Laryngorhinootologie 2008; 87(7): 507-510
DOI: 10.1055/s-2008-1077325
Gutachten + Recht

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Aus der Gutachtenpraxis: Progression nach Knalltrauma?

From the Expert's Office: Progress of Hearing Loss Following Acute Acoustic Trauma?T.  Brusis1
  • 1Institut für Begutachtung, Köln
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Publication Date:
16 June 2008 (online)

R. L., 52 Jahre, Bankkaufmann

In der Familie waren keine Fälle von familiärer Schwerhörigkeit aufgetreten. Der Untersuchte hatte keine Mittelohrentzündungen durchgemacht, keine Schädelunfälle, keine Belastungen durch Privatlärm (weder Jäger noch Sportschütze). Bei der Musterung war zwar eine Hörprüfung durchgeführt worden, aber nicht mit Tönen, sondern mit vorgesprochenen Wörtern. Er sei voll verwendungsfähig gewesen.

Im Alter von 19 Jahren erlitt der Untersuchte am 10. 6. 1974 beim ersten scharfen Manöver auf dem Truppenübungsplatz H. im freien Feld ein Knalltrauma. Er selbst gehörte zu einer Gruppe von 10 - 15 Soldaten, die in einer Linie vorwärts gegangen seien. In einiger Entfernung seien plötzlich sog. „Klappsoldaten” aufgerichtet worden, auf die man habe schießen müssen. Bei einem Treffer seien sie dann umgefallen. Im Übrigen habe man „selbstständig” geschossen, nachdem vom Vorgesetzten der Befehl gekommen sei, anzugreifen. Links von ihm in etwa fünf Meter Entfernung in gleicher Geh-Höhe habe es einen Panzerfaustschützen gegeben. Dieser habe das Panzerrohr auf der Schulter getragen und durch ein kleines Visier gezielt. Aus dem Panzerrohr seien Granaten abgeschossen worden. Der Kompaniechef habe - aus Sicherheitsgründen - befohlen, den Gehörschutz herauszunehmen, um taktische Anweisungen hören zu können. Daraufhin habe er den Gehörschutz entfernt.

Nach Einsetzen des Schießlärms und nach Abfeuern einer Panzerfaustgranate links von ihm habe er beiderseits schlagartig nichts gehört, er sei richtig taub gewesen. Daraufhin habe er sich zum Kompaniechef begeben und ihm mitgeteilt, dass er nichts mehr wahrnehmen würde. Der Sanitäter habe ihm daraufhin das Ohr mit einem Spray, den man sonst bei Blutergüssen verwende, vereist. Das sei sehr kalt gewesen. Danach habe er immer noch nichts gehört und niemanden verstehen können.

Erst am Ende des Manövers, zehn Tage später, habe er sich zu einer HNO-Ärztin begeben, die ein Audiogramm erstellt habe und ihn in das Bundeswehrkrankenhaus eingewiesen habe, wo er etwa zehn Tage (25. 6. - 5. 7. 1974) stationär mit Infusionen behandelt worden sei. Nach der Infusionsbehandlung habe sich das Hörvermögen wieder etwas gebessert, sodass er Personen wieder habe hören können. Im Übrigen sei er für die restliche Bundeswehrzeit wegen der Folgen des Knalltraumas vom Schießen befreit worden.

Nach der Entlassung aus der Bundeswehr habe er als Bankkaufmann zunächst Schalterdienst versehen und habe sich angewöhnt, von den Lippen abzulesen. Bei Nebengeräuschen habe er starke Probleme gehabt. Kundengespräche habe er bereits damals im Besprechungszimmer durchgeführt, wo es weniger Nebengeräusche gegeben habe.

Bei der ersten Begutachtung für das Versorgungsamt N. sei der Hörschaden als Wehrdienstbeschädigung mit einer MdE von unter 25 % (10 %) anerkannt worden. In den Folgejahren habe sich das Hören immer weiter verschlechtert. Alle vier bis fünf Jahre habe er Verschlimmerungssanträge beim Versorgungsamt gestellt und man habe ihm bestätigt, dass das Gehör schlechter geworden sei. Die Verschlechterung sei jedoch nicht auf das Knalltrauma zurückgeführt worden. Im Mai 1996 habe er die ersten Hörgeräte verordnet bekommen, die vom Versorgungsamt und nicht von der Krankenkasse bezahlt worden seien. Ab 1997 sei er dann Direktor der Bank in einer Filiale in W. geworden. Er habe Gespräche und Telefonate mit Kunden führen müssen und Mitarbeiter anleiten müssen. Manchmal habe er auch Betriebe oder Fabriken besichtigen müssen, um Investitionsentscheidungen zu treffen. Dort habe er überhaupt nichts mehr verstehen können, wenn es gleichzeitig Betriebslärm gegeben habe.

Im Mai 1999 habe er seinem HNO-Arzt mitgeteilt, dass er inzwischen so große Probleme habe, dass er im Beruf gar nicht mehr klar komme. Dieser habe ihn dann in die Universitätsklinik W. geschickt, wo er unter der Diagnose „akuter Hörsturz” mit Infusionen behandelt worden sei. Dort sei dann auch ein MRT durchgeführt worden und überraschenderweise ein Ponsinfarkt diagnostiziert worden. Er habe sich jedoch ansonsten gesund gefühlt. Daher sei ihm die Diagnose eines Ponsinfarktes bzw. Hirnstamminfarktes unerklärlich gewesen. Auch eine Lumbalpunktion, mit der eine entzündliche Erkrankung ausgeschlossen werden sollte, sei unauffällig gewesen. Im Übrigen sei die MRT-Untersuchung in den Folgejahren wiederholt worden.

Inzwischen höre er so schlecht, dass er vorzeitig berentet worden sei und zu Hause in einem ruhigen Arbeitszimmer am Schreibtisch tätig sei und Buchhaltungsarbeiten mache. Neben dem schlechten Gehör leide er unter einem ständigen Rauschen, welches er manchmal als ein Zirren (Vogelgezwitscher) empfinde. Die Lautstärke schwanke. Manchmal sei das Ohrgeräusch zwei bis drei Minuten weg, dann schwille es wieder pulsierend an. Im Übrigen sei das Ohrgeräusch erst auf dem linken Ohr gewesen und dann Jahre später auf der rechten Seite. Über Schwindelbeschwerden oder Gleichgewichtsstörungen wurde nicht berichtet.

Aus seiner Sicht sei Folgendes wichtig: Die Schwerhörigkeit habe sich im Laufe der Jahre beidseits gleichmäßig entwickelt und immer weiter zugenommen, auch in den letzten Jahren. Einen Hörsturz im Jahre 1999, der von mehreren Gutachtern als ursächlich für seine Schwerhörigkeit angesehen worden sei, habe es nie gegeben. Das sei nur eine Krankenblattdiagnose gewesen. Im Übrigen habe er schon vor 1999 schlecht gehört. Der angebliche Ponsinfarkt 1999, der von den Gutachtern ebenfalls als ursächlich für seine beiderseitige Schwerhörigkeit angesehen wurde, könne ebenfalls nicht die Ursache sein. Zum einen habe er damals keine weiteren Beschwerden gehabt, die bei einem Hirnstamminfarkt auftreten würden, zum anderen sei die Diagnose eines Ponsinfarktes durch weitere MRT-Untersuchungen ausgeschlossen worden, man habe das Ganze später für einen Artefakt gehalten. Insofern gebe es aus seiner Sicht nur das Knalltrauma von 1974, welches für seine fortschreitende Schwerhörigkeit verantwortlich sein könne.

Literatur

  • 1 Feldmann H. Das Gutachten des HNO-Arztes, 6. Auflage, zum Knalltrauma Bl. 163; zur Progredienz nach Knalltrauma Bl. 164. Stuttgart; Georg Thieme Verlag 2006
  • 2 Pilgramm M, Kunick T, Schumann K. Die Entwicklung des Hörvermögens nach knalltraumatischer Schädigung unter Berücksichtigung des weiteren Beschäftigungsortes.  Laryngo-Rhino-Otol. 1988;  67 294-296

Prof. Dr. med. T. Brusis

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