Aktuelle Dermatologie 2008; 34(1/02): 45-51
DOI: 10.1055/s-2007-995559
Von den Wurzeln unseres Fachs

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Weichselzopf - Krankheit, Aberglaube, Charakterprofil und Erinnerungskultur

The Elflock-Disease, Superstition, Character Profile and Remembrance CultureR.  Möhn
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Publication Date:
10 March 2008 (online)

Zusammenfassung

Die Ärzte früherer Jahrhunderte haben aus einer spontanen, im Verlauf der unterschiedlichsten Erkrankungen, zusätzlich mit Infektionen aller Art, mangelhafter Hygiene und Verlausung auftretenden Haarverfilzung eine Krankheit sui generis gemacht, die sog. Weichselzopfkrankheit. Das Erscheinen eines mehr oder weniger prächtigen Zopfes war zwar ein schwerer Schicksalsschlag, wurde aber andererseits häufig nicht ungern gesehen, da man glaubte, der Zopf diene der Ausleitung schlechter Körpersäfte und ein ungestörtes Wachstum führe später zur Heilung von schwerer Krankheit. Ein Abschneiden in der Blütephase war daher streng verboten und man versuchte sogar, sich künstlich einen Zopf zu verschaffen. Ursächlich spielten abergläubische Vorstellungen mit Zauberei und Hexerei eine große Rolle, finstere Mächte aber auch gute Geister hatten ihre Hand im Spiel. Der Weichselzopf war jedoch nicht nur ein medizinisches Thema und ein Gegenstand des Aberglaubens, sondern er diente auch zur Schärfung des Charakterprofils mit Demonstration von Überlegenheit und Machtanspruch. Das wichtigste Ziel dieses Beitrages ist es, noch eine vierte Dimension des Themas herauszuarbeiten, nämlich das überaus häufige Vorkommen in Polen nicht medizinisch, sondern als ein Stück spezifisch nationaler Erinnerungskultur zu deuten.

Abstract

The phenomenon of matted hair which appeared spontaneously in the course of different illnesses combined with all sorts of infections, poor hygiene and infestation with lice, namely the so-called elflock disease, was made a disease „sui generis” by the doctors of earlier centuries. The appearance of a more or less gorgeous elflock was on the one hand a severe blow of fate, on the other hand it was often not altogether undesirable, because it was believed that the elflock provided an exit for bad juices out of the body and an unhampered growth would eventually lead to the cure of a serious illness. Cutting off the elflock in its prime was therefore strictly forbidden and people even tried to acquire an artificial one. Superstitious attitudes of sorcery and witchcraft played a fundamental role, dark forces as well as good spirits were involved. However the elflock was not only an issue of medicine or superstitition, but it was also a means of sharpening the character profile with the demonstration of superiority and claim to power. The aim of this essay is primarily to emphasize a fourth dimension of the topic, namely to interpret the widespread appearance in Poland not as a medical phenomenon but as an element of a specifically national remembrance culture.

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Dr. med. Rudolf Möhn

Arzt für Hautkrankheiten und Allergologie

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