PPH 2008; 14(3): 136-137
DOI: 10.1055/s-2008-1027544
Angehörige

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Glückliche Tage

W. Rothweil
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Publication Date:
20 June 2008 (online)

Glückliche Tage gibt es eher selten, bei gesunden und seltener noch bei psychisch kranken Menschen. Aber es gibt sie. Freilich sind die weniger guten Tage meist häufiger. Meine beiden erwachsenen Kinder, Tochter und Sohn, leiden beide an einer chronisch psychischen Krankheit, mein Sohn seit 16 Jahren, meine Tochter seit 15 Jahren. Obwohl beide die gleiche Krankheit haben, wirkt sie sich doch unterschiedlich aus. Während meine Tochter S. unter starken, oft diffusen Ängsten leidet und unter sehr unangenehmen Zwängen, wird mein Sohn F. von starker Unruhe und häufigen Blickkrämpfen (Nebenwirkungen der Medikamente) geplagt. S. hat große Ängste, unter Leute zu gehen (sie spricht selbst von ihrer Sozialphobie), dies vermehrt seit ihrem letzten Klinikaufenthalt vor zehn(!) Jahren. Außerdem ist sie oft hilflos ihren Zwängen ausgeliefert, von denen sie zwar vom Kopf her weiß, dass die meisten unrealistisch sind, trotzdem lassen sie sich nicht abstellen. Erst wenn ein neuer Zwang auftaucht, tritt der vorherige zurück, kann aber jederzeit wiederkommen. F. hat diese Zwänge und Ängste nicht, ist aber oft so unruhig, dass er es nirgends lange aushalten kann. Vor ein paar Jahren konnten wir noch manchmal ins Kino gehen, heute ist dies nicht mehr möglich. Auch leidet er oft an Antriebsschwäche. Am schlimmsten aber sind die Blickkrämpfe, die jederzeit auftreten können, oft auch am Wochenende. Die Pupillen sind dann ganz nach oben gedreht, er muss den Mund weit aufmachen und gibt Geräusche von sich. Auch ist er dabei ziemlich verwirrt, sodass ich Angst habe, er könne in ein Auto laufen, seine Schlüssel verlieren und dergleichen mehr. Manchmal gehen die Krämpfe nach einiger Zeit wieder vorbei, oft dauern sie den ganzen Tag an. Zum Glück sind sie am nächsten Tag verschwunden (bis jetzt jedenfalls). Er nimmt dagegen regelmäßig Akineton, was aber leider nicht immer hilft. F. bekommt alle 2 Wochen eine Spritze (Fluanxol). Bei Tabletten ist er zu unzuverlässig. Die Blickkrämpfe treten vermehrt seit seinem letzten Klinikaufenthalt vor drei Jahren auf. S. nimmt eine Reihe von Medikamenten, das Hauptmedikament ist Leponex (sehr hoch dosiert). Fragt man S. oder F., wie es Ihnen geht, sagen sie meist, „es geht so”.

S. spricht sehr offen über ihre Beschwerden, Ängste und Zwänge, während ihr Bruder F. sich so gut wie nicht mitteilt. Er spricht überhaupt sehr wenig. Bei ihm kann ich nur aus seinem Verhalten schließen, wie es ihm geht. An manchen Tagen geht es ihnen beiden sehr schlecht, an manchen Tagen wieder besser. Kein Mensch, der nicht selbst einmal unter einer solchen Krankheit gelitten hat, kann sich wirklich vorstellen, wie sie sich anfühlt, auch nicht die Ärzte, das Klinikpersonal und die Betreuer. Alle sehen sie nur von außen. Lediglich aus dem Verhalten, der Mimik und dem, was die Kranken reden und erzählen, kann man sich Urteile bilden und Rückschlüsse ziehen. Wenn z. B. mein Sohn eine Psychose bekommt (wenn er seine Spritze absetzt), merken es sehr früh und zuallererst S. und ich. Wir sehen es an seinem Blick, seiner Gestik und anderen, kleineren Veränderungen. Wir weisen seinen Arzt oder seinen Betreuer darauf hin. Aber es kann Wochen oder sogar Monate dauern, bis es auch für sie klar erkennbar ist. Ich denke, bei den meisten Angehörigen wird es so sein, da sie den Patienten am besten kennen. Auch bei körperlichen Erkrankungen ist ja schwer, sie nachzuempfinden. Wer noch nie Kopfweh oder Bauchschmerzen hatte, kann sich auch dies kaum vorstellen, denn auch sie sieht man nicht von außen.

Jetzt komme ich zum positiven Teil, nämlich zu dem, was F. und S. trotz ihrer Beschwerden selbstständig bewältigen können. Beide haben eine eigene Wohnung. Abgesehen von amtlichen und administrativen Aufgaben kommen sie damit gut zurecht. Sie halten ihre Wohnung sauber, spülen, waschen und räumen auf. Sie sind beide sehr unauffällig und von außen gesehen käme niemand in den Sinn, dass sie krank sind (es sei denn, sie haben eine akute Krise). Sie besuchen eine Tagesstätte, wo sie mit dem Bus hinfahren müssen, was S. oft schwerfällt. Mit der Tagesstätte sind beide sehr zufrieden (und ich auch). Beide haben einen Betreuer, mit dem sie sich einmal in der Woche treffen. S. geht mit ihrem Betreuer einkaufen, F. spazieren oder Billard spielen. Die Betreuer sind ihnen auch behilflich bei allen administrativen Dingen, wenn es etwas auszufüllen gilt oder Anträge gestellt werden müssen. Zu Hause beschäftigt sich S. mit Stricken und Fernsehen. Ich besuche sie jeden Abend für ein- bis zwei Stunden. Lesen kann sie schlecht - keine Konzentration. Wegen seiner Unruhe geht F. viel spazieren, trinkt hier und da einen Kaffee (sein Geld reicht nie). Fernsehen kann er wenig, aber ein paar Seiten liest er jeden Tag. Er bevorzugt dabei Bücher, die er früher (zu gesunden Zeiten) schon gelesen hat, wie z. B. von Hermann Hesse. F. kann auch Ausflüge oder Reisefreizeiten vom Betreuten Wohnen mitmachen, S. wegen ihrer Ängste nicht. Gefragt, ob sie ihre Symptome tauschen möchten, antworten beide mit nein. Ihre Lebenslage beurteilen beide (an guten Tagen) mit mittelmäßig zufriedenstellend. Das ist so schlecht nicht, finde ich. Würde man gesunde Menschen befragen, wäre die Antwort meiner Ansicht nach nicht wesentlich besser.

Die glücklichen Tage, von denen ich berichten möchte, finden eher im Sommer statt. Im Winter, wenn es regnerisch und nasskalt ist, ist es oft schwierig am Wochenende etwas zu unternehmen. Samstags machen wir meistens einen kleinen Ausflug in die Umgebung und kehren ein, um einen Kaffee zu trinken. Dies ist auch als spezielle Übung für S. gedacht, damit sie unter Leute geht. Das gestaltet sich oft schwierig, weil sie alle Ausflüchte hat, um dies zu vermeiden. Hat sie es aber dann doch geschafft, ist sie froh und fand es auch gar nicht so schlimm, wie sie gedacht hatte. Sonntags gehen wir hier am Ort spazieren und trinken bei F. Kaffee, damit er auch einmal jemand in seiner Wohnung bewirten kann. Anschließend spielen wir etwas, was meistens recht nett und gemütlich ist. Bei schlechtem Wetter ist das Spazierengehen nicht so erfreulich. S. bleibt dann meistens zu Hause, was ihr nichts ausmacht. Mit F. muss aber bei Wind und Wetter hinausgegangen werden, weil er es nicht den ganzen Tag zu Hause aushält. Das kann manchmal sehr unerfreulich sein. Auch die Weihnachtsfeiertage sind immer etwas schwierig, weil emotional so belastet. Oft geht es dann F. und S. nicht so gut, sodass wir manchmal die Bescherung schon verschieben mussten. Angenehmer sind deshalb Ostern und Pfingsten, weil das Wetter dann meist besser und es auch länger hell ist. Die schönste Zeit ist aber der Sommer. Wenn es richtig schön warm und sonnig ist und man an den See gehen kann, blühen wir auf. Wir haben einen schönen See in der Nähe, den wir traditionell samstags oder mittwochs besuchen, weil es dann nicht so voll ist wie am Sonntag. Auch ist der Eintritt sehr günstig. Ich nehme immer drei Karten für Behinderte (ich habe einen schwer behandelbaren Diabetes und muss sehr oft spritzen, was mich aber nicht besonders belastet). Die Kassiererin kennt uns schon und lacht über unsere Behinderung, die man uns nicht anmerkt.

Der See hat einen schönen, langen Sandstrand, der vom Wasser aus ziemlich steil ansteigt. Wir lassen uns an dem immer gleichen Platz ganz oben unter einem schattigen Baum nieder, von wo man den ganzen See überblicken kann. Gleich bei Ankunft legt sich S. unter den Baum, während F. und ich uns am Kiosk einen Kaffee holen. Oben am See sind Holztische und Bänke aufgestellt, auch von dort kann man sehr schön das Treiben auf dem See verfolgen. S. bekommt von F. einen Kaffee an die Decke gebracht. Danach macht F. einen Spaziergang auf dem weitläufigen Gelände und geht dann ins Wasser. Er muss dann für uns prüfen, ob es warm genug ist. Inzwischen döst S. ein bisschen vor sich hin und ich lese. Wenn F. aus dem Wasser kommt, gehen S. und ich zum Schwimmen. Das ist für mich wie Urlaub. Wenn F. keine Blickkrämpfe hat (was vorkommt) und S. keine starken Ängste (was auch vorkommt), ist es der perfekte Sommertag. Am späten Nachmittag gehen wir noch ein Stück im nahe gelegenen Wald spazieren und sind restlos zufrieden. Wir zählen den ganzen Sommer die Tage, die wir am See verbracht haben. Manchmal kommen wir nur auf 7, manchmal aber auch auf 12 - 14, je nach Wetter. Schon im März/April freuen wir uns auf einen hoffentlich warmen Sommer. Das sind unsere glücklichen Tage. Es gibt auch sonntags glückliche Tage. Wenn das Wetter schön ist und wir nach dem Spaziergang bei F. auf dem Balkon Kaffe trinken können und unsere Spiele spielen, genießen wir das auch und manchmal wird auch viel gelacht. Das alles natürlich nur, wenn es F. und S. nicht zu schlecht geht. Aber die Spiele können auch manchmal Wunder wirken, sie lassen S. ihre Ängste und Zwänge vergessen und oftmals erholt sich auch F., obwohl es ihm vorher nicht gut ging.

Wenn ich dann abends im Bett liege, bin ich richtig dankbar für diese Tage und zehre auch in schlechteren Zeiten davon. Gut, dass es diese Tage gibt!

Waltraud Rothweil

Wartbaumstr. 54

61130 Nidderau