Psychother Psychosom Med Psychol 2007; 57(11): 409-410
DOI: 10.1055/s-2007-986209
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Deutschen sind die dicksten Europäer

Germans are the Fattest People in EuropeMartina  de Zwaan1 , Stephan  Herpertz2
  • 1Psychosomatische und Psychotherapeutische Abteilung, Universitätsklinikum Erlangen
  • 2Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, LWL-Klinik Dortmund, Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum
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Publication Date:
19 October 2007 (online)

Prof. Dr. med. Martina de Zwaan

Prof. Dr. med. Stephan Herpertz

Übergewicht (BMI ≥ 25 kg/m2) und Adipositas (BMI ≥ 30 kg/m2) nehmen dramatisch zu und sind zu einer weltweiten Epidemie geworden. Als besonders problematisch ist die stetige Zunahme der Adipositas bereits im Kindes- und Jugendalter zu bewerten.

Im April diesen Jahres gingen die Ergebnisse einer Zusammenstellung der International Association for the Study of Obesity [1] durch die Presse, da diese zu belegen schienen, dass die Deutschen die dicksten Europäer seien und mit den USA im globalen Vergleich gleichauf liegen würden. Nach den veröffentlichten Daten sind 52,9 % der Männer und 35,6 % der Frauen als übergewichtig und weitere 22,5 % der Männer und 23,3 % der Frauen als adipös einzustufen. Zusammengefasst sind 75 % der Männer und 59 % der Frauen in Deutschland zu dick. Obgleich die Studie einige methodische Mängel aufweist (die Daten aus Deutschland stammen etwa aus den Jahren 2002/2003, wurden nicht nach Alter standardisiert und beruhen auf Eigenreport), zeigt sie doch das erschreckende Ausmaß des Problems in Europa auf. Sechs Prozent der Ausgaben der Gesundheitssysteme in der EU gehen auf Krankheiten zurück, bei denen Übergewicht und Adipositas ätiologisch Einfluss nehmen. Das Europaparlament hat sich nun mehrheitlich dafür ausgesprochen, Adipositas als chronische Krankheit anzuerkennen [2].

Trotz einer unüberschaubaren Menge an Gesundheits- und Diätratgebern, trotz einer Vielzahl auch wissenschaftlich fundierter Behandlungsstrategien der Adipositas ist der mittel- bis langfristige Erfolg konservativer Adipositasbehandlungen unzureichend. Nur 15 % aller Menschen mit Adipositas Grad 1 und Grad 2 (BMI 30 - 40 kg/m2) ist in der Lage, über mehr als fünf Jahre das reduzierte Körpergewicht zu halten. Eine Adipositas Grad 3 (BMI ≥ 40 kg/m2) gilt zumindest konservativen Verfahren gegenüber als therapierefraktär. Diese Zahlen unterstreichen die Bedeutung der Adipositas als chronische Krankheit, deren Behandlungsziel in der Regel nicht die Heilung, sondern die Verlangsamung des Krankheitsprozesses verbunden mit einer deutlichen Steigerung der Lebensqualität ist. Die Behandlung einer chronischen Krankheit ist allenfalls so lange „erfolgreich” wie die Maßnahme besteht, dies gilt in der Regel auch für die Psychotherapie. Selbst die psychotherapeutische Behandlung der „Binge-Eating”-Störung, die in der Regel mit Übergewicht oder Adipositas einhergeht zeigt keine befriedigenden Langzeiteffekte im Hinblick auf das Körpergewicht. Dies überrascht umso mehr, da die Psychotherapie nicht nur die Essstörung, sondern auch anderes psychisches Leiden dieser adipösen Menschen sehr wohl erfolgreich verändern kann. Wie jede komplexe chronische Erkrankung ist die Adipositas multifaktoriell bedingt, bei der genetische wie auch Umwelteinflüsse eine große Rolle spielen und sich gegenseitig verstärken. So sind die einzigen robusten Prädiktoren für den Gewichtsverlauf von Kindern das Gewicht der Eltern und die sozioökonomische Schicht, der sie angehören, einschließlich ihres Bildungsgrads. Zweifelsohne ist der Grund für die enorme Zunahme der Adipositas in den Industrienationen und sogenannten Schwellenländern sehr viel komplexer und reicht von der bekannten Überernährung und Bewegungsarmut über den wachsenden Medienkonsum hin zu veränderten Familienstrukturen und Geschlechterrollen. Komplexität zieht zwangsläufig Spezialisierung und partikulares Wissen nach sich mit der Gefahr, den Blick für das Ganze, im Falle der Adipositas, die sozio-psycho-biologische Sichtweise zu vernachlässigen und monokausalen Erklärungsmodellen Vorschub zu leisten (z. B. genetischer Determinismus vs. psychogene Adipositas).

Trotz der Dringlichkeit erfolgreicherer Behandlungsstrategien der Adipositas darf die Notwendigkeit der Prävention nicht vergessen werden. Vergleichbar mit der Umweltschutzdebatte geht es um die Frage, welchen Preis wir für die ohne Zweifel erlangten Vorzüge einer hochtechnisierten Umwelt zahlen wollen. Im Hinblick auf die pandemischen Ausmaße der Adipositas dürfte deutlich werden, dass eine ausschließlich individuumszentrierte Sichtweise wenig auszurichten vermag [3]. Die Adipositas als Gesellschaftsproblem erfordert sicherlich neben einer Veränderung des Verhaltens eine Veränderung der Verhältnisse.

Das Thema Adipositas hat auch Eingang in die „Psychofächer” gefunden. Immer häufiger begegnen wir übergewichtigen oder adipösen Patienten mit ihren medizinischen Folgeerkrankungen und Selbstwertproblemen. Von daher ist es erfreulich, dass die Herausgeber dieser Zeitschrift das Schwerpunktthema „Adipositas” gewählt haben und entsprechende Forschungsarbeiten vorgestellt werden können. Hilbert und Czaja aus Marburg beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit problematischem Essverhalten im Kindesalter. So scheinen Essanfälle im Kindesalter nicht selten vorzukommen, allerdings liegt eine allgemeingültige Definition noch nicht vor. Becker, Rapps und Zipfel aus Tübingen fassen die Literatur zur Psychotherapie bei Adipositas zusammen. Legenbauer, Burgmer, Senf und Herpertz aus Bochum-Dortmund stellen ausgewählte Ergebnisse ihrer 4-Jahres-Katamnese von normalgewichtigen und adipösen Menschen mit und ohne Gewichtsreduktionsmaßnahmen vor. Im Rahmen einer repräsentativen Studie untersuchen Wiltink, Weber und Beutel aus Mainz die psychische Komorbidität adipöser Menschen. Schließlich beschreiben Rein, Mühlhans und de Zwaan erstmals im deutschsprachigen Raum das Syndrom des abendlichen/nächtlichen Essens und stellen eigene Daten bei Patientinnen und Patienten vor chirurgischer Adipositastherapie vor.

Literatur