Schlüsselwörter
Essstörungen - Diagnostik - kognitive Verhaltenstherapie - Körperwahrnehmung
Einleitung
Vorbemerkung
Da die Mehrzahl der an einer Bulimia nervosa erkrankten Personen weiblichen Geschlechts
ist, verwenden wir im Text die weibliche Form von Patient, wenn über Menschen mit
der Diagnose einer Bulimia nervosa gesprochen wird.
Da uns das gleichzeitige Nennen der weiblichen und männlichen Form bei z. B. Berufen
wenig leserfreundlich erscheint, verwenden wir ausschließlich die grammatikalisch
männliche Form (abgesehen von Patientin bzw. Patientinnen): Arzt, Therapeut usw. Selbstverständlich
ist die weibliche Form mitgemeint.
Patientinnen mit Bulimia nervosa (BN) weisen häufig eine ausgeprägt ambivalente Therapiemotivation
auf: Sie wollen einerseits die Kontrolle über das Essverhalten erlangen, andererseits
zeigen sie wenig Toleranz gegenüber Änderungen im Essverhalten und damit verbundenen
eventuellen Gewichtszunahmen. Die Therapie der BN erweist sich dadurch oftmals als
schwierig, sodass es häufig zu einem stagnierenden Therapieverlauf mit anhaltenden
Essanfällen und anhaltendem Erbrechen sowie Spannungen innerhalb der therapeutischen
Beziehung kommt.
Vor diesem Hintergrund erfordert die Therapie der BN ein Behandlungskonzept, das einerseits
die konsequente Arbeit an den Symptomen vorsieht, andererseits auch die Funktionalität
der Erkrankung in den Blick nimmt. Beides erfordert ein profundes Störungswissen sowie
Gesprächsführungsstile, die bei der Bearbeitung der ambivalenten Änderungsmotivation
und im Hinblick auf Motivationseinbrüche zielführend sind.
Ziel des vorliegenden Beitrags ist eine kurze Darstellung zum Stand der Forschung
zur BN mit daraus folgenden Implikationen für die Psychotherapie der BN. Nach einer
Beschreibung der Symptomatik und Klassifikation der BN sowie epidemiologischen Daten
werden die Risikofaktoren und aufrechterhaltenden Faktoren auf der Basis aktueller
Forschungsbefunde dargestellt. Darauf aufbauend werden die wichtigsten diagnostischen
und therapeutischen Behandlungsmodule und Techniken vorgestellt.
Symptomatik und Klassifikation
Symptomatik und Klassifikation
Fallbeispiel
Lisa M. leidet darunter, dass sie immer wieder Essattacken hat, während derer sie
alles in sich „hineinstopft“, was sie im Kühlschrank finden kann. Sie schämt sich
dafür, kann dieses „tierische“ Essverhalten aber nicht abstellen. Sie verschlingt
zum Beispiel eine Familienpackung Speiseeis, 10 Toastbrote mit Schokocreme, 5 Frikadellen
mit Ketchup und unglaublich viele Süßigkeiten. Damit sie das Essen leichter erbrechen
kann, trinkt sie dann noch einen Liter Milch oder Cola. Wenn nichts mehr hineingeht,
steckt sie sich schließlich den Finger in den Hals und erbricht alles wieder. Sie
fühlt sich dann zwar ein wenig erleichtert, denn sie will ja nicht zunehmen. Aber
sie fühlt sich auch niedergeschlagen, erschöpft und mutlos. Sie hat sich schon oft
vorgenommen, sich mehr „im Griff“ zu haben, aber das hilft nichts, sie fühlt sich
dem Essen gegenüber machtlos. Es ist wie eine Sucht, sie weiß nicht, wie sie diese
Gier nach Essen loswerden kann.
Das dargestellte Fallbeispiel beschreibt bereits wichtige Merkmale der BN wie Essanfälle,
Kontrollverlust und den Einsatz von Maßnahmen (z. B. Erbrechen), um nicht an Gewicht
zuzunehmen. So sind wiederkehrende Essanfälle nach den Kriterien des DSM-5 ein Hauptmerkmal
(Kriterium A) der BN [1]. Charakteristisch für Essanfälle ist der Verzehr großer Nahrungsmengen in einem
klar abgrenzbaren Zeitraum (bis zu 2 Stunden; Kriterium A1). Eine weitere Voraussetzung
ist, dass der Essanfall mit einem subjektiven Gefühl des Kontrollverlusts verbunden
ist (Kriterium A2).
Tipp für die Praxis
Wenngleich für die Diagnostik keine Gesamtkalorienanzahl für einen Essanfall vorgegeben
ist, sollte sich der Diagnostiker an einer Essensmenge orientieren, die in vergleichbaren
Situationen in einem vergleichbaren Zeitraum üblicherweise gegessen werden würde.
Patientinnen mit BN fühlen sich ihren Essanfällen ausgeliefert, da sie über die Nahrungswahl
und -menge während eines Essanfalls keine Kontrolle haben. Dies äußert sich u. a.
auch darin, dass trotz Völlegefühl meist weitergegessen wird. Es kommt allerdings
auch vor, dass Patientinnen mit BN ihre Essanfälle planen, indem sie beispielsweise
vorab gezielt Nahrungsmittel einkaufen, die sie später bei einem Essanfall konsumieren,
sowie einen entsprechenden Zeitraum für den beabsichtigten Essanfall vormerken. Im
Rahmen eines solchen Verhaltens zeigt sich der Kontrollverlust darin, dass die Patientinnen
beschreiben, sich zu diesen Handlungen getrieben zu fühlen und nicht die notwendigen
Strategien zu haben, sich dem geplanten Essanfall zu widersetzen.
Merke
Personen mit BN sind in der Regel normalgewichtig bis leicht übergewichtig.
Um einer möglichen Gewichtszunahme entgegenzuwirken, setzen Patientinnen mit BN wiederholt
unangemessene kompensatorische Maßnahmen ein (Kriterium B). Die häufigste Maßnahme
bezieht sich auf selbstinduziertes Erbrechen, andere Maßnahmen beinhalten den Missbrauch
von Laxanzien, Entwässerungsmittel oder anderen Medikamenten (z. B. Schilddrüsenpräparaten),
Einläufe, Fasten oder exzessive Bewegung. Eine häufige gegensteuernde Maßnahme zur
Gewichtskontrolle bei Patientinnen mit BN und komorbidem Diabetes mellitus ist die
reduzierte Verabreichung oder gänzliche Unterlassung der verschriebenen Insulinmenge,
um die Metabolisierung der während eines Essanfalls aufgenommen Nahrungsmenge zu verlangsamen.
Zur Diagnosestellung einer BN müssen die Essanfälle und kompensatorischen Maßnahmen
durchschnittlich einmal pro Woche über einen Zeitraum von 3 Monaten vorkommen (Kriterium
C). Zudem stellt die Überbewertung von Figur und Gewicht für den Selbstwert ein weiteres
Kriterium der BN dar. In Abgrenzung zur weit verbreiteten Körperunzufriedenheit in
der Gesellschaft, stellen Figur und Gewicht für Patientinnen mit BN einen zentralen
Aspekt der Selbstbewertung dar. Demgegenüber nehmen andere Bereiche, wie beispielsweise
die Leistungen in der Arbeit, Partnerschaft, Freundschaften und Hobbys, die für Personen
ohne BN für die Selbstbewertung wichtig sind, eine geringere Rolle ein. Ebenso sind
Gewichtsschwankungen und -zunahmen für die Selbstbewertung bei Patientinnen mit BN
wesentlich bedrohlicher als dies bei Personen ohne BN der Fall ist.
Kriterium E der BN sieht darüber hinaus vor, dass die Störung nicht ausschließlich
im Rahmen einer Anorexia nervosa (AN) auftreten darf.
Praxis
Einteilung nach Schweregrad
Der Schweregrad der BN orientiert sich nach DSM-5 an der Anzahl der wöchentlich eingesetzten
unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen:
-
leichte Form der BN gelten bis zu 3,
-
mittelgradige Form der BN 4 – 7,
-
schwere Form der BN 8 – 13,
-
extreme Form der BN 14 oder mehr unangemessene kompensatorische Maßnahmen pro Woche
Die Klassifikationskriterien der ICD-10 für die Diagnose einer BN entsprechen weitestgehend
denen des DSM-5, allerdings fehlen operationale Kriterien hinsichtlich der notwendigen
Dauer und Häufigkeit der Essanfälle, des Kontrollverlusts als Marker eines Essanfalls
sowie Kriterien für die Einstufung des Schweregrades, die die Diagnose der BN nach
ICD damit oftmals erschweren [2]. Hingegen wird in der ICD-10 darauf hingewiesen, dass in der Vorgeschichte der BN
häufig eine AN auftritt. Verbunden mit der fehlenden Operationalisierung von Dauer
und Häufigkeit der Essanfälle sowie der aufgrund des fehlenden Kontrollverlust-Kriteriums
mangelnden Trennschärfe zwischen übermäßigem Essen und Essanfällen ist zum gegenwärtigen
Zeitpunkt im Beta-Draft der ICD-11 [3] geplant, Dauer und Häufigkeit der Essanfälle sowie das Vorhandensein von Kontrollverlust
als Voraussetzungsbedingung für die Erfüllung eines Essanfalls in die Kriterien der
BN mit aufzunehmen. Dies würde u. a. zu einer Angleichung der BN-Kriterien in den
beiden Klassifikationssystemen DSM-5 und ICD-11 führen, was auch aus Forschungssicht
wünschenswert ist.
Hintergrundwissen
Vorläufige Diagnosekriterien
Bulimia nervosa nach ICD-11 [3]
-
Regelmäßige, wiederkehrende Essanfälle, z. B. einmal pro Woche über einen Zeitraum
von mindestens einem Monat. Eine Nahrungsaufnahme gilt als Essanfall, wenn der Verzehr
der Nahrungsmenge
a) groß oder deutlich anders als normal ist,
b) in einem bestimmten Zeitraum stattfindet,
c) von einem Kontrollverlust begleitet wird, d. h. wenn die Person mit dem Essen nicht
aufhören kann oder die gewählten Nahrungsmittel nicht einschränken kann.
-
Die Essanfälle werden von wiederholtem unangemessenem kompensatorischen Verhalten
begleitet mit dem Ziel, einer Gewichtszunahme vorzubeugen (z. B. selbstinduziertes
Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien oder Einläufen, übermäßige körperliche Bewegung,
Fasten).
-
Die Person ist nicht deutlich untergewichtig und erfüllt demnach nicht die Kriterien
einer Anorexia nervosa.
Merke
Sowohl im DSM-5 als auch in den geplanten Kriterien der ICD-11 werden Essanfälle definiert
als der Verzehr großer Nahrungsmengen innerhalb eines definierten Zeitraums verbunden
mit einem subjektiven Kontrollverlust.
Komorbiditäten
Komorbide Lebenszeitprävalenzen zeigen sich je nach Studie bei 70 – 95% der BN-Betroffenen
[4], [5]. Bei erwachsenen Patientinnen mit BN erfüllen 94,5% aller Betroffenen die Kriterien
für eine weitere psychische Störung, die meisten davon für 3 oder mehr komorbide psychische
Störungen (s. [Abb. 1]) [5]. Ähnlich hoch ist die Anzahl komorbider psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen
mit BN. Hier erfüllen 88,1% der Betroffenen die Kriterien für eine weitere Störung,
davon 21% für eine, 40,1% für 2 und 27,0% für 3 oder 4 weitere psychische Störungen
[4].
Abb. 1 Komorbiditäten der erwachsenen Bulimia nervosa [5].
Merke
Angst- und affektive Störungen treten bei Erwachsenen mit BN am häufigsten auf. Bei
Jugendlichen mit BN sind affektive und Impulskontrollstörungen die häufigsten komorbiden
Störungen.
In einem Review zur Komorbidität der BN mit Persönlichkeitsstörungen (behandlungssuchende
und nicht behandlungssuchende Personen mit BN kombiniert) traten die Borderline-Persönlichkeitsstörung,
gefolgt von der dependenten, histrionischen und ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung
am häufigsten auf [6]. In adoleszenten Stichproben fällt die Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen
geringer aus, wobei die Borderline-Persönlichkeitsstörung die häufigste Persönlichkeitsstörung
ist. Die relevantesten Komorbiditäten der BN sind in [Tab. 1] gelistet [7].
Tab. 1 Häufigkeit [in %] der wichtigsten Komorbiditäten bei der BN.
|
Diagnose
|
Erwachsene [5], [6]
|
Jugendliche [4], [7]
|
|
Angststörungen
|
80,6
|
49,9
|
|
affektive Störungen
|
70,7
|
66,2
|
|
Impulskontrollstörung
|
63,8
|
57,8
|
|
Substanzabhängigkeit oder -missbrauch
|
36,8
|
20,1
|
|
Borderline-PS
|
28
|
23,5
|
|
dependente PS
|
21
|
5,9
|
|
histrionische PS
|
20
|
11,8
|
|
ängstlich-vermeidende PS
|
19
|
–
|
Epidemiologie und Verlauf
Epidemiologie und Verlauf
Die Lebenszeitprävalenz der BN bei Erwachsenen liegt je nach zugrunde liegendem Diagnosesystem
bei 1 – 2% [5], [8], bei adoleszenten Stichproben zwischen 1,6 und 2,6% [9], [10]. Die Unterschiede in den Prävalenzen in Abhängigkeit des eingesetzten Diagnosesystems
lassen sich dabei auf die Reduktion der notwendigen Häufigkeit von Essanfällen von
zwei (DSM-IV) auf einen wöchentlichen Essanfall (DSM-5) zurückführen. Während in bestimmten
Berufsgruppen, in denen ein starker Schlankheitsdruck besteht (z. B. Models, Leistungssportlerinnen,
Balletttänzerinnen), essstörungsbezogene Symptome häufiger vorkommen [11], [12], ist die Prävalenz für das Vollbild der BN in diesen Gruppen nicht erhöht [13], [14]. Allerdings zeigt sich eine geschlechterspezifische Verteilung der BN.
Merke
Mit einem Verhältnis von ca. 10 : 1 sind Frauen deutlich häufiger von der BN betroffen
als Männer [1].
Der Erkrankungsbeginn der BN liegt mit 16 – 20 Jahren in der späten Adoleszenz [9] und erreicht das Höchsterkrankungsrisiko für eine BN-Ersterkrankung mit 22 Jahren
[15]. Bei der Mehrheit der Betroffenen zeigt der natürliche Verlauf der BN ein fluktuierendes
Muster [16]. So kam es in einer prospektiven Studie über einen 5-Jahres-Zeitraum bei 74% der
BN-Betroffenen zu einer vollständigen Remission, wovon allerdings 47% wieder rückfällig
wurden. Mit einer Remissionsrate von 91% innerhalb eines Jahres zeigt sich für die
adoleszente BN zwar eine sehr hohe Remissionsrate, allerdings sind mit 41% die Rückfallraten
entsprechend hoch [10].
Ein starkes Schlankheitsstreben, eine längere Erkrankungsdauer, eine stärkere Ausprägung
der Überbewertung von Figur und Gewicht sowie persistierende Essanfälle stellen prognostisch
ungünstige Faktoren für den natürlichen Verlauf der BN dar [17].
Cave
Die Mortalitätsrate und das Suizidrisiko sind bei Patientinnen mit BN erhöht. Eine
wiederholte Diagnostik zum körperlichen Zustand und zur aktuellen Suizidalität ist
daher wichtig.
Hinsichtlich der Remissionsraten im Therapieverlauf zeigt sich, dass der prozentuale
Anteil der vollremittierten erwachsenen Patientinnen mit der Dauer des Follow-ups
steigt, mit bis zu 27% über ein 4-Monats-Follow-up [18] und bis zu 70% an vollständig remittierten Patientinnen 12 Jahre nach stationärer
Therapie [19]. Wenngleich deutlich unter der gewichteten Sterberate der AN, zeigt sich mit einer
standardisierten Mortalitätsratio von 1,93 auch für die BN eine erhöhte Mortalitätsrate
im Vergleich zur Normalbevölkerung [20]. Darüber hinaus ist das Suizidrisiko bei Personen mit BN erhöht [21]. Patientinnen mit geringerer Symptomausprägung gemessen anhand der Häufigkeit von
Essanfällen und unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen weisen eine bessere Prognose
hinsichtlich des Behandlungsverlaufs auf [22]. Des Weiteren sind für den Therapieverlauf prognostisch günstige Prädiktoren u. a.
eine rasche Reduktion der Häufigkeit unangemessener kompensatorischer Maßnahmen und
des gezügelten Essverhaltens [23], [24], [25], [26] sowie eine rasche Reduktion im Depressionsschweregrad [27].
Tipp für die Praxis
Eine rasche Reduktion des gezügelten Essstils, der kompensatorischen Maßnahmen und
des Depressionsschweregrades sind für den Therapieverlauf prognostisch günstig. Zur
Vermeidung chronischer Verläufe empfiehlt sich daher eine wiederholte diagnostische
Erfassung dieser Variablen gerade zu Therapiebeginn.
Ätiologie und Aufrechterhaltung
Ätiologie und Aufrechterhaltung
Kognitiv-behaviorale Modelle gehen von einer multifaktoriellen Entstehung und Aufrechterhaltung
der BN aus. Basierend auf der vorgenommenen Unterteilung in verhaltenstheoretischen
Lernmodellen werden im Folgenden die zentralen Befunde zu ätiologischen und aufrechterhaltenden
Faktoren der BN in prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren unterteilt,
für die sowohl individuelle als auch umweltbezogene Faktoren und deren Interaktion
von Bedeutung sind (für eine ausführlichere Darstellung siehe [28]). Eine zusammenfassende Darstellung findet sich in [Abb. 2].
Abb. 2 Kognitiv-behaviorales Ätiologie- und Aufrechterhaltungsmodell der BN.
Prädisponierende individuelle und umweltbedingte Faktoren
Individuelle Faktoren
Familienstudien und populationsbasierte Zwillingsstudien weisen auf eine genetische
Beteiligung an der Entstehung der BN hin, wenngleich der Einfluss der Erblichkeit
für die BN je nach Studie mit 28 – 83% sehr stark variiert. In einer molekulargenetischen
Studie fand sich eine signifikante Kopplung der BN mit dem Chromosom 10p und 14q,
Replikationen hierzu stehen allerdings noch aus. Studien zum Zusammenhang der BN mit
Genen, die einen Einfluss auf Appetit, Stimmung und Gewichtsregulation nehmen, zeigen
hingegen ein sehr uneinheitliches Bild: In einigen Studien zeigte sich eine Assoziation
mit dem Serotonintransporter 5-HTTLPR sowie den Serotoninrezeptoren 5-HT2A und 5-HT2C,
in anderen wiederum nicht. Vor dem Hintergrund der hohen Heterogenität dieser Studien
erscheint es wahrscheinlicher, dass genetische Faktoren in der Interaktion mit der
Umwelt an der Entstehung der BN beteiligt sind. So zeigte sich eine stärkere Ausprägung
im „Sensation Seeking“ bei Frauen mit bulimischen Symptomen und früherer Missbrauchserfahrung,
die Trägerinnen des kurzen 5-HTTLPR bzw. des A1-Allels der Genvariante DRD2 Taq1A
waren (für einen Überblick siehe [29]).
Merke
Eine genetische Beteiligung an der Entstehung der BN ist plausibel, aber noch nicht
eindeutig geklärt.
Neben genetischen und erblichen Faktoren wurden im Zusammenhang mit der Entstehung
der BN Diätverhalten und Fasten sowie Adipositas in der Kindheit als ätiologisch relevante
individuelle Faktoren untersucht. Während der Zusammenhang von restriktivem Essverhalten
und der späteren Entstehung bulimischen Essverhaltens durch eine Reihe von prospektiven
Studien als gesichert gilt [30], ist die Rolle kindlicher Adipositas als Risikofaktor weniger eindeutig. Zwar liefern
retrospektiv erhobene Daten an Patientinnen mit BN Hinweise für eine ätiologische
Bedeutung der kindlichen Adipositas für eine spätere BN [31], prospektive Studien hierzu stehen allerdings noch aus.
Umweltfaktoren
Eine Reihe von Umweltfaktoren wurde bez. der Entstehung der BN empirisch untersucht.
Für die meisten der untersuchten Faktoren lässt sich allerdings nur bedingt eine kausale
Schlussfolgerung im Hinblick auf ihre Rolle bei der Entstehung der BN treffen, da
die meisten Befunde aus retrospektiven und Querschnitterhebungen stammen und prospektive
Studien selten sind.
Einige Studien liefern Hinweise für eine familiäre Transmission von bulimischem Essverhalten.
So zeigte sich über verschiedene retrospektive und Querschnittstudien hinweg, dass
elterliches Essverhalten (insbesondere ein restriktiver Ernährungsstil), elterliche
Kommunikation zum Thema Figur, Essen und Bewegung sowie der ernährungsbezogene Erziehungsstil
der Eltern in Bezug auf das Essverhalten der Kinder Einfluss nimmt [32]. In einer prospektiven Studie waren u. a. mütterliches restriktives Essverhalten
und mütterlicher Schlankheitsdrang erfasst zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes prädiktiv
für das Überessen des Kindes 5 Jahre später [33].
Merke
Wahrgenommener Schlankheitsdruck und ein internalisiertes Schlankheitsbild sind Risikofaktoren
für die Entstehung einer BN.
Missbräuchliche Erfahrungen scheinen ebenfalls mit späteren spezifischen Ess- und
Gewichtsproblemen assoziiert zu sein. Eine Metaanalyse über verschiedene Querschnittstudien
ergab eine 2,7-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit eines sexuellen Missbrauchs für Personen
mit im Vergleich zu Personen ohne BN. Für andere Formen des Missbrauchs zeigte sich
eine 2,6-fache Erhöhung bei körperlichem und 4,1-fache Erhöhung bei emotionalem Missbrauch
[34]. Auch prospektiv zeigte sich über mehrere Studien hinweg eine Assoziation von missbräuchlichen
Erfahrungen in der Kindheit mit einer signifikant erhöhten Wahrscheinlichkeit von
selbstinduziertem Erbrechen bzw. der Entwicklung einer partiellen BN bei adoleszenten
Frauen [35], [36] und anderen Essstörungen [37].
Soziokulturelle Einflüsse gehören zu den empirisch am besten untersuchten umweltbedingten
Risikofaktoren für die Entstehung von Essstörungen. In der Tat zeigen sowohl Studien
im Querschnitt- als auch longitudinalen Design, dass v. a. der wahrgenommene soziokulturelle
Schlankheitsdruck und die Internalisierung des extremen Schlankheitsideals westlicher
Industrieländer mit der Entwicklung bulimischer Symptome assoziiert sind [30].
Auslösende individuelle und umweltbedingte Faktoren
Individuelle Faktoren
Persönlichkeitsvariablen, die als Auslöser für eine BN untersucht wurden, umfassen
impulsives Verhalten, Perfektionismus, negative Emotionalität und Selbstwert. Einer
Metaanalyse zufolge berichten Personen mit im Vergleich zu Personen ohne BN [38], unter positiver und negativer Stimmung vermehrt impulsiv zu handeln. Dies deckt
sich auch mit Ergebnissen von Studien, die impulsives Verhalten anhand von Paradigmen
erfasst haben, die motorische Verhaltensinhibition erfassen. Hier zeigte sich über
mehrere Studien hinweg, dass BN-Patientinnen motorische Inhibitionsdefizite (und damit
ein starkes Annäherungsverhalten) v. a. auf störungstypische Reize aufweisen [39]. Darüber hinaus zeigt sich über verschiedene prospektive Studien hinweg, dass negative
Emotionalität, im Sinne einer erhöhten Tendenz zur Wahrnehmung negativer Emotionen,
die Entstehung bulimischer Symptome prädiziert [40].
Merke
Sorgen um die Figur und Gewicht sowie Körperunzufriedenheit gelten als Risikofaktoren.
Gleichermaßen liefern Studien Hinweise, dass Personen mit aktueller und remittierter
BN im Vergleich zu gesunden Personen durch signifikant höhere Ansprüche gegenüber
sich selbst gekennzeichnet sind [38], [41]. Prospektive Studien hingegen liefern ein eher uneinheitliches Bild zur Rolle des
Perfektionismus für die Entstehung der BN. Ähnlich wie Perfektionismus nimmt auch
der Selbstwert in kognitiv-behavioralen Ätiologiemodellen eine zentrale Rolle ein.
In Querschnitterhebungen zeigen sich niedrigere Werte im Selbstwert bei BN-Patientinnen
im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen [42], wenngleich die meisten prospektiven Studien keinen Zusammenhang zwischen negativem
Selbstwert und der Entstehung von Essstörungssymptomen finden konnten [30]. Letzteres könnte allerdings auch auf die zu geringe Anzahl an Neuerkrankungen im
Follow-up zurückzuführen sein.
Trotz der Unterschiede, die sich in den genannten Faktoren zwischen Personen mit und
ohne BN finden, ist eine kausale Schlussfolgerung in Bezug auf die Rolle dieser Faktoren
für Entstehung der BN allerdings schwierig, da die meisten Studien aus retrospektiven
und Querschnitterhebungen stammen und damit zunächst als Korrelate der BN eingestuft
werden müssen. Demgegenüber zeigt sich in einer Reihe von prospektiven Studien, dass
Sorgen um die Figur und das Gewicht sowie Körperunzufriedenheit robuste Risikofaktoren
für die Entstehung der (zumindest subklinischen) BN darstellen [30].
Umweltbedingte Faktoren
Retrospektive Erhebungen liefern zwar Hinweise, dass kritische Lebensereignisse, chronischer
und interpersoneller Stress im Vorfeld einer AN- und BN-Erkrankung eine Rolle spielen
[43]. Demgegenüber liefern andere Studien Hinweise, dass dieser Zusammenhang zum einen
auch bei anderen psychischen Störungen (retrospektiv erhoben) besteht, zum anderen
durch die Komorbidität mit anderen psychischen Störungen erklärt wird [44]. Dennoch ist es sinnvoll, diese Ereignisse im Rahmen der Fallkonzeption zu erfassen,
da sie meist für die Patientinnen subjektiv von hoher Bedeutung sind.
Negative Kommentare über Gewicht und Figur scheinen ebenfalls die Entstehung der BN
zu begünstigen. So zeigte sich in mehreren Studien eine negative Korrelation negativer
körperbezogener Kommentare vonseiten der Mütter mit der Körperunzufriedenheit und
bulimischem Essverhalten bei deren Töchtern [45]. Darüber hinaus weisen auch einige longitudinale Studien auf den Einfluss negativer
verbaler Äußerungen auf körperbezogene Sorgen hin [32]. Das folgende Fallbeispiel illustriert derartige Zusammenhänge.
Fallbeispiel
Vera M. berichtet, dass das Thema „Körpergewicht“ immer ein Thema in ihrer Familie
gewesen sei. Die Mutter habe sehr auf ihre eigene Figur geachtet, habe zum Beispiel
einmal in der Woche ihren Diättag gemacht und an solchen Tagen nichts gegessen. Die
Mutter habe aber auch das Gewicht ihrer Tochter Vera sehr kritisch beäugt und immer
wieder verletzende Kommentare gemacht. Sie erinnere sich, dass die Mutter öfter zu
ihr gesagt habe, dass sie weniger essen solle, damit sie nicht „aufgehe wie ein Hefeteig“.
Sie habe darunter sehr gelitten und dann auch versucht, weniger zu essen, um abzunehmen.
Aufrechterhaltende individuelle und umweltbedingte Faktoren
Individuelle Faktoren
Restriktives Essverhalten und kognitive Nahrungsrestriktion (d. h., der Versuch, durch
selbst auferlegte Regeln den Verzehr bestimmter Nahrungsmittel einzuschränken) konnten
in mehreren experimentellen und Feldstudien als relevante Faktoren für vermehrtes
Essen identifiziert werden [46]. Ein weiterer Faktor, der sich über mehrere Feldstudien hinweg als zentral für die
Aufrechterhaltung der BN gezeigt hat, ist negativer Affekt.
Merke
Negativer Affekt ist bei Personen mit BN im Vorfeld eines Essanfalls signifikant stärker
ausgeprägt, als dies vor einer regulären Mahlzeit bzw. allgemein der Fall ist [47].
Weniger einheitlich hingegen ist die Befundlage hinsichtlich der Veränderung des negativen
Affektes infolge eines Essanfalls sowie infolge unangemessener kompensatorischer Maßnahmen.
Einerseits ergaben sich in Feldstudien Verbesserungen im negativen Affekt sowohl im
Zuge eines Essanfalls als auch im Zuge kompensatorischer Maßnahmen [48], während sich in anderen Feldstudien eine Reduktion des negativen Affektes lediglich
im Anschluss an den Einsatz kompensatorischer Maßnahmen zeigte [47]. Die Unterschiede in den Befunden könnten dabei auf die Erfassung des negativen
Affektes zurückzuführen sein: In den meisten Studien wird negativer Affekt lediglich
als globales Maß erfasst, wodurch sich eine Veränderung in der Qualität einer Emotion
im Zuge eines Ess-Brech-Anfalls nicht erfassen lässt. In der Tat zeigen Feldstudien,
die u. a. die Qualität der Emotion berücksichtigen, dass sich Emotionen wie Schuld,
Ärger, Angst und Trauer im Zuge eines Essanfalls und im Zuge kompensatorischer Maßnahmen
reduzieren, während andere Emotionen sich nicht verändern oder im Zuge bulimischen
Verhaltens hinzukommen [48].
Fallbeispiel
Marie hat vor allem dann Essanfälle, wenn sie unangenehme Gefühle erlebt. Ihr letzter
Essanfall wurde zum Beispiel dadurch ausgelöst, dass sie sich innerlich sehr unter
Druck und angespannt gefühlt habe. Sie habe den ganzen Tag in der Bibliothek für die
Mathematik-Klausur gelernt. Der Lernstoff sei sehr schwer und sie habe Angst bekommen,
dass sie die Klausur nicht schaffen werde. Als sie abends nach Hause gekommen sei,
habe sie sich so sehr unter Druck gefühlt, dass sie sich gar nicht habe entspannen
können. Sie sei dann „über den Kühlschrank hergefallen“ und habe sich nur noch auf
das Essen konzentriert. Allmählich sei sie dann ruhiger geworden, habe sich aber auch
Vorwürfe gemacht, dass sie sich wieder habe so „gehen“ lassen. Das habe sie traurig
gemacht und sie habe sich Sorgen gemacht, dass sie durch diese Essanfälle auch noch
übergewichtig werden könne.
Ein Mechanismus, der in Bezug auf den Zusammenhang von negativem Affekt und bulimischem
Essverhalten untersucht wurde, ist die Annahme, dass es Patientinnen mit BN an Strategien
fehlt, adäquat mit negativen Stimmungen umzugehen. In der Tat zeigt eine Reihe von
Fragebogenerhebungen, dass Patientinnen mit BN verglichen mit gesunden Personen vermehrt
von dysfunktionalen Emotionsregulationsstrategien berichten [49]. In einer prospektiven Studie war darüber hinaus Grübeln mit der Entstehung einer
BN assoziiert [50]. Diese Befunde unterstützen die Annahme, dass der Zusammenhang von negativen Emotionen
auf bulimisches Essverhalten über dysfunktionale Strategien der Emotionsregulation
vermittelt wird.
Tipp für die Praxis
(Kognitive) Nahrungsrestriktion, negativer Affekt und Defizite in der Emotionsregulation
sind relevante aufrechterhaltende Faktoren von bulimischem Essverhalten. Eine detaillierte
Erfassung dieser Variablen im Rahmen einer Verhaltensanalyse ist daher zentral.
Eine ausgeprägte Körperunzufriedenheit als emotionales Korrelat der Überbewertung
von Figur und Gewicht in Bezug auf den Selbstwert ist nicht nur für die Entstehung,
sondern auch für die Aufrechterhaltung der BN von zentraler Bedeutung.
Merke
Eine hohe Körperunzufriedenheit ist mit einem ungünstigen Therapieverlauf und einer
hohen Rückfallrate der BN assoziiert [51], [52].
Von Relevanz ist auch, dass gewichts- und körperbezogene Reize bei BN-Patientinnen
deutlich stärker mit dem allgemeinen Selbstwert verknüpft zu sein scheinen, als dies
bei gesunden Personen der Fall ist [53]. Dies ist deshalb wichtig, weil Patientinnen mit BN bei der Betrachtung anderer
(dickerer und dünnerer) Körper durch Aufwärtsvergleiche gekennzeichnet sind, während
gesunde Personen Abwärtsvergleiche durchführen [54]. Darüber hinaus lenken Patientinnen mit BN in Situationen, in denen sie ausschließlich
mit dem eigenen Körper konfrontiert sind, ihre Aufmerksamkeit (gemessen anhand der
Blicke mittels Blickbewegungsmessung) vermehrt auf negativ bewertete Körperzonen.
Demgegenüber findet sich bei gesunden Frauen ein ausgewogenes Blickmuster zwischen
positiv und negativ bewerteten Körperzonen [55].
Tipp für die Praxis
Vor dem Hintergrund der Befunde, die eine enge Verknüpfung von gewichts- und körperbezogenen
Reizen mit dem allgemeinen Selbstwert nahelegen [53], sollten im Rahmen der Verhaltensanalyse nicht nur der körperbezogene Selbstwert,
sondern auch leistungsbezogene und soziale Aspekte des Selbstwertes erfasst werden.
Zudem gilt es zu eruieren, inwieweit diese durch das Körperbild der Patientin beeinflusst
werden.
Umweltbedingte Faktoren
Neben den genannten individuellen Faktoren gibt es umweltbedingte Faktoren, die an
der Aufrechterhaltung der BN beteiligt zu sein scheinen:
-
das gesellschaftlich determinierte Schlankheitsideal
-
die hohe Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln
-
unterschiedliche Stressoren
Bezüglich des gesellschaftlichen Schlankheitsideals und der damit zusammenhängenden
Körperunzufriedenheit wird auf die vorangegangenen Abschnitte verwiesen.
Hinweise aus der experimentellen Forschung zeigen, dass die Konfrontation mit hochkalorischen
Nahrungsmitteln mit dem Auftreten von Essanfällen bei der BN assoziiert ist. Blickbewegungs-
und Reaktionszeitstudien sowie Studien, die die elektrokortikale Aktivierung bei der
Betrachtung hochkalorischer und neutraler Reize erfassen, konnten zeigen, dass hochkalorische
Nahrungsreize bei Personen mit im Vergleich zu Personen ohne BN deutlich mehr Aufmerksamkeit
binden [56]. Darüber hinaus führt die geschmackliche, aber auch die visuelle und olfaktorische
Konfrontation mit hochkalorischem Essen bei Patientinnen mit BN zu einem stärkeren
Anstieg des subjektiven Essdrangs und des Kontrollverlusts sowie des negativen Affekts
[57], [58], was wiederum die Wahrscheinlichkeit eines Essanfalls prädiziert [46], [47].
Tipp für die Praxis
Gerade vor dem Hintergrund der starken Verfügbarkeit von hochkalorischem Essen ist
es daher wichtig, mit BN-Patientinnen Strategien zum Umgang mit der hohen Verfügbarkeit
von Nahrungsmittelreizen zu erarbeiten.
Auch unterschiedliche belastende Ereignisse (Stressoren) werden mit bulimischem Essverhalten
in Verbindung gebracht, indem gezeigt werden konnte, dass sowohl leistungsbezogene
als auch evaluative und soziale Stressoren bei BN-Patientinnen zu einem Anstieg des
Essdrangs führen [59]. Darüber hinaus kommt es im Vorfeld eines Ess-Brech-Anfalls zu einem zunehmenden
Anstieg des subjektiv empfundenen Stresserlebens, zudem berichten BN-Patientinnen
an Tagen mit Ess-Brech-Anfällen vermehrt von subjektivem Stresserleben im Vergleich
zum Stresserleben an anderen Tagen.
Diagnostik
Körperliche Diagnostik
Da bei Patientinnen mit BN aufgrund des Erbrechens häufig eine Hypokaliämie und damit
verbunden Veränderungen im Elektrokardiogramm vorliegen (sowie andere Komplikationen
auftreten können), sollte der Hausarzt vor Therapiebeginn (d. h. im Verlauf der probatorischen
Sitzungen) immer auch den körperlichen Zustand erfassen, um ggf. eine stationäre Aufnahme
in Betracht zu ziehen. Neben der Anthropometrie gehören hierzu auch ein Elektrokardiogramm
und Laborparameter (Blutbild, Elektrolyte, Nierenstatus). Darüber hinaus zeigt die
Untersuchung der Mundhöhle und Speicheldrüsen, ob und inwiefern durch das Erbrechen
Zahnschäden und vergrößerte Ohr- und Zungengrundspeicheldrüsen vorliegen. In Abhängigkeit
der bulimischen Symptomatik ist die Konzentration der Speichel-Amylase im Serum bei
Patientinnen mit BN erhöht, sodass eine Erfassung der Amylase auch im Rahmen der Verlaufsdiagnostik
sinnvoll sein kann [60].
Psychologische Diagnostik
Für die Behandlungsplanung der BN sollte immer eine vertiefende, auf die Therapieplanung
der BN ausgerichtete Diagnostik durchgeführt werden. Aufgrund der hohen Komorbidität
der BN mit anderen psychischen Störungen wird zudem die Erfassung des gesamten Spektrums
der psychischen Störungen anhand eines strukturierten Interviews empfohlen.
Merke
Das strukturierte klinische Interview sowie das Diagnostische Interview für Psychische
Störungen gelten als Goldstandardinstrumente.
Für die vertiefende BN-Diagnostik sollten ein strukturiertes Verfahren zur Erfassung
der Psychopathologie der BN, eine Verhaltensanalyse und Tagebücher zum Einsatz kommen.
Strukturierte essstörungsspezifische Interviews im deutschen Sprachraum sind u. a.
die Eating Disorder Examination (EDE; deutschsprachige Fassung [61]) und die Child Eating Disorder Examination (Ch-EDE; deutschsprachige Fassung [62]). Neben einer kategorialen Diagnostik kann man mittels dieser Verfahren die mit
Essstörungen assoziierte Psychopathologie detailliert erfassen. So erheben z. B. EDE
und Ch-EDE zentrale Aspekte wie
Merke
Die Erfassung der Psychopathologie der BN sollte systematisch anhand eines auf Essstörungen
ausgerichteten Interviews erfolgen.
Gerade aufgrund der Befunde, die zeigen, dass eine rasche Reduktion in der BN-Symptomatik
prognostisch günstig ist (z. B. [24]), eignet sich der Einsatz validierter Fragebögen – nicht nur für die frühe Identifikation
von Verdachtsfällen, sondern auch zur Verlaufsevaluation. Ein Überblick über die gängigsten
Verfahren findet sich in den S3-Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung von Essstörungen
[60]. So erfasst der EDE-Questionnaire (EDE-Q) sowohl in der Erwachsenenversion als auch
in der Kindversion bezogen auf einen Zeitraum der vorangegangenen 28 Tage Informationen
zur Häufigkeit relevanter Kernaspekte der einzelnen Essstörungen entsprechend der
diagnostischen Kriterien. Zusätzlich werden anhand der Skalen gezügeltes Essverhalten,
essensbezogene Sorgen sowie Sorgen um Gewicht und Figur zentrale Aspekte der mit Essstörungen
assoziierten Psychopathologie erhoben. Beide Fragebogenverfahren stehen kostenlos
zur Verfügung (s. [Kasten]).
Praxis
Strukturierte spezifische Interviews und Fragebögen
Für den deutschsprachigen Raum sind die Materialien des EDE in elektronischer Form
frei verfügbar:
Der Einsatz eines Ernährungs- und Essanfallstagebuchs ermöglicht eine fundierte Verhaltensdiagnostik
im Hinblick auf vorangehende, begleitende und folgende Komponenten von Ess-Brech-Anfällen
bei zeitgleicher Erfassung der Mahlzeitenmenge und -struktur.
Merke
Im Unterschied zur retrospektiven Befragung durch Fragebögen und Interview liefern
Tagebücher deutlich genauere Informationen zu situativen Faktoren von Essanfällen.
Tipp für die Praxis
Es empfiehlt sich, das Ernährungs- und Essanfalltagebuch über die gesamte Therapiespanne
zu nutzen, da es eine gute Grundlage für die Erfassung des Therapieverlaufs und eine
fundierte therapeutische Auseinandersetzung mit Rückfällen ermöglicht.
Behandlung der BN
Für die Indikation, Planung und Durchführung einer Behandlung der BN können Therapeuten
auf evidenzbasierte Empfehlungen in der revidierten Fassung der S3-Leitlinie zurückgreifen
(http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-026.html; AWMF Register Nr. 051-026). Der Evidenzgrad beeinflusst, wie stark und verbindlich
die in den Leitlinien angeführten Behandlungsempfehlungen formuliert werden:
-
Eine A-Empfehlung ist eine „Soll“-Empfehlung und zeigt an, dass die Empfehlung auf
einer sehr hohen empirischen Evidenz fußt. Daher sollte einer A-Empfehlung Folge geleistet
werden.
-
Eine B-Empfehlung ist eine „Sollte“-Empfehlung. Sie basiert auf einer geringeren empirischen
Evidenz als die A-Empfehlung und ist daher weniger verbindlich.
-
Noch weniger verbindlich ist eine „Kann“-Empfehlung (Empfehlungsgrad „O“), da hierfür
lediglich Expertenmeinungen oder Extrapolationen von Studienbefunden mit Evidenzgraden
IIa, IIb oder III zu einer ähnlichen Thematik vorliegen.
-
Ein Klinischer Konsensuspunkt („KKP“) ist eine Expertenempfehlung der Leitliniengruppe,
die ausschließlich auf Erfahrungswissen in der Behandlung von Patientinnen mit Essstörung
beruht.
Merke
Innerhalb der Essstörungen ist der Forschungsstand zur BN am besten.
Aufgrund des guten Forschungsstands zur BN lassen sich für diese Erkrankung klare
Behandlungsempfehlungen mit hohen Evidenzgraden formulieren:
-
Sowohl Jugendlichen als auch Erwachsenen mit BN soll als Behandlungsverfahren der
ersten Wahl eine Psychotherapie angeboten werden (A-Empfehlung).
-
Da die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) das am besten beforschte Psychotherapieverfahren
mit der höchsten Evidenz darstellt, sollte sie Jugendlichen und Erwachsenen mit BN
als erstes angeboten werden (B-Empfehlung).
-
Wenn KVT im Einzelfall nicht wirksam ist oder von Personen mit BN nicht gewollt wird,
kann Erwachsenen mit BN als Alternative eine interpersonelle Therapie (IPT) empfohlen
werden (B-Empfehlung), die allerdings in Deutschland im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie
nicht zugelassen ist.
-
Alternativ kann auch tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie empfohlen werden
(O-Empfehlung).
-
Bei Kindern und Jugendlichen kann auch der Einbezug der Familie (familienbasierte
Therapie) empfohlen werden (B-Empfehlung).
-
Eine Pharmakotherapie soll bei Personen mit BN immer nur in Kombination mit Psychotherapie
angeboten werden (A-Empfehlung).
-
Wenn eine Pharmakotherapie angeboten wird, dann sollte Fluoxetin eingesetzt werden
(B-Empfehlung), wobei eine Behandlung mit 60 mg/Tag wirksamer ist als eine Dosis von
20 mg/Tag. Ein Behandlungsversuch mit Fluoxetin sollte mit einer Mindestdauer von
4 Wochen unternommen werden, allerdings ist für den Therapieerfolg von einer längeren
Dauer auszugehen.
Cave
Für die Behandlung der BN mittels Pharmakotherapie ist in Deutschland ausschließlich
Fluoxetin zugelassen.
Da für die KVT die meisten Befunde mit der höchsten empirischen Evidenz vorliegen,
wird im Folgenden die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung der BN detaillierter
beschrieben. Für ausführliche Empfehlungen zur Behandlung der BN sowie zur Darstellung
anderer therapeutischer Ansätze zur Behandlung der BN wird auf die revidierte Fassung
der S3-Leitlinie verwiesen (http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-026.html; AWMF Register Nr. 051-026).
Fazit für die Praxis
Die kognitive Verhaltenstherapie ist die Therapie der ersten Wahl bei BN. Eine Pharmakotherapie
– hier ist für die BN ausschließlich Fluoxetin zugelassen – sollte nur in Kombination
mit Psychotherapie angeboten werden.
Kognitive Verhaltenstherapie bei BN
Die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung der BN ([Tab. 2]) schließt an die fundierte BN-Diagnostik mit einer kognitiven Vorbereitung an (s.
auch [28], [63]). Ziel dieser Phase ist es, mit der Patientin die Vor- und Nachteile der BN herauszuarbeiten,
wodurch der Therapeut einen guten Einblick in aufrechterhaltende Faktoren der Essstörung
erhält und die Behandlungsmotivation der Patientin verbessert.
Aufbauend auf den diagnostischen Befunden aus Interview, Fragebögen und Tagebüchern
sowie der Herausarbeitung der für die Patientin wichtigsten Vor- und Nachteile der
BN vermittelt der Therapeut der Patientin ein plausibles Erklärungsmodell für die
Entstehung und Aufrechterhaltung ihrer Störung. Hierbei ist es wichtig, dass der Therapeut
dieses Modell nicht doziert, sondern das Modell in einem interaktiven Vorgang mit
der Patientin erarbeitet. Gemeinsam mit der Patientin kann im Anschluss ein Veränderungsmodell
abgeleitet werden.
Tipps für die Praxis
-
Es hat sich in der Therapie bewährt, den Patientinnen eine Woche Bedenkzeit zu geben,
sich aktiv für oder gegen eine Therapie zu entscheiden und eine direkte Einflussnahme
vonseiten des Therapeuten zu vermeiden.
-
Das individuelle Störungsmodell sollte nicht durch therapeutisches Dozieren, sondern
im Dialog mit der Patientin erarbeitet werden. Dies fördert erfahrungsgemäß die Motivation
der Patientin und kann die Therapeut-Patient-Beziehung stärken.
Tab. 2 Phasen der kognitiven Verhaltenstherapie der BN.
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Diagnostik
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Vorbereitung
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Intensivphase
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Nachsorge
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SKID/DIPS
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essstörungsspezifisches Interview
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Fragebögen zur Ess- und allgemeinen Psychopathologie
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Ernährungs- und Essanfalltagebuch
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Erarbeitung von Vor- und Nachteilen der Therapie der BN
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an Patientin angepasstes Entstehungs- und Aufrechterhaltungsmodell
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Ableitung eines Veränderungsmodells
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Bedenkzeit
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Normalisierung des Essverhaltens
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Normalisierung der Körperbildstörung
-
Therapie dysfunktionaler Stressreaktionen
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Normalisierung des Essverhaltens
Ziel dieses Moduls ist eine Wiedererlangung von Hunger und Sättigung durch den Aufbau
einer regelmäßigen und ausgewogenen Mahlzeiteneinnahme, die ausreichende Mengen und
für die Patientin „verbotene“ Nahrungsmittel mit einschließt. Hierfür werden unterschiedliche
Interventionen eingesetzt.
Merke
Alle Interventionen wollen Patientinnen nicht zu Veränderungen zwingen, sondern sie
anhand von Techniken der Gesprächsführung zur Veränderung motivieren [28].
Ein wesentlicher Baustein hin zu einer Normalisierung des Essverhaltens ist das gemeinsame
Erstellen von Mahlzeitenplänen, die die gesundheitlichen Aspekte zur Verteilung der Makronährstoffe nach den Empfehlungen
der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (www.dge.de) berücksichtigen. Vor allem bei Patientinnen, die Schwierigkeiten in der Wahrnehmung
von Hunger und Sättigung berichten, sollte zunächst eine dreigeteilte Mahlzeitenstruktur
(morgens, mittags, abends) mit mindestens einer warmen Mahlzeit täglich (inkl. eines
Nachtisches) gewählt werden.
Zwischenmahlzeiten sollten erst eingesetzt werden, wenn die Patientin Hunger und Sättigung ausreichend
gut wahrnehmen kann.
Merke
Eine Normalisierung des Essverhaltens beinhaltet auch einen entspannten Umgang mit
„verbotenen“ Nahrungsmitteln.
Sogenannte „verbotene“ Nahrungsmittel sollten sukzessive, u. a. in Form von Zwischenmahlzeiten
und als Nachtisch, in den alltäglichen Speiseplan integriert werden. Aufgrund der
hohen Angst, die mit hochkalorischen Nahrungsmitteln einhergeht, sind Mahlzeitenbegleitungen
auch in der ambulanten Therapie der BN eine wichtige therapeutische Interventionsmethode.
Tipp für die Praxis
Um die Veränderungsmotivation der Patientin zu erhalten, empfiehlt sich ein graduiertes
Vorgehen bei der Integration „verbotener“ Nahrungsmittel in den regulären Ernährungsplan.
Die therapeutische Mahlzeitenbegleitung soll Patientinnen mit BN unterstützen, Nahrungsmittel, die im Alltag vermieden werden
(z. B. Butter beim Frühstück, warme Mahlzeiten, Süßigkeiten) oder lange nicht mehr
konsumiert wurden, wieder in den Alltag zu integrieren. Während die meisten Mahlzeitenbegleitungen
aus Zeitgründen in der therapeutischen Praxis und nahegelegenen Restaurants und Mensen
stattfinden, sollten Mahlzeitenbegleitungen nach Möglichkeit auch im heimischen Umfeld
erfolgen. In der Vorbereitung einer solchen Mahlzeitenbegleitung sollten Ziele der
Mahlzeitenbegleitung (z. B. Lernen, wieder Butter zu essen; langsames Essen lernen)
formuliert und dysfunktionale Kognitionen und damit einhergehende Emotionen im sokratischen
Dialog identifiziert werden. Im Anschluss an die Mahlzeitenbegleitung sollte die Intervention
im Hinblick auf das formulierte Ziel nachbesprochen werden.
In der Regel reicht eine alleinige Erstellung eines Mahlzeitenplans nicht aus, um
ein normales Essverhalten zu erzielen. Ein kontinuierliches Dokumentieren des Essverhaltens
in Form eines Ernährungs- und Essanfalltagebuchs ermöglicht die Identifikation von situativen Faktoren und dysfunktionalen Gedanken,
die restriktives Essen bzw. Ess-Brech-Anfälle aufrechterhalten. Sie sollten daher
über die gesamte Therapiespanne hinweg zum Einsatz kommen. Für weitere Informationen
zum Einsatz dieser Tagebücher verweisen wir auf die Literatur [28].
Merke
Das Führen von Ernährungs- und Essanfalltagebüchern ist für die Patientinnen mit einem
gewissen Aufwand verbunden. Ein therapeutischer Nutzen daraus ergibt sich durch die
regelmäßige Einbindung dieser Tagebücher in die Therapie.
Da das Gewicht bei einigen Patientinnen mit BN unter dem zu erwartenden Gewicht liegt,
kann u. U. ein Gewichtsvertrag sinnvoll sein. Dieser sollte die wöchentlich notwendige Gewichtszunahme und entsprechende
Konsequenzen bei Nichteinhaltung beinhalten. Die Wahl der Konsequenzen (Bestrafung)
sollte nur in Absprache mit der Patientin erfolgen. Wichtig ist darüber hinaus, dass
der aversive Reiz dem unerwünschten Verhalten (Gewichtsabnahme bzw. Ausbleiben der
vereinbarten wöchentlichen Gewichtszunahme) kontingent folgt. Bei Erreichen des Zielgewichts
kann ein Gewichtshaltevertrag, der bei Nichteinhaltung ebenfalls mit Konsequenzen
verbunden sein sollte, sinnvoll sein.
Tipp für die Praxis
Es ist wichtig, dass die Patientin den Gewichtsvertrag nicht als Bestrafungselement
des Therapeuten wahrnimmt. Daher empfiehlt sich, die Patientin schon zu Therapiebeginn
über dieses Instrument aufzuklären und ihr zunächst eine Phase zuzugestehen, in der
sie mit therapeutischer Unterstützung versucht, die wöchentliche Zielvereinbarung
ohne Gewichtsvertrag zu erreichen.
Körperbildtherapie
Ziel der Körperbildtherapie ist es, die Überbewertung von Figur und Gewicht für den
Selbstwert zu reduzieren und eine bessere Akzeptanz des eigenen Körpers mit all seinen
Vorzügen sowie Mängeln zu erzielen. Hierfür eignen sich:
Bei der Körperbildexposition im Spiegel werden Patientinnen unter therapeutischer Anleitung instruiert, ihren
Körper wiederholt und über einen längeren Zeitraum zu betrachten und beschreiben.
Ziel dabei ist die Gewöhnung an den eigenen Körper, dessen Anblick im Alltag oftmals
vermieden wird. Darüber hinaus soll die Patientin eine entspanntere Haltung gegenüber
ihrem Körper entwickeln, indem sie lernt, diesen ganzheitlich zu betrachten. Bei der
BN konnte gezeigt werden, dass sich durch die Figurexposition körperbezogene Ängste
und dysfunktionale körperbezogene Kognitionen effektiv reduzieren lassen [65].
Merke
In der Regel werden bis zu 6 konsekutive Sitzungen à 120 Minuten (inkl. Nachbesprechung)
durchgeführt.
Für weitere Informationen zum konkreten Vorgehen bei der Figurexposition im Spiegel
verweisen wir auf [28].
Ergänzend zur Figurkonfrontation stellen kognitive Interventionen einen wichtigen Therapiebaustein dar; sie zielen auf eine Veränderung typischer körperbezogener
Denkfehler ab. Typische Denkfehler beinhalten z. B. Übergeneralisierungen („Wenn ich
zunehme, sieht mich keiner mehr“), abergläubisches Denken („Wenn ich vom Eis auch
nur probiere, habe ich morgen 2 Kilo mehr auf der Waage“) und Katastrophisierungen
(„Wenn ich auch nur 1 Kilogramm zunehme, sehe ich fett aus“). Über den sokratischen
Dialog können solche kognitiven Verzerrungen herausgearbeitet und systematisch nach
dem Realitätsgehalt überprüft werden. Unterstützend kann hier ein Körperbildtagebuch
eingesetzt werden [28], wobei darauf geachtet werden soll, dass die Patientin zeitgleich nicht zu viele
Tagebücher führt.
Tipp für die Praxis
Unter Berücksichtigung neuerer Ergebnisse aus der Expositionsforschung ist es sinnvoll,
die Figurkonfrontation möglichst variabel zu gestalten, d. h. an unterschiedlichen
Tagen, zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlicher Kleidung und bei unterschiedlichem
Sättigungsgrad.
Reduktion dysfunktionaler Stressreaktionen
Neben restriktivem Essverhalten gelten externe (umweltbezogene) und interne (in der
eigenen Person begründete) Stressoren sowie damit assoziierte negative Emotionen als
zentrale aufrechterhaltende Faktoren von Ess-Brech-Anfällen. Zusätzlich zu einem Fertigkeitstraining,
das den Umgang mit Stressoren verbessern soll, kann es sinnvoll sein, Patientinnen
mit essanfallsrelevanten Nahrungsmitteln zu konfrontieren, ohne dass diese jedoch
konsumiert werden. Solche Nahrungsmittelkonfrontationen sollten allerdings nur dann
durchgeführt werden, wenn sich die Patientin nicht mehr restriktiv ernährt. Denn dies
könnte u. U. zu einer verstärkten kognitiven Kontrolle in Bezug auf verbotene Nahrungsmittel
führen. Nahrungsmittelkonfrontationen sollten im Detail vorbesprochen werden, damit
die Patientinnen das Rational – eine Reduktion des Heißhungers ohne Nahrungskonsum
– verinnerlichen können.
Während einer Nahrungskonfrontation werden die Patientinnen angeleitet, an den essanfallsrelevanten
Nahrungsmitteln so lange zu riechen und zu schmecken, bis der Heißhunger bei einer
Skala von 0 bis 100 auf unter 30 abfällt, ohne dass dabei gegessen wird. Im Anschluss
werden die Nahrungsmittel entsorgt. Während die ersten Sitzungen unter dauerhafter
Anwesenheit des Therapeuten stattfinden (in der Regel in der Praxis), führt die Patientin
diese mit zunehmendem Therapiefortschritt in Abwesenheit des Therapeuten in Hochrisikoorten
(z. B. zu Hause, im Auto) und -situationen (z. B. nach einer negativen Stimmungsinduktion
durch Musik) durch. Für weitere Informationen zum Einsatz der Nahrungskonfrontation
verweisen wir auf [28].
Cave
Führen Sie keine Nahrungskonfrontation mit Reaktionsverhinderung bei BN-Patientinnen
durch, die sich noch restriktiv ernähren. Dies könnte die ohnehin stark ausgeprägte
kognitive Kontrolle in Bezug auf verbotene Nahrungsmittel verstärken.
Rückfallprophylaxe
Zur Rückfallprophylaxe gehört, dass man in der Therapie frühzeitig Übungssituationen
herstellt, in denen die Patientin gelernte Bewältigungsstrategien einsetzen kann.
Übungssituationen ergeben sich aus der regelmäßigen Analyse der Ernährungs- und Essanfallstagebücher.
Rückfälle sollten in der Therapie gezielt aufgegriffen werden mit dem Ziel, gelernte
Strategien hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu optimieren.
Gegen Therapieende können in Form eines Risikokalenders prospektiv kritische Situationen
für die Zeit nach der Therapie identifiziert und entsprechende Rückfallszenarien entworfen
werden (z. B. „Montags habe ich ab 12 Uhr bis abends Lehrveranstaltungen. Wenn ich
nicht vorher zu Mittag esse, werde ich abends einen Essanfall haben.“). Darauf aufbauend
kann die Patientin dann die gelernten Bewältigungsstrategien einsetzen.
Tipp für die Praxis
Das Anfertigen von Bewältigungsaudioaufnahmen kann für künftige Risikosituationen
sehr nützlich sein. Dabei entwerfen Therapeut und Patientin gemeinsam ein Skript für
eine konkrete Risikosituation. Das Abhören eines solchen Skripts vor Eintreten der
Risikosituation kann die Selbstwirksamkeit der Patientin erhöhen.
Kernaussagen
Der Erkrankungsbeginn der BN ist in der späten Adoleszenz. Die Erkrankung wird häufig
lange verheimlicht und nimmt oftmals unbehandelt einen chronischen Verlauf. Komorbide
psychische und Persönlichkeitsstörungen sind häufig. Kennzeichnend für BN-Patientinnen
ist eine ambivalente Therapiemotivation, die einerseits vom hohen Wunsch nach einer
Genesung, andererseits von einer geringen Toleranz gegenüber Änderungen im Essverhalten
und Gewicht geprägt ist. Daher ist die Förderung der Therapiemotivation durch entsprechende
Techniken der Gesprächsführung sehr wichtig. Behandlungsmethode der Wahl ist die kognitive
Verhaltenstherapie. Da eine rasche Reduktion des gezügelten Essverhaltens sowie der
Häufigkeit unangemessener kompensatorischer Maßnahmen Prädiktoren für einen günstigen
Therapieverlauf sind, sollten Interventionen, die auf eine Normalisierung des Essverhaltens
abzielen, frühzeitig in der Therapie implementiert werden.
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Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist Prof. Dr. Stephan Zipfel, Tübingen.