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DOI: 10.1055/s-2008-1079343
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Beziehungsorgan Gehirn
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
10. Juni 2008 (online)
Die stürmische Entwicklung der Neurowissenschaften führt in der gegenwärtigen Ära der Postmoderne zu einer intensiven theoretischen, dabei ärztlich-therapeutisch höchst relevanten Diskussion über das anthropologische Verständnis von Bewusstheit und Subjektivität und deren Bedeutung für den menschlichen Lebensvollzug - rund 150 Jahre nach Griesinger erhält seine damals antispekulativ verstandene These, wonach Geisteskrankheiten Hirnkrankheiten seien, eine neue Dynamik. Die neurophysiologischen und molekularbiologischen Befunde z.B. über Gehirnfunktionen und Psychoneuroimmunologie scheinen die alten Ideale der naturwissenschaftlichen Medizin zu bestätigen, wonach "keine anderen Kräfte als die allgemeinen physikalischen und chemischen... in einem Organismus tätig" sind (H. v. Helmholtz, 1848) und werden als vermeintliche Grundlagen der conditio humana diskutiert: "Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden" (G. Roth, 2004). Die Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie, dass eine sinnhafte medizinische Theorie und Praxis die "Einführung des Menschen als Subjekt in die Medizin" (V. v. Weizsäcker 1940) erfordert, scheinen damit in weite Ferne gerückt. Psychische Krankheiten betreffen jedoch durch eine Änderung des Selbsterlebens und der Beziehung zur Umwelt den Kern der Person - auf welcher Basis können also Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie dieser anthropologischen Dimension gerecht werden, ohne sich im Spekulativen zu verlieren?
Thomas Fuchs bereichert diese grundlegende Diskussion mit seinem neuen Buch um eine dichte, in sich geschlossene und gut lesbare Zusammenfassung seiner eigenen umfassenden Forschung auf wissenschaftshistorischer, anthropologischer, phänomenologischer und gestaltpsychologischer Basis mit kritischer Diskussion der reduktionistischen neurowissenschaftlichen Paradigmen. Der Titel "Das Gehirn - ein Beziehungsorgan..." eröffnet das Spannungsfeld mit der Bezeichnung des Forschungsgegenstandes in einer funktionell-anatomischen Terminologie, die die anatomischen Grenzen überschreitet - verbunden mit der Ankündigung, sich dem Organ systematisch beschreibend unter Beachtung dieser impliziten Beziehungsdimensionen anzunähern.
Die zentrale Argumentation des Autors beginnt unter philosophischen Aspekten mit einer komplexen Analyse des von Descartes begründeten dualistischen Paradigmas, das die Subjektivität als eine unräumliche und körperlose Innenwelt begreift, damit aber auch dem neurowissenschaftlichen Materialismus latent noch immer zugrunde liegt: War der Geist bei Descartes noch mit der Zirbeldrüse verbunden, so wird er im neurobiologischen Paradigma zu einem Produkt des Gehirns insgesamt, bleibt aber ebenso unverkörpert und außerhalb der Welt wie bei Descartes. Aus der Problematik dieser leib- und weltlosen Konzeption des Subjekts entwickelt Fuchs eine Kritik der daraus abgeleiteten, physikalistisch geprägten Neurobiologie und analytischen Philosophie des Geistes, die gleichermaßen in einen Reduktionismus münden: Leben wird zu einem kybernetischen System, und die Subjektivität insgesamt zu einem Epiphänomen - mit entsprechenden Folgen für das Menschenbild und ärztlich-therapeutische Selbstverständnis. Wahrnehmung, Wille und Motive erscheinen neurophysiologisch determiniert, und Krankheit nur noch als Störung der steuernden Regelkreise.
Gegen diese Verkürzung des Lebensbegriffes setzt Fuchs eine differenzierte Analyse der leiblich erfahrbaren und damit in räumlichen, zeitlichen, physischen, innerseelischen, intersubjektiven und sozialen Kategorien beschreibbaren Lebenswelt, die in ihrer Existenz fraglos an die physikalisch beschreibbare Körperlichkeit gebunden ist, aber deren Grenzen fortwährend überschreitet. Fuchs stringente biologische, neurologische, gestaltpsychologische und philosophische Argumentation führt über die Mehrdimensionalität des Lebensbegriffes zu einem dualen Menschenbild, in dem die naturalistisch-objektivierend (in der "Dritten-Person-Perspektive") erforschbare Körperlichkeit und die subjektiv und intersubjektiv (aus der "Ersten- bzw. zweiten Person-Perspektive") erschließbaren psychischen Phänomene wie personales Bewusstsein und Selbstreflexivität koextensiv, aber jeweils nicht in einander überführbar sind. Das Gehirn ist in dieser Konzeption ein Organ, das im individuellen Lebensprozess die Integration von Wahrnehmung, Antrieb und Erfahrungen leistet und diese in situationsabhängige und intentionale Handlungen transformiert. Die individuellen Verknüpfungen von Wahrnehmung, Gefühl, Erfahrungsbildung und Verhalten sowie die kulturell vermittelte Bedeutungsgebung sind die Basis geistig-seelischer Prozesse und formen auf organisch-neuronaler Basis handlungsrelevante Bereitschaften. Dieser Lebens- und Entwicklungsprozess steht unter dem Primat der Aufrechterhaltung der Beziehung von Individuum und Umwelt - dies begründet die integrale Funktion des personalen Bewusstseins. Der Zusammenhang von Lebenserfahrung und Lebensvollzug, d.h. die Subjektivität von Wahrnehmung, Intention und Handlung erschließt sich daher nicht aus den neurophysiologischen Funktionen selbst, sondern nur aus psychologischen Kategorien. Eine reduktionistisch verstandene Hirnforschung, der zufolge das Bewusstsein aus dem physikalischen Aufbau des Organs abzuleiten wäre, kann trotz ihrer subtilen Methoden, somatische Funktionen und Korrelate abzubilden, die Dimensionen von Personalität und Bewusstsein weder qualitativ erfassen noch erklären.
Ein zentrales Merkmal dieses Werkes stellt die Konvergenz aus profunden philosophischen Kenntnissen (mit detaillierter Bezugnahme auf die aristotelische, neuzeitliche, erkenntniskritische und sprachanalytische Philosophie wie z.B. Feuerbach, Husserl, Merleau-Ponty, Wittgenstein, Plessner, Spaemann) mit den Theorien der medizinischen Anthropologie (Gestaltkreistheorie nach Weizsäcker, Situationskreistheorie nach Uexküll), der Gestaltpsychologie (Straus, Goldstein), der Systemtheorie (Haken, Maturana, Varela), der Entwicklungspsychologie, der Affektforschung und der Intersubjektivität dar. Die daraus abgeleiteten erkenntnistheoretischen und neurobiologisch relevanten Paradigmen der Neuzeit, Moderne und Postmoderne werden in ihrer teils konträren, teils komplementären Logik gut strukturiert und mit ausführlichen Zitaten nachvollziehbar dargestellt, so dass sich der Leser einen guten Überblick verschaffen und selbst Position beziehen kann. Die eigenen anthropologisch fundierten Thesen werden daraus phänomenologisch schlüssig mit zahlreichen, plausiblen Beispielen und Illustrationen entwickelt und daraus für die Theorie und Praxis der psychologischen Medizin relevante Schlussfolgerungen abgeleitet.
Thomas Fuchs ist ein bemerkenswert lebendiges, inhaltsreiches und ohne Einschränkungen für Psychiater, Psychotherapeuten und Psychosomatiker in Forschung, Lehre und Praxis zu empfehlendes Werk gelungen, aus dem hier nur einige Aspekte erwähnt werden konnten. Es stellt anschaulich und rational zugleich die Notwendigkeit einer eigenständigen anthropologischen Theorie dar und lässt diese für die ärztlich-therapeutische Identität fruchtbar werden: "Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen" (V. v. Weizsäcker).
Michael Purucker
Manfred Wolfersdorf
eMail: Michael.Purucker@bezirkskrankenhaus-bayreuth.de
Fuchs T. "Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption". 324 S., Stuttgart: Kohlhammer, 2008, € 28,-