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DOI: 10.1055/s-2007-985810
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Störungen der Laut- und Schriftsprache im Kontext von Mehrsprachigkeit
Disorder of Phonetic and Literary Language in the Context of Multilinguistic AbilityPublication History
Publication Date:
03 December 2007 (online)
Sprache besitzt der Mensch seit etwa 100.000 Jahren. Sie ermöglicht eine differenzierte Kommunikation, doch setzt diese gegenseitiges Verstehen voraus. Auf der Welt werden gegenwärtig etwa 6.500 Sprachen benutzt und diese Sprachenvielfalt ist nicht nur ein kultureller Schatz, sondern auch ein schwer zu überwindendes Kommunikationshindernis. Der Turmbau zu Babel symbolisiert die Folgen des Sprachwirrwarrs und zeigt, dass bei Kommunikationsbarrieren die großartigsten Projekte zum Scheitern verurteilt sind. Ein Ausweg schien die Schaffung einer Einheitssprache, wie z. B. Esperanto, doch konnten sich im Labor konstruierte Sprachen nicht durchsetzen. Sprache ist etwas Lebendiges und lässt sich nicht durch ein Kunstgebilde austauschen. Mehrsprachigkeit ist bislang der einzige Weg, um eine interkulturelle Verständigung zu ermöglichen.
Das Erlernen einer fremden Sprache ist seit alters her für Einwanderer eine Notwendigkeit und Voraussetzung für ein Gelingen der Integration in die neue Umgebung. In Deutschland leben mehr als 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund und für 10% aller Kinder ist nicht Deutsch, sondern eine andere Sprache die Muttersprache. Die Gefahr gesellschaftlicher Verwerfungen infolge eines ungenügenden Erlernens der Landessprache durch große Teile der Migranten ist in letzter Zeit einer breiten Öffentlichkeit bewusst geworden. Seither wird möglichen Gründen für ein Misslingen von Mehrsprachigkeit nachgegangen und nach Auswegen insbesondere auch für die Kindergeneration gesucht.
Mehrsprachigkeit ist in unserer zunehmend vernetzten Welt aber nicht nur eine Anforderung an Einwanderer. Das Beherrschen einer oder mehrerer Fremdsprachen ist für viele Arbeitsplätze unverzichtbar geworden. Dementsprechend forderten die Regierungs- und Staatschefs 2002 auf dem Europäischen Rat in Barcelona, dass in allen EU-Ländern ab dem frühen Kindesalter mindestens zwei Fremdsprachen unterrichtet werden. Um eine Verbreitung fundierter Fremdsprachkenntnisse in der Praxis tatsächlich zu erreichen, wurde Anfang 2007 in der Europäischen Kommission ein separater Zuständigkeitsbereich „Mehrsprachigkeit” gegründet und vorgeschlagen, nationale Aktionspläne zur Förderung von Mehrsprachigkeit zu verabschieden. Bei allem Bemühen wird man allerdings der Aufforderung Goethes kaum gerecht werden, der verlangte: „Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zuhause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause ist.” Was diese generelle Forderung nach Mehrsprachigkeit für Kinder mit einer Sprachentwicklungs- oder einer Lese-Rechtschreibstörung bedeutet, ist bislang allerdings kaum diskutiert worden.
Mehrsprachigkeit kann auch scheitern, wie Sprachtherapeuten seit langem wissen. Ihnen werden überproportional häufig mehrsprachig aufwachsende Kinder vorgestellt und sie müssen entscheiden, ob mangelnde Deutschkenntnisse durch einen zu geringen Kontakt zur deutschen Sprache zu erklären sind oder eine individuelle Sprachschwäche das Erlernen der Zweitsprache erschwert. Im ersteren Fall ist eine intensive Sprachförderung und im zweiten eine Sprachtherapie erforderlich. Wie eine Differenzierung zwischen umfeldbedingten unzureichenden Sprachkenntnissen und Sprachentwicklungsstörung erfolgen soll und welche Besonderheiten in der Sprachtherapie mehrsprachig aufwachsender Kinder zu beachten sind, dazu liegen bislang aber kaum empirisch begründete Empfehlungen vor.
Die Forschung hat Fragen von Entwicklungsstörungen der Laut- und Schriftsprache im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit bislang weitgehend ignoriert. Mehrsprachiges Aufwachsen galt und gilt in den meisten Studien bei der Zusammenstellung von Untersuchungsgruppen als Ausschlusskriterium. Erst in den letzten Jahren wurden Forschungsprojekte initiiert, die sich speziell mit Besonderheiten des Zweitspracherwerbs bei Kindern mit einer umschriebenen Sprachentwicklungs- bzw. Lese-Rechtschreibstörung auseinandersetzen.
In diesem Heft geben namhafte Wissenschaftler einen Überblick über den gegenwärtigen, allerdings noch recht lückenhaften Wissensstand zu Störungen des Erwerbs der Laut- und Schriftsprache im Kontext von Mehrsprachigkeit. Die Beiträge beruhen auf Vorträgen, die am 10.3.2007 in München auf dem 13. kinder- und jugendpsychiatrischen Frühjahrssymposium über Entwicklungsstörungen gehalten wurden.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. W.v. Suchodoletz
Abteilung für Entwicklungsfragen der
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Psychosomatik und Psychotherapie
der Ludwig-Maximilians-Universität
Waltherstr. 23
80337 München
Email: suchodoletz@lrz.uni-muenchen.de