Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2000; 10(6): 217-226
DOI: 10.1055/s-2008-1061771
Wissenschaft und Forschung

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gleichgewichtstraining verbessert die vestibulospinale Kompensation nach akutem einseitigen Labyrinthausfall1

Balance training improves vestibulospinal compensation after acute one-sided labyrinthian failureM. Strupp, V. Arbusow, Th. Brandt
  • Neurologische Klinik (Direktor Prof. Dr. Dr. h.c. Th. Brandt, FRCP), Universitätsklinikum Großhadern, Ludwig-Maximilians-Universität München
1 Anmerkung der Autoren: Die vorliegenden Daten wurden in modifizierter Form in Neurology (Strupp et al. 1998b) publiziert.
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Publikationsverlauf

Manuskripteingang: 9.2.2000

Manuskriptannahme: 14.9.2000

Publikationsdatum:
19. März 2008 (online)

Zusammenfassung

Der akute einseitige Labyrinthausfall ist durch über Tage anhaltenden heftigen Drehschwindel mit Fallneigung und Übelkeit gekennzeichnet. Diese Symptome beruhen auf einer vestibulären Tonusimbalance zwischen dem intakten und ausgefallenen Labyrinth. Nach einseitigem Labyrinthausfall setzt eine so genannte zentralvestibuläre Kompensation ein, welche nach Wochen bis Monaten meist zu weitgehender Beschwerdefreiheit führt. Bislang konnte nur tierexperimentell belegt werden, dass die zentralvestibuläre Kompensation durch Gleichgewichtstraining günstig beeinflusst werden kann, entsprechende klinische Studien lagen - trotz großer klinischer Relevanz - noch nicht vor. Wir haben deshalb beim Menschen am Modell der “Neuritis vestibularis”, einer entzündlichen Erkrankung des Gleichgewichtsnerven, prospektiv den Einfluss von spezifischer Physiotherapie auf die zentralvestibuläre Kompensation untersucht. Als Messparameter dienten a) für die Wahrnehmung die psychophysische Bestimmung der Subjektiven Visuellen Vertikalen (SVV, in Grad), b) für die Okulomotorik die Messung der Augentorsion (“ocular torsion” [OT, in Grad]) und c) für die Stand- und Haltungsregulation die posturographisch gemessenen Sway-Path-Werte (SP, in m/min), die jeweils am 1., 3., 7., 11., 15. und 30. Tag nach Beginn der Symptomatik bestimmt wurden. Ein besonderer Vorteil der angewandten Methoden war, dass jeweils untersucherunabhängige quantitative Daten erhoben wurden. 39 Patienten mit persistierendem periphervestibulärem Defizit wurden in die Studie eingeschlossen und randomisiert, davon waren 20 in der Kontrollgruppe (ohne Physiotherapie) und 19 in der Therapiegruppe mit spezifischem Gleichgewichtstraining. Während sich für die Normalisierung von SVV und OT keine Unterschiede zwischen der Kontroll-und Therapiegruppe ergaben, wurden in der Therapiegruppe am 30. Tag nach Beginn der Symptomatik signifikant niedrigere SP-Werte gemessen, die innerhalb des Normbereiches lagen: Sie betrugen 3,2±1,9 m/min in der Therapiegruppe gegenüber 16,9±6,1 m/min in der Kontrollgruppe (ANOVA, p<0,001). Dies ist die erste kontrollierte prospektive klinische Studie, die zeigen konnte, dass spezifisches Gleichgewichtstraining die Stand-und Haltungsregulation und damit die zentrale vestibulospinale Kompensation signifikant verbessert.

Summary

Animal experiments have shown that central vestibular compensation of unilateral peripheral vestibular lesions can be improved by vestibular exercises. There are, however, no equivalent clinical studies on the efficacy of such specific physiotherapy on acute unilateral peripheral vestibular lesions in humans. To quantify the differential effects of specific vestibular exercises on central compensation in patients with an acute/subacute unilateral vestibular lesion (vestibular neuritis), we determined the time course of recovery of (1) ocular torsion (OT) for the vestibulo-ocular system, (2) subjective visual vertical (SVV) for perception, and (3) the total sway path (SP) values for postural control in 19 patients with and 20 patients without vestibular exercises; all of these patients had a persisting peripheral vestibular deficit for at least 30 days (statistical endpoint). While normalization of OT and SVV was similar in the control and physiotherapy groups, the total SP values on day 30 after symptom onset significantly differed: 3.2±1.9m/min in the physiotherapy group and 16.9±6.1 m/min in controls (ANOVA, p< 0,001). This is the first prospective clinical study to suggest that specific vestibular exercises improve vestibulo-spinal compensation in patients with acute peripheral vestibular lesions.