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DOI: 10.1055/s-2007-991585
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Überlegungen zu Versorgungsangeboten für psychisch kranke Migranten
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
08. Oktober 2007 (online)
Die Versorgungsangebote für psychisch Kranke aus sprachfremden Kulturen (Migranten) müssen sich nach den lokalen Gegebenheiten und nach den Bedürfnissen der betroffenen Patienten richten.
Die lokalen Gegebenheiten: was ist an Angeboten da: Ambulatorien, Polikliniken, spezielle Fachstellen (z.B. häusliche Gewalt, Alkohol, Drogen), nötigenfalls in Klinikabteilungen. Diese regionalen Angebote sind u.E. zuständig für die Betreuung, müssen aber flexibel ergänzt werden durch Dolmetscherdienste, kulturinformierte Beratung und fallbezogene Supervision.
Diese regionalen Angebote mit den genannten Zusatzdiensten haben u.E. den Vorteil, dass sie der Gefahr der Ghettoisierung der Klientel in Sonderinstitutionen vorbeugen. Ziel bleibt ja die Integration der Migranten und nicht die Isolierung. In Ländern mit großen kulturfremden Populationen (wie die USA) sind z.T. eigene Einrichtungen für deren Patienten mit eigenem kulturidentischem Personal geschaffen. Das fördert aber die Isolation dieser Volksgruppen.
Die Bedürfnisse der Migranten sind:
Verständigung, d.h. sich in seinen Anliegen, Nöten, Konflikten, Beschwerden in der eigenen Sprache (allenfalls einer geläufigen Fremdsprache) verständlich mitteilen zu können, spontan und auf Befragung. Verständigung heißt aber auch: vonseiten des Fachpersonals (Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Pflege) ausreichend verbindlich, tragend, aufklärend, informativ in ein Gespräch einbezogen zu werden. Dazu braucht es allenfalls Übersetzer, die im optimalen Fall (z.B. als Ethnologen, Ethnopsychiater, Ethnopsychologen) auch ihr Fachwissen einbringen können. Toleranz und Flexibilität: Diese Fachpersonen sollten so tolerant und flexibel sein, dass sie auch der zusätzlichen Konsultation des Patienten bei kulturinhärenten Heilpraktikern, Priestern, auch schamanenähnlichen Funktionsträgern zustimmen können. Solche werden hierzulande z.B. oft von islamischen Patienten aus den Balkanländern aufgesucht - deren spiritualistisch-magische Heilpraktiken sprechen evolutionär ältere Kulturschichten des Patienten an und können hilfreich sein. Die Aufgabe des Behandlungsteams ist dann, einen inkompatiblen Kulturcrash mit krisenhafter Exazerbation zu vermeiden - wozu Kulturschichtwissen, Empathie und "transkulturelle Duldsamkeit" gehören. Zum tolerant-flexiblen Umgang mit solchen Patienten gehört auch die Familie, der Umgang mit ihr, Einbezug von ihr, kulturangepasste Aufklärung und Beratung, Stützung. Über diese Grundanliegen hinaus brauchen psychisch kranke Migranten je nach ihren Beschwerden, Behinderungen, Leiden, ihrer Dysfunktionalität, Fachspezifische Untersuchung, Diagnostik und Therapieangebote. Die Diagnosestellung allein ist oft schon schwierig, wo nicht nur von der Fremdsprache her Schwierigkeiten der Verbalisierung der Selbsterfahrung des Patienten bestehen - in Kulturen, in denen Psychisches, Gefühle, Konflikte kaum der Introspektion und Verbalisierung zugänglich sind. Da können Körperbeschwerden mannigfacher und wechselnder Art vorgebracht werden, "hinter" denen dann das "eigentliche" Problem verborgen bleibt. Taktgefühl, empathisch gesteuerte Informationserhebung sowie ein Grundwissen von der kulturinhärenten Gewichtigkeit mythisch-magischer Krankheitsdeutungen (z.B. gut oder böswilliger Ahnengeister, schwarze Magie u.Ä.) und Symbolik des Ausdruckes braucht die Fachperson - oder sie muss offen dafür sein, sich dieses Wissen durch Konsultation mit Ethnologen, ethnologisch informierten Kollegen zu holen.
Die Therapieangebote müssen die von der Persönlichkeit wie ihrer Pathologie bestimmte Bedürftigkeit und Zugänglichkeit (need adapted treatment), aber auch die kulturinhärenten Vehikel und Strategien zu einer Veränderung zum Besseren einbeziehen (z.B. auch symbolische Körperarbeit). Gespräche und Medikamente allein sind da oft nicht ausreichend. Rituale, Amulette, Wallfahrt, Gebete, Opfer, Beschwörung, weiße (apotropäische) Magie u.Ä. darf zugelassen und einbezogen werden.
All dies sollte u.E. in einer multikulturellen Gesellschaft von den Fachstellen der psychiatrischen Versorgung geleistet werden - und sollte nicht an Sonderstellen delegiert werden, die die soziale Abschirmung der Migranten fördern.
Unser Vorschlag braucht viel Flexibilität und Toleranz aufseiten des Behandlungsteams: flexibel auf Bedürfnisse und Zugänglichkeit der Migranten antworten, tolerant gegenüber deren Glauben, Aberglauben, mythischem Weltbild, Magie mit den dieser Kulturschicht entsprechenden Heilern. Diese mythisch-magische Kulturschicht kann überdeckt sein von einer nur "dünnen" Adaptation an die Vorstellungswelt der Gastländer. Im Idealfall werden mythisch-therapeutische Funktionsträger zur Kooperation gewonnen - statt sie misstrauisch oder abwertend zu bekämpfen oder ihr Wirken in einem "dissoziierten" Dunkel zu lassen.
Im Fall von Poltergeistwirkungen durch übelwollende Geister von Verstorbenen mit Störungen, sogar Selbstverletzungen in somnambulen Bewusstseinszuständen, mit Illusionen, Halluzinationen ist die Missdeutung als paranoid-halluzinatorische Psychose (und die Reflexantwort von Neuroleptika und Hospitalisation) zu beobachten. Stattdessen kann das Denkmodell von besonderen Bewusstseinszuständen, Subselves (dissoziierte Zustände und/oder Funktionen) in bildhafter Vermittlung (Haus mit besonderen Räumen, mehreren Stockwerken) dem therapeutischen Brückenschlag zur Integration des "Materials" und der Kräfte aus älteren Kulturschichten dienen. So werden Verständnishilfen, Angstabbau, Readaptation - und damit Remission vermittelt.
Dr. med. René Bridler
Zentrum für Gemeinde- und Familienpsychiatrie Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Heliosstraße 32
8029 Zürich, Schweiz
eMail: r.bridler@puk.zh.ch