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DOI: 10.1055/s-2007-985000
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Requiem (Regie: Hans Christian Schmid, Deutschland 2005)
als DVD erhältlich (EAN: 7321921981531, Erschienen bei: Warner Home Video)Publication History
Publication Date:
03 July 2007 (online)
Der auf Tatsachen beruhende Film schildert das letzte Lebensjahr der 21-jährigen angehenden Lehramtsstudentin Michaela. "Etwas" hindert sie, "ihren Weg zu machen": Nach Tübingen zum Studieren gehen und damit heraustreten aus der Muffigkeit und Enge ihres schwäbischen Heimatdorfes und dem Bannkreis einer von fundamentalistischer Religiosität und beengender "Rechtschaffenheit" durchdrungenen Familienkultur. In deren Zentrum steht eine auf ambivalente Weise zugleich nah und fern erlebte Mutter, die die Autonomiebestrebungen der Tochter teils offen, teils subtil behindert. Sie umringt und belagert sie, macht sich Sorgen, kann die Grenzen der Tochter aus diesen Sorgen heraus nur schwer respektieren, möchte für sie entscheiden und handeln - aber hinter ihr stehen und ihr Halt geben, kann sie nicht. Michaela fühlt sich bald von nichts und niemandem mehr gehalten.
Das Unheilbringende "Etwas" bleibt zunächst vage: Es hat zu Beginn die Gestalt von epileptischen Anfällen, dann immer mehr die einer paranoiden Schizophrenie. Deutungsschemata treffen widerstreitend sowohl in Michaela als auch in ihrem Umfeld aufeinander: Die einen sehen in Michaelas Not die Krankheit und damit die psychiatrische Behandlungsnotwendigkeit, die anderen die Besessenheit, von der nur der Exorzist Erlösung verspricht. Michaela "entscheidet" sich für die Deutungsoption der Besessenheit. Geisteskrank möchte sie nicht sein: Man wird nicht mehr für voll genommen und quält sich von Medikationsversuch zu Medikationsversuch und kämpft irgendwann mehr gegen die Nebenwirkungen der Medikation als die vermeintliche Erkrankung, so Michaela im Gespräch mit einer Kommilitonin.
Ihre "Entscheidung" bezahlt sie mit ihrem Leben: Sie verstarb - nicht mehr Teil des Films, sondern im Abspann zu lesen - nach mehreren Dutzend Exorzismen an Mangelernährung im Haus ihrer Eltern.
Die Hauptdarstellerin Sandra Hüller wurde für ihre beeindruckende Leistung auf der Berlinale 2006 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Sehenswert ist der Film auch wegen der behutsamen Schilderung der Ereignisse. Reißerische Szenen, wie sonst in Psychiatrie-Filmen nicht unüblich, werden vermieden. Umso mehr löst dieser Film auch in unserer Zeit Beklemmung aus. Er erinnert uns an die immer wieder auftretende Hilflosigkeit der Professionellen in der Auseinandersetzung mit bestimmten "Verläufen", wenn "kein Fuß in die Tür zu bekommen" ist und nichts zu greifen scheint: das therapeutische Angebot wird vom Betroffenen als nicht hilfreich erlebt oder aus irgendwelchen Gründen nicht angenommen. Diese Hilflosigkeit gilt es - fern ab allen Machbarkeitsdenkens - anzuerkennen und auszuhalten.
Matthias Krüger, Friedrichshafen