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DOI: 10.1055/s-2008-1067451
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Bindung und Entwicklung in der psychosomatischen Medizin
Attachment and Development within Psychosomatic MedicinePublikationsverlauf
Publikationsdatum:
14. Juli 2008 (online)
Prof. Dr. Hans-Christian Deter
Prof. Dr. Carl E. Scheidt
Das Thema Bindung und Entwicklung fokussiert einerseits auf Entwicklungsbedingungen und Entwicklungserfordernisse von Kindern und Jugendlichen, unter denen, wie wir wissen, die frühen Beziehungen mit den primären Bindungspersonen eine wichtige Rolle spielen. Andererseits spricht das Thema Bindung und Entwicklung auch Aspekte des Bindungs- und Beziehungsverhaltens im Erwachsenenalter an. Aufgrund der lebenslangen Plastizität des menschlichen Gehirns und der Fähigkeit, durch Erfahrung zu lernen, spielen auch im Erwachsenenalter durch neue Bindungserfahrungen angestoßene Entwicklungsprozesse eine zentrale Rolle. Solche formativen Beziehungserfahrungen können, müssen aber nicht ausschließlich im therapeutischen Kontext der Medizin und der Psychotherapie gemacht werden. Da der medizinische Kontext aber ein wichtiger Ort ist, an dem solche Erfahrungen potenziell möglich sein sollen, ist das Thema Bindung und Entwicklung für das Verständnis der Patienten-Arzt-Beziehung und der Beziehung von Patienten zu anderen therapeutisch Tätigen, wie Pflegern, Schwestern, Sozialarbeitern, Krankengymnasten von großer Bedeutung.
Die Untersuchung des Beziehungs- und Bindungsverhaltens in unterschiedlichen Kontexten liegt seit Jahren den Forschern und klinisch tätigen Mitgliedern des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin am Herzen. Durch neue, selbst- und fremdbeurteilende Methoden zur Erfassung des Bindungsstiles hat dieses Forschungsgebiet einen ungeheuren Aufschwung genommen. Die Anwendung entwicklungspsychologischer Forschungsmethoden auf den klinischen Bereich der Psychosomatik hat dazu beigetragen, Bindungsstile von Erwachsenen zu spezifizieren und in ihren Auswirkungen auf die Entstehung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, die Krankheitsbewältigung und das Krankheitsverhalten, aber auch auf das Kontaktverhalten in der Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung einer genaueren Analyse zu unterziehen.
Unter einem übergeordneten Gesichtspunkt erscheint nun aber auch das Bindungs- und Kontaktverhalten der „Psychosomatiker” und ihrer Gesellschaften einer Analyse wert: Ist die „Bindung” an die Gründer des DKPM Thure von Uexküll, der in diesem Jahre 100 Jahre alt geworden wäre, an Adolf Ernst Meyer oder an andere „Väter” der Psychosomatik wie Viktor von Weizsäcker, Alexander Mitscherlich, Arthur Jores, Annemarie Dührssen, Anneliese Heigl-Evers, Horst Eberhard Richter oder Helmut Enke „abgeschlossen” und nun einer Phase der „Ablösung” gewichen? Können und müssen wir uns ohne den früher überwältigenden und Identität stiftenden (aber vielleicht auch im Einzelfall entwicklungshemmenden) Einfluss unserer „Gründerväter” und „Gründermütter” weiterentwickeln? Und wenn ja, wohin? Sollen wir nach einer Zeit der Separation und eigenständigen Entwicklung enger mit befreundeten ärztlichen und psychologischen Fachgesellschaften im psychosomatischen Feld zusammengehen und wie können wir unsere Ziele oder Leitideen dabei bewahren? – Psychosomatische Medizin auf einem hohen Standard interdisziplinär und integrativ unter Beteiligung vieler Wissenschaftler (eingeschlossen die Hochschullehrer für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie) und Kliniker. Soll dieser Bereich so „zusammenwachsen wie er zusammengehört”, dass nämlich alle aktiven psychosomatischen Forscher (Ärzte, Psychologen, Soziologen, Gesundheitswissenschaftler) in Deutschland auf einem gemeinsamen Kongress ihre neuesten Arbeiten präsentieren und die wesentlichen Diskussionen und Kommunikationen einmal im Jahr hier stattfinden – und sonst in themenbezogenen Arbeitsgruppen, wie es zum Beispiel bei der Erstellung der S3-Leitlinien?
Ziele mittelfristig die Psychosomatik in Deutschland zu stärken könnten sein: Bindung an Leitideen, aber gleichzeitig Entwicklung neuer Kommunikations- und Kooperationsformen mit einer zunehmenden Berücksichtigung einer internationalen Perspektive wie sie mit internationalen Kollegen des Europäischen Netzwerks für Psychosomatische Medizin, im English-Track der DKPM-Tagungen und auf vielen internationalen Kongressen praktiziert wird. Die internationale Vernetzung der Psychosomatischen Medizin wird so zu einem neuen Anliegen. Wesentliche Voraussetzung für unsere Arbeit bleibt dabei die Bindung an unsere eigene Geschichte und die Akzeptanz der entstandenen Bindungen, die, wie bei unseren Patienten, zur Basis für zukünftige Entwicklungen wird.
Prof. Dr. med. Hans-Christian Deter
Charité, Campus Benjamin Franklin, Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie
Hindenburgdamm 30
12200 Berlin
eMail: deter@charite.de