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DOI: 10.1055/s-2007-984999
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Psychiatrische Begutachtung - neues Buch zu einem wichtigen Thema
Publication History
Publication Date:
03 July 2007 (online)
Das ärztliche Begutachtungswesen hat in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen und unter den medizinischen Fächern stellt sich für die Psychiatrie diese Aufgabe in besonderem Maße: Psychische Störungen haben eine hohe Prävalenz, sie können durch Verhaltensauffälligkeiten zu Problemen im öffentlichen Raum führen und werden dann in den juristischen Rahmen der Delinquenz gestellt und schließlich sind psychische Störungen bei Frauen mittlerweile die häufigste, bei Männern die dritthäufigste Ursache einer Berufsunfähigkeit. Insofern verdient die Neuerscheinung eines Buches zur psychiatrischen Begutachtung Aufmerksamkeit.
"Begutachtung psychischer Störungen" ist von dem Psychiater Frank Schneider gemeinsam mit den Juristen Helmut Frister und Dirk Olzen herausgegeben worden. In ihrem Vorwort nennen die Autoren die Begutachtung von Patienten mit psychischen Störungen die "Königsdisziplin" der Psychiatrie und äußern sich zu dem Anspruch des Buches: Es soll ein Praxisleitfaden für Ärzte und Psychologen sein, es soll aber auch Juristen den notwendigen Hintergrund vermitteln.
Das Buch gliedert sich dann in 13 Einzelkapitel; eigentlich sind es aber 2 Teile, nämlich das erste Kapitel mit dem Titel "Grundlagen psychiatrischer Begutachtung" und die 12 folgenden Kapitel, von denen sich jedes einzelne einem juristischen Thema zuwendet, mit dem ein Sachverständiger konfrontiert sein kann, so u.a. "Schuldfähigkeit und Verantwortlichkeit", "Einwilligungsfähigkeit und Betreuungsrecht", "Geschäfts- und Testierfähigkeit", "Transsexuellengesetz", Gefährlichkeitsprognosen", "Renten- und Entschädigungsleistungen".
Das Kapitel "Grundlagen..." wird bei dem ärztlichen Leser besondere Aufmerksamkeit finden: Es macht ihn zuerst mit Kontext und formalen Aspekten der gutachterlichen Tätigkeit vertraut, seiner Verantwortung und seinen juristischen Pflichten, der Vergütung etc. Es folgt dann ein knapper Abschnitt "Psychopathologie" mit einer anschliessenden psychiatrischen Symptomkunde, die den juristischen Leser über die psychopathologischen Einzelbefunde informiert. Zur Erfassung der Psychopathologie wird an dieser Stelle darauf verwiesen, dass eine "freie, oft weniger systematische Erfassung der Psychopathologie fehlerbehaftet ist", weshalb sich psychometrische Verfahren zunehmend durchsetzen. Es wird dann noch auf das Interview hingewiesen, gefolgt von einer Checkliste für die Anamneseerhebung und Checklisten der Organ-/Funktionssysteme der internistischen und der neurologischen Untersuchung. Laboruntersuchungen und bildgebende Verfahren sind beschrieben und breiten Raum erhalten testpsychologische Leistungstests und psychometrische Persönlichkeitstests, den die Autoren einen "bedeutenden Stellenwert" beimessen möchten. Ihr Einsatz brächte "einen deutlichen Informationsgewinn, und es steigt die Sicherheit der klinischen Diagnose".
In den 12 sich anschließenden Kapiteln kann sich der Leser dann umfassend über die vielfältigen juristischen Themen informieren: Er findet hier gute Informationen über den juristischen Zusammenhang und Hintergrund, auch mit einem erläuternden rechtsphilosophischen Schlaglicht, das für den Nicht-Juristen erhellend sein kann. So ist beispielsweise zur forensisch relevanten Frage der Schuldfähigkeit eine Inhalts- und Begriffserklärung gegeben, die die Problematik der Willensfreiheit erwägt und dann den juristischen Begriff der Schuldfähigkeit als "formale Willensbildungsfähigkeit" veranschaulicht. Danach erfährt man, was mit den rechtsterminologischen Zustandsbeschreibungen der "krankhaften seelischen Störung", der "tiefgreifenden Bewusstseinsstörung", des "Schwachsinns" und der "schweren anderen seelischen Abartigkeit" gemeint ist, mithin, wie der Gutachter sein psychiatrisches Untersuchungsergebnis und die medizinische Diagnose übersetzen kann. Alle Kapitel sind mit weiterführenden Literaturhinweisen versehen, die Ausführungen sind mit beispielhaften Kasuistiken illustriert.
Wenn die Autoren in ihrem Vorwort die Begutachtung als Königsdisziplin der Psychiatrie bezeichnen, so drücken sie damit aus, dass das Erstellen von Gutachten hohe Anforderungen stellt, und sie sprechen die Notwendigkeit eines Brückenschlags zwischen Psychiatrie und Rechtswissenschaft an. In dieser Hinsicht leistet das Buch einen hilfreichen Beitrag. Die Lektüre der gut strukturierten und verständlich verfassten 12 Einzelkapitel zu unterschiedlichen juristischen Themenbereichen vermittelt dem Neuling auf dem Feld der Begutachtung breite Informationen und dem Erfahrenen vertiefte Kenntnisse. Dass dabei der Schwerpunkt auf den forensischen Aspekten liegt, wird der Realität der Begutachtungslandschaft aber nicht ganz gerecht: Der Großteil der Gutachtensaufträge stellt doch sozialversicherungsrechtliche Fragen und die meisten hauptamtlich als Gutachter tätigen Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sind Angestellte privater oder öffentlicher Versicherungen: Diese Materie ist in dem Buch aber deutlich knapper berücksichtigt als die forensischen Themenkreise. Dabei sei auch darauf hingewiesen, dass Strafrechtsgutachten für spektakuläre Fälle zwar gelegentlich kurzfristig viel Aufmerksamkeit auf sich lenken können, dass aber sozialmedizinisch/-rechtlichen Gutachten im Kontext unserer sozialstaatlich verfassten Gesellschaft eine anhaltend hohe Relevanz zukommt und die Zusammenhänge zwischen der gutachterlichen Praxis und der aktuellen sozialpolitischen Situation eng sind. Insofern werden sich manche Leser eine stärkere Berücksichtigung der sozial- und versicherungsmedizinischen Gutachtensarbeit und eine Reflexion ihrer Bedeutung wünschen.
Aber die sogenannte Königsdisziplin der Begutachtung stellt an den Psychiater doch auch noch eine andere Anforderung: Die Autoren erwähnen zwar kurz, dass das gutachterliche Untersuchungssetting ein anderes ist als die Begegnung von Arzt und Patient im kurativen Setting, sie deuten aber damit das nur gerade einmal an, was für viele Ärzte den Einstieg in die gutachterliche Praxis so fremd und schwierig macht: Bei dem Erstellen einer gutachterlichen Stellungnahme geht es eben nicht darum, im gewohnten ärztlichen Denk- und Handlungsstil zügig und zielorientiert zu einer klassifizierenden Diagnose zu gelangen, die nur den Weg zu einer Therapie öffnen soll, um dem Patient zu helfen. Vielmehr sollte am Ende des gutachterlichen Prozesses ein differenziert abgewogenes, umfassend begründetes und vor allem breit diskutiertes Expertenurteil stehen, das auf jegliche Verkürzung verzichtet, jede Unklarheit einbezieht und stilistisch und sprachlich auch für den nicht-medizinisch beschlagenen Leser verständlich und nachvollziehbar ist. Deshalb erfordert die gutachterliche Arbeit von dem Arzt einen anderen Denkansatz und eine andere Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen seines Fachgebietes. Eine entsprechende Methodologie enthält das Buch von Schneider, Frister und Olzen nicht.
Aber auch bezüglich der Technik der gutachterlichen Befunderhebung bleibt etwas offen. Der Einsteiger in die Materie könnte nach dem Studium des Buches den Eindruck gewinnen, dass testpsychologischen Verfahren für jedes Gutachten ein absolut zu setzender hoher Wert beizumessen ist. Der Leser vermisst hier die kritische Problematisierung dieser Instrumente und ihrer Ergebnisse: Es ist unbestritten, dass testpsychologische Verfahren wertvoll sein können, aber doch nur vorausgesetzt, ihr Einsatz erfolgt mit einer klaren Indikation, umschriebenen Fragestellung und Kenntnis der Limitierungen.
Das Buch hätte hier auch gewonnen, wenn es die anspruchsvolle und bewährte gutachterliche Untersuchungstechnik eines psychiatrischen Interviews angemessen dargelegt hätte, mit seinen vielfältigen Möglichkeiten für die Erhebung differenzierter und fundierter Befunde, die durchaus zu juristisch verwertbaren und richterlich anerkannten Expertenurteilen führen. Denn schliesslich bleibt das psychiatrische Interview ja überhaupt die einzige Methode, die im Ansatz dem Anspruch gerecht werden kann, den Probanden in seiner Komplexität und Individualität umfassend zu verstehen (im Sinne von Jaspers und Dilthey) und gerecht zu werden. Diesem Anspruch liegt allerdings ein bestimmtes erkenntnistheoretisches Konzept der Psychiatrie zugrunde. In ihrem Buch behandeln die Autoren die wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Horizonte und Traditionen der Psychiatrie nicht und stellen auch ihren eigenen Standpunkt nicht heraus. Um als Gutachter, Jurist oder Gutachtensauftraggeber abschätzen zu können, was von einem psychiatrischen Gutachten überhaupt erwartet werden darf und was nicht, ist aber eine orientierende Kenntnis der theoretischen Konzeptualisierung psychischer Störungen in der Psychiatrie notwendig.
Insgesamt ist das Buch von Schneider, Frister und Olzen eine interessante, gut lesbare und inhaltsreiche Ergänzung des auf dem Buchmarkt verfügbaren Angebots von Fachbüchern zur psychiatrischen Begutachtung.
Philipp Portwich, Luzern
Email: Philipp.portwich@suva.ch
Schneider F, Frister H, Olzen D. Begutachtung psychischer Störungen. Heidelberg: Springer Medizin Verlag, 2006, 388 Seiten, 69,95 €