Zusammenfassung
Bei Angst und Panik handelt es sich um ein psychophysisches Gesamtgeschehen, bei dem
einmal mehr psychische, einmal mehr körperliche, vegetative Symptomatik im Vordergrund
steht. Insbesondere bei Komorbidität mit chronischen Schmerzen sollte bei Schmerzkrisen
oder depressiven Dekompensationen an catastrophic reactions gedacht werden. Der menschliche
Organismus ist mit der konkreten existenziellen Situation untrennbar verknüpft, seinen
Handlungsmöglichkeiten und Selbstaktualisierungen. Bei 10-20 % aller chronischen Schmerzpatienten
mit Angstzuständen und schweren Depressionen mit Anpassungsstörungen (vor allem von
Frauen) finden sich erhebliche psychophysische Traumatisierungen in der frühen Lebensgeschichte
wie sexueller Missbrauch, Psychoterror und Gewalt oder in der späteren wie zum Beispiel
Mobbing. Der Zusammenbruch gerade angesichts alltäglicher Belastungen ist im Sinne
eines neurobiologischen und neuropsychologischen Geschehens als Katastrophereaktion
einzuordnen. Damit ist ein Hinweis auf Verlust der Fähigkeiten zum „Kategorialen”
gegeben mit der Folge konkretistischer Fixierung. Die Somatisierung ist ein Phänomen
einer solchen existenziellen Einengung auf Konkretistisches. Das hat Konsequenzen
für die Therapie, die den Patienten langsam an die Bewältigung erfüllbarer Aufgaben
heranführen muss und ihn für komplexere Weltbezüge, wie Arbeitssituation, Konflikte
durchzuhalten, neue Beziehungen aufzunehmen, vorzubereiten hat. Wie in der psychotraumatologischen
Behandlung sind der Umgang mit einem neurobiologisch zu verstehenden Geschehen, wie
zum Beispiel der Intrusion, und das sich zurechtfinden in hermeneutisch und ideografisch
zu erschließenden Phänomenen der Existenz mit psychodynamischem Geschehen, untrennbar
miteinander verknüpft. In dieser Lernphase können auch auf dem Boden einer tragfähigen
Arzt-Patient-Beziehung Psychopharmaka hilfreich sein. Damit erlernt der Patient, sein
eigener Arzt zu werden und Dekompensationen, wie der Katastrophenreaktion, vorzubeugen.
Die Katastrophenreaktion geht einher mit vegetativer Krise, Affektdurchbrüchen, Panik
und Angstüberflutung. - Das Organismische Verstehen bietet die Chance, phänomenologisch
vielfältige Krankheitsbilder vom hirnorganisch begründbaren Leiden, über PTBS, Somatisierungsstörungen
bis hin zu vordergründig „rein psychischen” eine anthropologische Basis für Handlungssicherheit
und grundlegende therapeutische Prinzipien zu geben. Die von Kurt Goldstein in der
Behandlung von Hirnverletzten beider Weltkriege in vorbildlicher interdisziplinärer
Zusammenarbeit von Neurologen, Biologen und Psychologen erarbeiteten Konzepte zum
Organismischen beinhalten nicht nur ein für Klinik und Forschung wegweisendes erweitertes
Verständnis von Biologie, sondern auch kritisches Potenzial für eine auf psychogene
Konzepte eingeengte Psychosomatik, mit wichtigen Perspektiven für die Beziehung zur
Psychiatrie.
Abstract
Anxiety and panic states are a pschophysical occurrence by which sometimes more psychical
and other times more physical vegetative symptoms predominate. In particular, in cases
of comorbidity with chronic pain, pain crises or depressive decompensations should
be considered as catastrophic reactions. The human organism is inseparably linked
with the concrete, existential situation, its possibilities of action and self-actualisation.
In 10-20 % of all chronic pain patients suffering from states of anxiety and severe
depression with adjustment disorders (above all women), one will find a considerable
psychopsychical traumatisation in the earlier life history, such as sexual abuse,
psychoterror and violence or in the more recent life history, e. g., mobbing. A breakdown
just in the face of daily stress should be considered as a catastrophic reaction in
the sense of a neurobiolgical and neurophyschological event. Thus, this is the suggestion
for a loss of the categorial ability with the result of a concerete fixation. Somatisation
is the phenomenon of such an existential restriction to concretisation. This has the
consequences for therapy that the patient must slowly be led up to the accomplishment
of the feasible tasks and be prepared to take on more complex affairs suich as working
situations, to withstand conflicts and to enter into new relationships. As in psychotraumatological
treatment, dealing with an occurrence that can be neurobiologically understood, such
as for example, intrusion, and finding one's way in the phenomena of existence with
psychodyamic events that must be encountered hermeneutically and ideographically are
inseparably linked. In this learning phase psychopharmaceutics may be of help on the
basis of a solid doctor-patient relationship. In this way the patient learns to be
his/her own doctor and to guard against decompensations like the catastrophic reaction.
The catastrophic reaction is accompanied by vegetative crises, affect breakthroughs,
panic and anxiety floods. - Organismic understanding offers the chance to provide
an anthropological basis for security of action and fundamental therapeutic principles
for phenomenologically diverse clinical entities to - in principle - “purely psychical”
problems. The concept of organismics developed by Kurt Goldstein in exemplary interdisciplinary
cooperation between neurologists, biologists and psychologists for the treatment of
brain-damaged patients in both World Wars encompasses not only a pioneering and expanded
understanding of biology for clinic and research but also a critical potential for
psychosomatics restricted to psychogenic concepts with important perspectives for
the relationship with psychiatry.
Schlüsselwörter
Angst - Katastrophenreaktion - Organismus - situative Therapie
Key words
fear - catastrophic reaction - organism - situation specific therapy
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Dr. med. Dipl.-Psych. H. Albrecht
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie / Psychosomatische Orthopädie
und Schmerztherapie · HELIOS Klinikum Emil von Behring
Walterhöferstr. 11
14165 Berlin
eMail: helmut.albrecht@helios-kliniken.de