zulassungen ersetzen?

Tryba: Natürlich helfen die Leitlinien bei der Argumentation für den Off-label-Einsatz. Denn sie beziehen sich auf die Ergebnisse von Metaanalysen und Studien, welche die Wirksamkeit und Sicherheit auch in nicht zugelassenen Indikationen belegen. Ich denke hier zum Beispiel an die Anästhetika sparenden Effekte. Inzwischen haben Hunderte von Studien belegt, dass der Einsatz von Clonidin in dieser Indikation sicher ist. Hält man sich an solche in der Literatur gut abgebildeten Einsatzgebiete, wird man keine Probleme bekommen.

? Derzeit werden mit den verschiedenen Fachgesellschaften neue S3-Leitlinien zur Analgesie und Sedierung diskutiert. Inwieweit werden diese von den existierenden S2-Leitlinien abweichen?

Tryba: Grundsätzlich unterscheiden werden sich die neuen S3-Leitlinien und die S2-Leitlinien sicherlich nicht. Da sich in der S3-Leitlinie jedoch mehrere Fachgesellschaften wiederfinden sollen, werden einige Aspekte durchaus adaptiert werden müssen.

! Herr Professor Tryba, wir bedanken uns für dieses Gespräch.