Goodman GS.
et al.
Psychological Counseling and Accuracy of Memory for Child Sexual Abuse.
Am Psychol 2017;
72: 920-931
Die Studienteilnehmer waren zwischen 1985 und 1987 an Strafprozessen beteiligt.
Damals (Zeitpunkt 1) wurden die Aussagen der Kinder sowie andere Belege
(Polizeiberichte, medizinische Untersuchungsergebnisse etc.) dokumentiert. 10–16
Jahre (Zeitpunkt 2) später wurden die Betroffenen erneut kontaktiert und
befragt.
Genauere Erinnerung nach Therapie
Das Ergebnis war erstaunlich eindeutig: Studienteilnehmer, die zu Zeitpunkt 1 eine
psychologische Beratung oder Therapie erhalten hatten, gaben zu Zeitpunkt 2
signifikant mehr richtige Antworten auf Fragen zu dem Missbrauch. Vor allem
übertriebene Darstellungen des Vorfalls traten bei den ehemaligen Therapie-Nutzern
seltener auf. Untertriebene Darstellungen waren in beiden Gruppen gleich häufig.
Die wahrscheinlichste Erklärung: In den therapeutischen Gesprächen wurden die Details
des Missbrauchs besprochen und die Erinnerung an sie so gefestigt. Auch das
erarbeitete Verständnis des Vorfalls (oder: der Vorfälle) hat vermutlich zu einer
kohärenten Schilderung beigetragen, die die Erinnerung festigt und erleichtert.
Möglich ist aber auch, dass therapeutische Interventionen zu einer Symptomreduktion
geführt und so die Erinnerung an das traumatische Ereignis erleichtert haben –
Studien belegen jedenfalls, dass Betroffene mit weniger psychopathologischen
Symptomen sich i.d.R- besser erinnern.
Missbrauch-Opfer sagen oftmals erst viele Jahre nach dem Ereignis als Zeugen
aus. Beeinflusst eine vorangegangene Therapie dabei ihre Aussage? (Quelle:
PhotoDisc)
Zuverlässige Aussagen – auch Jahre später
Die Autoren haben außerdem andere mögliche Faktoren berücksichtigt, wie die Schwere
des Missbrauchs, die Beziehung des Opfers zum Täter, Symptome einer
Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD), das Alter des Kindes und ob es eine
Zeugenaussage vor Gericht machen musste. Aber keiner dieser Faktoren beeinflusste
die Erinnerung der Kinder (später Jugendlichen oder jungen Erwachsenen) – nur eine
therapeutische Intervention in der Akutphase.
Dieses Ergebnis ist insbesondere deshalb bedeutsam, weil Missbrauch-Opfer sich oft
erst viele Jahre nach dem Ereignis zu Wort melden. Die Studie zeigt: Ihre
Glaubwürdigkeit wird durch eine vorangegangene Therapie nicht beeinträchtigt.
Zwar handelt es sich um eine epidemiologische Erhebung; die Teilnehmer wurden
nicht randomisiert einer Therapie zugeordnet. Kausale Zusammenhänge können daher
nicht sicher belegt werden. Es spricht jedoch einiges dafür, dass eine frühe
therapeutische Intervention weder den Betroffenen schadet noch ihrer Erinnerung
an das Ereignis – vorausgesetzt, dass keine Techniken verwendet werden, die die
Erinnerung aktiv manipulieren. Die gefestigte Erinnerung könnte auch
Zeugenaussagen der Opfer zugutekommen.
Dr. Nina Drexelius, Hamburg