Hintergrund
Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung
Posttraumatische Belastungsstörungen in Folge lange andauernder oder wiederholter interpersoneller Gewalt führen oftmals zu einem komplexen Störungsbild, das über die in der ICD-10 [1 ] beschriebenen Kriterien der PTBS hinausgeht und durch zusätzliche somatoforme und dissoziative Symptome, Affektregulationsstörungen, interaktionelle Störungen und Störungen des Selbstkonzeptes geprägt ist. Diese „komplexe PTBS“ [2 ] wird heute zumeist als das parallele Vorliegen der Kriterien der Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified (DESNOS) [3 ] und der PTBS-Kriterien operationalisiert [4 ]. Trotz überlappender Kriterien der komplexen PTBS und der Borderline-Persönlichkeitsstörung handelt es sich um signifikant abgegrenzte Entitäten [5 ]. In der ICD-11 wird die komplexe PTBS voraussichtlich als PTBS mit zusätzlichen Störungen der Emotionsregulation, des Selbstkonzeptes und der Beziehungsfähigkeit enthalten sein [6 ].
Durch den häufigen Ausschluss von PatientInnen mit komplexer PTBS aus randomisiert-kontrollierten Studien [7 ] und die fehlende Erfassung bedeutsamer Symptombereiche der komplexen PTBS fehlten lange Zeit klare Befunde zur Wirksamkeit eines trauma-fokussierten Vorgehens bei komplexer PTBS [8 ]. Gleichzeitig wurde immer wieder auf hohe Abbruchraten und ein schlechteres Ansprechen auf Therapie der PatientInnen mit komplexer PTBS hingewiesen [9 ]
[10 ]. In der Folge entstand insbesondere im deutschsprachigen Raum eine kritische Haltung gegenüber einer konfrontativen Bearbeitung traumatischer Erinnerungen zugunsten einer „Stabilisierung“ der PatientInnen [11 ]
[12 ].
Zur Rolle von „Stabilisierung“
Die Evidenz für ein stabilisierendes Vorgehen ist limitiert und weist nur geringe Effekte auf [13 ]. Auch kommt es infolge stabilisierender stationärer Behandlungen in den seltensten Fällen zu einer traumakonfrontativen Behandlung [14 ]. Damit wird PatientInnen mit komplexer PTBS oftmals ein wirksamer Behandlungsbaustein vorenthalten, ohne dass es dafür ausreichende empirische Evidenz gäbe [15 ]. Im Gegenteil konnten die Bedenken gegen ein traumafokussiertes Vorgehen in der Behandlung der komplexen PTBS in jüngerer Vergangenheit als Mythen entlarvt werden. So konnte gezeigt werden, dass ein traumakonfrontatives Vorgehen auch bei komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen, komorbiden Persönlichkeitsstörungen, selbstverletzendem Verhalten und sogar komorbider Psychose sicher und wirksam durchführbar ist [16 ]
[17 ]
[18 ]. Traumafokussierte Psychotherapie ist auch bei komplexer PTBS wirksamer als nicht traumafokussierte Psychotherapie und geht entgegen entsprechenden Befürchtungen nicht mit höheren Abbruchraten einher [19 ].
Gleichzeitig empfiehlt die Mehrzahl der ExpertInnen heute, das traumafokussierte Vorgehen bei PatientInnen mit komplexer PTBS, komorbider Borderline-Störung oder komplexen dissoziativen Störungen wie der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) oder der nicht näher bezeichneten dissoziativen Störung (DDNOS) [20 ] mit einem Training der Emotionsregulation zu kombinieren und in der Durchführung anzupassen [13 ]
[16 ]
[17 ]
[21 ]. Cloitre et al. [22 ] konnten zeigen, dass durch ein derartig angepasstes Vorgehen signifikant bessere Behandlungsergebnisse zu erzielen sind.
Fragestellungen
Im Rahmen der vorliegenden retrospektiven Untersuchung sollten die Symptomverläufe von PatientInnen mit komplexer PTBS nach schwerer körperlicher oder sexualisierter Gewalt in der Kindheit im Rahmen einer auf Traumakonfrontation und Fertigkeitenaufbau ausgerichteten stationären Behandlung analysiert werden. Darüber hinaus sollten mögliche Prädiktoren des Behandlungsverlaufes identifiziert werden.
Methode
Behandlungskonzept der Abteilung für Psychotraumatologie der Klinik St. Irmingard
Das Behandlungskonzept der Abteilung für Psychotraumatologie der Klinik St. Irmingard [23 ] versucht die oben genannten Befunde durch ein auf Traumakonfrontation einerseits, und Fertigkeitenaufbau mittels spezifischer Skillsgruppen [24 ]
[25 ] andererseits ausgerichtetes Vorgehen zu integrieren. Anders als in der DBT-PTSD [16 ] erfolgt die Traumakonfrontation nicht durch imaginatives Wiedererleben, sondern mittels EMDR [26 ]. In Abgrenzung von einer rein eklektischen Kombination „stabilisierender“ und konfrontativer Interventionen versteht sich das Behandlungskonzept als „Destabilisierung im Kontext von Stabilität“ [27 ]. „Stabilisierung“ schafft in diesem dialektischen Verständnis die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für destabilisierende Prozesse wie die konfrontative Bearbeitung traumatischer Erinnerungen. Tägliches Prozessmonitoring stellt sicher, dass allgemeine Wirkfaktoren wie eine gute therapeutische Beziehung und Veränderungsmotivation jederzeit in ausreichendem Maße realisiert sind [28 ].
Alle PatientInnen erhalten pro Woche 100–150 Min psychotherapeutische sowie 50 Min pflegerische Einzelgespräche. Die Traumakonfrontation mittels EMDR umfasst meist fünf bis zehn Behandlungsstunden. Darüber hinaus nehmen die PatientInnen wöchentlich an Gruppenangeboten zur Verbesserung der Stressregulation (75 Min.), der Emotionsregulation (75 Min.), der Achtsamkeit (100–200 Min.) sowie sozialer Kompetenzen (100 Min.) teil. Ergänzend bestehen Angebote zur Psychoedukation (75 Min.), Kunsttherapie (120 Min.), Körpertherapie (75 Min.), Imagination (25 Min.), Ressourcenaktivierung (100 Min.), Yoga (100 Min.), Qi Gong (50 Min.), Sozialberatung sowie ein umfassendes physiotherapeutisches Angebot. Die Einzel- und Gruppentherapien werden durch Psychologische PsychotherapeutInnen und FachärztInnen für Psychiatrie und/oder Psychosomatische Medizin durchgeführt. Alle EinzeltherapeutInnen sind zertifizierte EMDR-TherapeutInnen oder befinden sich in fortgeschrittener, engmaschig supervidierter Fortbildung. Interne und externe Fall- und Teamsupervisionen stellen eine hohe Manualtreue sicher. Für fallbezogene Besprechungen stehen wöchentlich mindestens 200 Min zur Verfügung.
Da die Behandlung der komplexen PTBS langfristig angelegte, integrierte Behandlungspläne erfordert und primär ambulant zu leisten ist, werden nur PatientInnen mit ambulanter Psychotherapie aufgenommen. Stets erfolgt eine enge Abstimmung mit den ambulanten BehandlerInnen, die über Fragebögen in die Anmeldung, Indikationsprüfung und Behandlungsplanung involviert sind. Zudem wird die Indikation in einem Vorgespräch überprüft.
Auch die aktive Bahnung eines Transfers von Therapieerfolgen in den Alltag nimmt einen hohen Stellenwert ein und wird durch die standardisierte Erarbeitung konkreter Ziele für die Zeit nach der Entlassung sowie regelmäßige Belastungserprobungen im häuslichen Umfeld unterstützt. Bei Bedarf werden Fallkonferenzen mit dem ambulanten Psychotherapeuten durchgeführt und Kontakt zu ergänzenden Unterstützungsangeboten wie Tagesstätten, therapeutischen Wohngruppen oder dem Sozialpsychiatrischen Dienst hergestellt.
Auf der Ebene konkreter Interventionen spielen Überlegungen, wie das traumakonfrontative Vorgehen an die Bedürfnisse von PatientInnen mit komplexer PTBS angepasst werden kann, eine zentrale Rolle. So kommen sowohl Techniken der „skills-assisted exposure“ [16 ] als auch Modifikationen der EMDR-Methode [21 ] zum Einsatz. Besonderes Augenmerk gilt dabei auch Phobien und Vermeidungsstrategien, die im Vorfeld der Konfrontation des Index-traumas durch spezifische Techniken reduziert werden können.
PatientInnen und Ablauf der Untersuchung
Die vorliegende retrospektive Analyse von Therapieverläufen beruht auf den Daten von 150 PatientInnen, die im Zeitraum von Juni 2013 bis Dezember 2016 in der Abteilung für Psychotraumatologie der Klinik St. Irmingard im Mittel 74,8 Tage (SD =15,2; min=49; max=98) behandelt wurden. Die testdiagnostischen Untersuchungen mittels revidierter Impact-of-Event-Scale (IES-R), Dissociative Experiences Scale – Taxon (DES-T), Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit (FFA) sowie der Hamburger Module zur Erfassung allgemeiner Aspekte psychosozialer Gesundheit für die therapeutische Praxis (HEALTH-49) erfolgten jeweils innerhalb von 2 Tagen nach Aufnahme (t1) beziehungsweise vor Entlassung (t2). Das Interview zur komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (I-kPTBS) sowie der strukturierte Interviewleitfaden zur Diagnose dissoziativer Störungen (SIDDS) wurden innerhalb der ersten zwei Behandlungswochen durch die zuständige Einzeltherapeutin durchgeführt. Die Diagnosen der PTBS sowie komorbider Störungen wurden anhand der ICD-10 Forschungskriterien [1 ] gestellt. Als Einschlusskriterien für die vorliegende Untersuchung wurden das Vorliegen einer PTBS gemäß ICD-10 [1 ] bezogen auf einen schweren körperlichen oder sexuellen Missbrauch in der Kindheit, das Vorliegen einer DESNOS sowie die schriftliche Zustimmung zur anonymisierten wissenschaftlichen Auswertung therapiebezogener Daten definiert. Im Sinne einer hohen externen Validität wurden keine Ausschlusskriterien festgelegt. Nicht eingeschlossen wurden die Daten von PatientInnen, die im betreffenden Zeitraum anlässlich einer vierwöchigen „Probetherapie“ aufgenommen wurden. Die Daten von elf PatientInnen (6,8%), die im betreffenden Zeitraum behandelt wurden und die Einschlusskriterien erfüllten, aber ihren Aufenthalt abbrachen oder disziplinarisch entlassen wurden, gingen nicht in die Untersuchungsstichprobe ein. Die Untersuchung wurde im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt.
Instrumente
Childhood Trauma Questionnaire (CTQ)
Der CTQ [29 ] ist ein Selbstbeurteilungsinstrument mit 34 Items und dient der retrospektiven Erfassung traumatischer Erfahrungen in der Kindheit. Mit je 5 Items werden sexueller Missbrauch, physischer Missbrauch, physische Vernachlässigung, emotionaler Missbrauch und emotionale Vernachlässigung erfasst. Die deutsche Übersetzung zeigt gute interne Konsistenzen [30 ].
Impact-of-Event Scale - Revised
Die IES-R [31 ] wurde von Maercker und Schützwohl [32 ] übersetzt und validiert. Das Selbstbeurteilungsinstrument besteht aus 22 Items, mittels derer die Skalen Intrusion, Vermeidung und Hyper-arousal erfasst werden. Die Items werden auf vierstufigen Likert-Skalen beantwortet. Die IES–R ist ein valides, änderungssensitives Verfahren mit insgesamt zufriedenstellenden psychometrischen Eigenschaften [33 ]. In der vorliegenden Untersuchung wurde die IES-R von den PatientInnen in Bezug auf alle traumatischen Erinnerungen ausgefüllt.
Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit
Die Langform des FFA [34 ] erfasst mit 30 Items reliabel (α=0,92) einen allgemeinen Faktor der Achtsamkeit. Die Items werden auf vierstufigen Likert-Skalen beantwortet.
Dissociative Experiences Scale – Taxon
Die deutsche Fassung der DES-T [35 ] wurde 2015 validiert [36 ]. Das Selbstbeurteilungsinstrument erfasst mit 8 Items, die mittels visueller Analogskalen beantwortet werden, reliabel (α=0,92) pathologische Dissoziation.
Hamburger Module zur Erfassung allgemeiner Aspekte psychosozialer Gesundheit für die therapeutische Praxis
Als allgemeines Maß psychosozialer Gesundheit kam die HEALTH-49 [37 ] zum Einsatz. Die HEALTH-49 erfasst mit 49 Items die zehn Skalen Somatoforme Beschwerden, Depressivität, Phobische Ängste, Psychische und somatoforme Beschwerden, Psychisches Wohlbefinden, Interaktionelle Schwierigkeiten, Selbstwirksamkeit, Aktivität und Partizipation, Soziale Unterstützung und Soziale Belastung. Die Bearbeitung der Items erfolgt über 5-stufige Likert-Skalen. Das Verfahren ist als valide und änderungssensitiv zu bewerten und weist mit Ausnahme der Subskala Soziale Belastung hohe interne Konsistenzen auf [37 ].
Interview zur komplexen posttraumatischen Belastungsstörung
Das I-kPTBS [38 ] stellt die deutsche Übersetzung des Structured Interview for Disorders of Extreme Stress (SIDES) von Pelcovitz et al. [3 ] dar. Das Interview umfasst 27 Unterkriterien, mittels derer das Vorliegen der 6 DESNOS-Kriterien erfasst wird. Die interne Konsistenz liegt bei α=0,88.
Strukturierter Interviewleitfaden zur Diagnose dissoziativer Störungen
Das SIDDS von Overkamp [39 ] stellt eine Übersetzung der Dissociative Disorders Interview Schedule (DDIS) von Ross [40 ] dar. Es erlaubt neben der Diagnose einer DDNOS auch die Diagnose einer DIS mit einer Interrater-Reliabilität von 0,95 und einer Sensitivität von 94,4%.
Statistische Analysen
Die statistischen Analysen erfolgten mittels R [41 ] unter Einbindung der Pakete afex [42 ] und lme4 [43 ]. Fehlende Daten waren durch die Verwendung von Handcomputern zur Durchführung der Testdiagnostik sehr selten (0,06%) und wurden über Bayesianische multiple Imputation [44 ] geschätzt.
Veränderungsmessung: Statistische und klinische Signifikanz
Die durch die IES-R erfasste PTBS-Symptombelastung wurde als primäres Outcome-Maß definiert. Waren die Voraussetzungen erfüllt, kamen gemischte lineare Regressionsmodelle mit Freiheitsgradbestimmung nach Kenward-Rogers [42 ] und statistischer Kontrolle der Kovariablen Geschlecht, Alter und Aufenthaltsdauer zum Einsatz. Erwiesen sich die Messwertdifferenzen der Messwertpaare als nicht normalverteilt, wurde der 2-seitige Wilcoxon-Test angewandt.
Response wurde gemäß des Reliable Change Index (RCI) [45 ] als unter Berücksichtigung des Messfehlers reliable Symptomreduktion (p <0,05) operationalisiert. Auch wurde überprüft, ob während der Behandlung reliable Verschlechterungen (p <0,05) auftreten. Remission wurde operationalisiert als das gleichzeitige Vorliegen einer Response und eines unauffälligen Entlassscores. Da für den IES-R, den FFA und den DES-T keine Cut-off-Werte vorliegen, konnte Remission hier nicht bestimmt werden. Bei erfüllten Voraussetzungen wurden Prä-Post-Effektstärken (ES) gemäß der Formel von Cohen [46 ] berechnet.
Prädiktoren des Behandlungserfolges: Konditionaler Entscheidungsbaum
Der mögliche Zusammenhang von Ausprägungen bestimmter Kovariablen zum Aufnahmezeitpunkt mit der Frage, ob PatientInnen eine Response erzielen, wurde mittels konditionalen Entscheidungsbaumes untersucht. Konditionale Entscheidungsbäume beruhen auf der rekursiven Partitionierung von Daten und dienen der Extraktion von Entscheidungsregeln aus Erfahrungswissen [47 ]. Sie sind anderen regressionsanalytischen Verfahren in der Identifizierung von Outcome-Prädiktoren insbesondere dann überlegen, wenn von hoher Multikollinearität der potenziellen Prädiktorvariablen ausgegangen werden muss [48 ]. Der oberste Knoten (Node 1) eines Entscheidungsbaums umfasst die gesamte Stichprobe, die in der Folge in Subgruppen unterteilt wird. Die Auswahl der Kovariablen und der Cut-off-Werte, anhand derer die Stichprobe unterteilt wird, erfolgen dergestalt, dass die Homogenität der abhängigen Variable in den entstandenen Subgruppen maximiert wird. Dieser Prozess wird sukzessive so lange wiederholt, bis ein Modell entstanden ist, das dem Kliniker die wichtigsten signifikanten binären Entscheidungen in der Prognosestellung in Form einer Baumstruktur darstellt. Zwei wesentliche Probleme dieser Methode stellen Overfitting und Verzerrung der Variablenselektion dar, weswegen in der vorliegenden Untersuchung die CTREE-Methode zum Einsatz kam, die ein weitgehend unverzerrtes rekursives Partitionieren erlaubt [49 ]. Wir definierten Response als abhängige Variable und fügten alle Variablen als Kovariabeln in das CTREE-Modell ein, hinsichtlich derer sich in Voranalysen mittels Welchs t-Tests, exakten χ2 -Tests und Mann-Whitney-U-Tests signifikante Unterschiede zwischen der Response- und der Nonresponse-Gruppe gezeigt hatten. Diese Kovariablen umfassten die Skala Depression der HEALTH-49 (t(147,8) =− 2,03, p =0,045), die Skala Somatoforme Beschwerden der HEALTH-49 (t(142,9) =2,37, p =0,019), die Skala Wohlbefinden der HEALTH-49 (t(148) =− 2,58, p =0,010), das Vorliegen einer komplexen dissoziativen Störung (χ2
(1) =3,91, p =0,048) sowie den Summenscore des FFA (t(139,4) =1,99, p =0,048). Keine signifikanten Unterschiede zwischen den Respondern und Nonrespondern zeigten sich in den Voranalysen hinsichtlich des Geschlechts (χ2
(1) =0,00, p =0,999), des Alters (t(143) =− 0,46, p =0,646), des Vorliegens einer Persönlichkeitsstörung (χ2
(1) =0,16, p =0,692), des CTQ-Gesamtscores (t(125,5) = − 1,03, p =0,307) und aller Subskalen, des IES-R-Gesamtscores (t(142,3) =− 0,44, p =0,654) und aller Subskalen, des HEALTH-49-Scores für interaktionelle Schwierigkeiten (t(140,3) =− 0,12, p =0,905), des HEALTH-49-Scores für Selbstwirksamkeitserleben (t(139,1) =0,83, p =0,408), des HEALTH-49-Scores für phobische Angst (t(140,5) =1,68, p =0,095), des HEALTH-49-Scores für soziale Belastung (t(140,9) =0,85, p =0,395), des HEALTH-49-Scores für soziale Unterstützung (t(139,8) =0,65, p =0,515), des HEALTH-49-Scores für Aktivität und Partizipation (t(147,3) =− 0,71, p =0,478) sowie des DES-T Scores (U=2759, p =0,564).
Ergebnisse
Stichprobe
Das Durchschnittsalter der 132 Frauen und 18 Männer der Stichprobe lag bei 47,9 Jahren (SD =10,5). 133 der PatientInnen (89%) hatten die deutsche Staatsbürgerschaft. Alle PatientInnen schilderten multiple Traumatisierungen in der Kindheit, die mindestens das Kriterium „mittelgradig bis schwer“ des CTQ erfüllten. Die Durchschnittswerte lagen bei 16,8 (SD =6,8) für sexuellen Missbrauch, 14,8 (SD =6,0) für körperliche Gewalt, 19,1 (SD =5,3) für emotionalen Missbrauch, 14,2 (SD =4,7) für körperliche Vernachlässigung und 20,7 (SD =4,8) für emotionale Vernachlässigung.
139 PatientInnen (93%) wiesen komorbide affektive Störungen auf, 67 PatientInnen (45%) Angststörungen, 23 PatientInnen (31%) Zwangsstörungen, 61 PatientInnen (41%) somatoforme Störungen und 32 PatientInnen (21%) Essstörungen. Eine komorbide Persönlichkeitsstörung fand sich bei 72 PatientInnen (48%). Am häufigsten war die Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus mit 30 Fällen (20%), gefolgt von der Ängstlichen Persönlichkeitsstörung mit 15 Fällen (10%). 31 PatientInnen (21%) wiesen eine DDNOS auf, 8 PatientInnen (5%) eine DIS. 108 PatientInnen (72%) nahmen zum Aufnahmezeitpunkt Antidepressiva ein, 51 PatientInnen (34%) Anxiolytika, 69 PatientInnen (46%) Antipsychotika und 93 PatientInnen (62%) Analgetika. Bei 63 PatientInnen (42%) fand sich mindestens ein fremdanamnestisch bestätigter Suizidversuch in der Anamnse. Alle PatientInnen befanden sich aktuell in ambulanter Psychotherapie, 58% seit insgesamt mehr als 160 Stunden. Stationär-psychiatrische und -psychosomatische Behandlungen fanden sich bei 132 PatientInnen (88%). Der Median in Bezug auf die Anzahl stationärer Vorbehandlungen betrug 3 (min=0; max=42).
Veränderungsmessung: statistische und klinische Signifikanz
Die signifikante Verbesserung der PTBS-Symptomatik vom Aufnahmezeitpunkt t1 zum Entlasszeitpunkt t2 (F
(1,149) =112,2, p <0,0001) entsprach einem großen Effekt (d =1,8) und bedeutete für 52% der PatientInnen eine Response. Gleichzeitig beschrieben 3,8% der PatientInnen eine reliable Verschlechterung. Auch bezüglich weiterer Symptombereiche wie Depressivität (F
(1,149) =133,1, p <0,0001, 69% Response, 9% Remission) und somatoformer Beschwerden (F
(1,149) =39,1, p <0,0001, 41% Response, 7% Remission) ließen sich mittlere bis hohe Effekte erzielen ([Tab. 1 ]). Darüber hinaus schilderten die PatientInnen zum Entlasszeitpunkt ein signifikant besseres Wohlbefinden (F
(1,149) =114,8, p <0,0001, 50% Response, 14% Remission), mehr Achtsamkeit (F
(1,149) =51,5, p <0,0001, 20% Response), geringere interaktionelle Schwierigkeiten (F
(1,149) =66,0, p <0,0001, 54% Response, 8% Remission) sowie ein verbessertes Selbstwirksamkeitserleben (F
(1,149) =59,8, p <0,0001, 47% Response, 13% Remission).
Tab. 1 Statistische und klinische Signifikanz der Differenzen der Prä- und Postwerte.
(Sub-)Skala
M
pre [Median]
SD
pre
M
post
[Median]
SD
post
Test-statistik
p
Kritische Differenz (p < ,05)
Verschlechterung
Response
Remission
ES
IES-R Summenscore
90,9
7,9
76,7
18,7
F (1,149)=112,2
<0,0001
9,9
4%
52%
–
1,81
IES-R: Intrusionen
31,8
3,2
26,3
9,2
F (1,149)=66,7
<0,0001
4,1
10%
50%
–
1,73
IES-R: Vermeidung
28,2
5,1
23,9
7,9
F (1,149)=43,4
<0,0001
6,5
7%
33%
–
0,84
IES-R: Hyperarousal
30,8
4,0
26,5
6,9
F (1,149)=80,0
<0,0001
4,9
3%
43%
–
1,10
H49: Depression
2,7
0,8
1,9
1,0
F (1,149)=133,1
<0,0001
0,4
7%
69%
9%
1,07
H49: Phobische Angst
2,2
1,1
1,5
1,1
F (1,149)=59,1
<0,0001
0,3
16%
61%
15%
0,59
H49: Somatoforme Beschwerden
2,6
0,9
2,1
1,0
F (1,149)=39,1
<0,0001
0,7
9%
41%
7%
0,48
H49: Wohlbefinden
0,9
0,7
1,6
0,8
F (1,149)=114,8
<0,0001
0,6
3%
50%
14%
1,03
H49: Interaktionelle Schwierigkeiten
2,7
0,9
2,1
0,9
F (1,149)=66,0
<0,0001
0,5
10%
54%
8%
0,74
H49: Selbstwirksamkeit
1,6
0,9
2,1
0,8
F (1,149)=59,8
<0,0001
0,6
11%
47%
13%
0,61
FFA: Achtsamkeit
63,1
12,1
69,6
12,6
F (1,149)=51,5
<0,0001
14,9
1%
20%
–
0,54
DES-T: Pathologische Dissoziation
24,0 [20,6]
20,1
19,1 [13,9]
17,6
Z=4,1
<0,0001
25,1
2%
9%
–
–
Kommentar. Verschlechterung =Prozentualer Anteil reliabler Verschlechterungen gemäß Reliable Change Index; Response =reliable Verbesserung gemäß Reliable Change Index; Remission =reliable Verbesserung und Entlassscore unterhalb des entsprechenden Cut-off-Scores; ES =Effektstärke gemäß Formel (M
pre
-M
post
)/SD
pre
; IES-R =Impact-of-Event Scale Revised; H49 =Hamburger Module zur Erfassung allgemeiner Aspekte psychosozialer Gesundheit für die therapeutische Praxis (HEALTH-49); FFA =Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit; DES-T =Dissociative Experiences Scale – Taxon
Prädiktoren des Behandlungsverlaufs: Konditionaler Entscheidungsbaum
Mittels CTREE-Modell konnte ein Entscheidungsbaum mit 3 Prädiktoren identifiziert werden ([Abb. 1 ]). Die Basisrate einer Response bezüglich der PTBS-Belastung lag in der Gesamtstichprobe (Node 1; N =150) bei 52%. Die erste Unterteilung in Subgruppen erfolgte anhand der bei Aufnahme im HEALTH-49 geschilderten somatoformen Beschwerden (p <0,01). In der Subgruppe der PatientInnen mit Scores für somatoforme Beschwerden über 3,29 (Node 7; N =29) sank die Rate reliabler Verbesserungen auf 27,6% ab und halbierte sich somit fast. In der Subgruppe von PatientInnen mit Scores für somatoforme Beschwerden unter 3,29, bei denen eine komplexe dissoziative Störung diagnostiziert wurde (Node 6; N =33), lag die Rate von PatientInnen mit Response mit einem Wert von 39,4% ebenfalls unter dem Durchschnitt (p <0,05). PatientInnen, die keine komplexe dissoziative Störung und Scores für somatoforme Beschwerden unter 3,29 aufwiesen (Node 3; N =88) konnten abermals signifikant in Subgruppen unterschieden werden (p <0,01). PatientInnen mit Scores von 52 oder darunter im FFA (Node 4; N =18) wiesen eine Responsewahrscheinlichkeit von 38,9% auf. Jene PatientInnen hingegen, deren Score im FFA über dem Wert von 52 lag (Node 5; N =70), wiesen eine Responsewahrscheinlichkeit von 71,4% auf.
Abb. 1 Das Entscheidungsbaummodell zeigt, anhand welcher Prädiktoren und Cut-Off-Werte bereits bei Aufnahme signifikant die Wahrscheinlichkeit einer reliablen Verbesserung („1“; dunkelgrau) sowie eines Persistierens der PTBS-Belastung („0“; hellgrau) bestimmt werden kann. Die bedingten Wahrscheinlichkeiten P(Response|Bedingung) sind den rechten y-Achsen der Diagramme zu entnehmen. Somatoforme Beschwerden, das Vorliegen einer komplexen dissoziativen Störung (DDNOS oder DIS) und Achtsamkeit erweisen sich als signifikante Prädiktoren des Behandlungsverlaufs.
Diskussion
Einordnung der Ergebnisse
Mit der vorliegenden retrospektiven Untersuchung naturalistischer Therapieverläufe sollten Symptomverläufe von PatientInnen mit komplexer PTBS nach schweren (in der Regel sexualisierten) Gewalterfahrungen in der Kindheit analysiert und Prädiktoren einer Response identifiziert werden. Eine geringe Abbruchrate und seltene reliable Verschlechterungen spiegeln eine hohe Sicherheit und gute Akzeptanz der Behandlung wider. Es fanden sich große Effekte hinsichtlich der PTBS-Kernsymptomatik, Depressivität und Wohlbefinden sowie mittlere Effekte hinsichtlich Angst, somatoformer Beschwerden, interaktioneller Schwierigkeiten, Selbstwirksamkeit und Achtsamkeit. Die Ergebnisse sind damit vergleichbar mit jenen aus randomisiert-kontrollierten Studien zu traumafokussierter Therapie mit ähnlichen Stichproben [16 ]
[17 ]
[19 ] und besser als die Ergebnisse, die für ein primär stabilisierendes Vorgehen berichtet werden. So fanden Lampe et al. [11 ] für die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT) keine bis geringe Effekte hinsichtlich der PTBS-Kernsymptomatik [13 ]. Die Abbruchrate lag dabei trotz des „stabilisierenden“ Vorgehens mit 13% höher als in der vorliegenden Untersuchung. Jepsen et al. [51 ] berichten für ihr auf Psychoedukation und Gruppentherapie beruhendes Behandlungskonzept für PatientInnen mit PTBS infolge von sexuellem Missbrauch in der Kindheit geringe bis mittlere Effekte hinsichtlich Dissoziation (d =0,3), Depressivität (d =0,4), PTBS (d =0,6) und interpersonellen Schwierigkeiten (d =0,4). Die Abbruchrate lag in dieser Untersuchung bei 5,4% und damit auf einem ähnlichen Niveau wie in der vorliegenden Untersuchung (7%). Damit legen unsere Ergebnisse nahe, dass traumafokussierte Therapie mit PatientInnen mit komplexer PTBS nach schwerer (sexualisierter) Gewalt in der Kindheit auch unter klinischen Routinebedingungen sicher und wirksam durchführbar ist.
Zur Bedeutung der Prädiktoren
Die Ergebnisse untermauern Befunde, dass Dissoziation einen negativen Einfluss auf den Therapieverlauf von PatientInnen mit PTBS hat und Anpassungen des therapeutischen Vorgehens nötig macht [50 ]
[51 ]. Gleichzeitig stehen die vorliegenden Ergebnisse auch mit Befunden im Einklang, die darauf hinweisen, dass ein traumafokussiertes Vorgehen in der Therapie geeignet ist, dissoziative Symptome zu reduzieren [52 ]. Mit somatoformen Beschwerden konnten wir darüber hinaus einen Prädiktor für die Behandlung der PTBS identifizieren, dessen Bedeutung im Zusammenhang mit Traumafolgestörungen bis heute vernachlässigt wird [53 ]. Schließlich konnte mit der vorliegenden Untersuchung – unseres Wissens erstmalig – gezeigt werden, dass Achtsamkeitsdefizite die Behandlung der komplexen PTBS merklich beeinträchtigen können. Dies erscheint umso bemerkenswerter, als dass Achtsamkeit zwar einen Baustein zahlreicher etablierter Manuale zur Behandlung der PTBS darstellt (z. B. [12 ]
[16 ]) und auch Teil des untersuchten Behandlungsprogrammes ist, die Rolle von Achtsamkeitsdefiziten für die Entstehung und Aufrechterhaltung posttraumatischer Belastungsstörungen jedoch weitgehend ungeklärt ist.
Es liegen Befunde vor, dass Achtsamkeit den Zusammenhang von traumatischen Erfahrungen in der Kindheit und späterer PTBS-Symptomatik mediiert [54 ]. Achtsamkeit scheint die negative Wirkung von dysfunktionalen Kognitionen abzuschwächen, während Achtsamkeitsdefizite mit Störungen der Emotionsregulation sowie Vermeidungsverhalten assoziiert sind [55 ]
[56 ]. Zugleich weisen Achtsamkeitsdefizite auch einen Zusammenhang mit Neurotizismus auf [57 ]. Weitere Untersuchungen müssen daher klären, ob es sich bei Achtsamkeitsdefiziten um ein Epiphänomen handelt. Die Frage, welchen Anteil Achtsamkeitstrainings am Behandlungserfolg haben, sollte mittels Dismantling-Studien geprüft werden.
Zum Umgang mit Nonresponse
Bei PatientInnen mit komplexer PTBS gelten Nonresponseraten von 50% als nicht außergewöhnlich und es werden Drop-out-Raten von 50% und mehr beobachtet [10 ]
[58 ]. Auch sind Überlebende sexualisierter Gewalt besonders gefährdet, während stationärer Therapie Verschlechterungen ihres Zustandes zu erleiden [59 ]. Vor diesem Hintergrund ist die berichtete Responserate von 52% in der hier untersuchten, besonders schwer belasteten Gruppe von PatientInnen, einerseits als positiv zu bewerten. Die Abbruchrate im Untersuchungszeitraum von nur 7% darf zudem als außergewöhnlich niedrig bezeichnet werden. Auch liegen die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung festgestellten Raten reliabler Verschlechterungen im Vergleich zur in der Literatur berichteten Werten [60 ] im unterdurchschnittlichen Bereich. Andererseits zeigt sich deutlich die Schwierigkeit, auch mit leitliniengerechter Therapie allen PatientInnen eine Response zu ermöglichen. Insbesondere in Verbindung mit komorbiden dissoziativen Störungen sind die Störungsbilder von PatientInnen mit komplexer PTBS oftmals als chronische und schwere psychische Erkrankung zu verstehen [61 ] und selbst hochwirksame Behandlungsprogramme führen angesichts der Schwere der Störungen bei einer erheblichen Anzahl von PatientInnen zu keiner Remission. Langfristig angelegte Behandlungspläne müssen demnach auch Überlegungen beinhalten, PatientInnen in einem Leben mit chronisch eingeschränktem Funktionsniveau zu unterstützen und Kontakte zu Unterstützungsangeboten zu vermitteln, die die soziale Teilhabe verbessern können.
Andererseits spricht zunehmende empirische Evidenz dafür, dass die Raten von Nonresponse und reliabler Verschlechterungen, die auch bei sorgfältiger Dissemination leitliniengerechter Behandlungsprogramme beobachtet werden, womöglich über systematisches Therapie-Monitoring und Feedback reduzieren lassen. Therapiemonitoring ermöglicht es, problematische Verläufe frühzeitig zu erkennen, gegenzusteuern und so Abbrüche zu verhindern und Responseraten zu verbessern [62 ].
Stärken und Schwächen der Untersuchung
Aus dem naturalistischen Charakter der Untersuchung ergeben sich spezifische Stärken und Schwächen. So stehen der hohen ökologischen Validität bspw. das Problem einer fehlenden Einschätzung der Schwere der PTBS sowie komorbider Störungen durch strukturierte Interviewverfahren gegenüber. Zukünftige Untersuchungen sollten darüber hinaus nicht nur die Aufenthaltsdauer, sondern auch den exakten Zeitumfang der Traumakonfrontation erfassen und den möglichen Einfluss dieser Kovariablen auf den Behandlungsverlauf untersuchen. Die Vermutung liegt nahe, dass der Umfang der Traumakonfrontation eine bedeutende Einflussgröße darstellt, was in der vorliegenden Untersuchung jedoch keine ausreichende Berücksichtigung fand. Die größte Einschränkung ergibt sich jedoch aus dem Fehlen einer Katamneseuntersuchung. Somit bleibt unklar, inwiefern die PatientInnen langfristig von der Behandlung profitierten und ob vereinzelte reliable subjektive Verschlechterungen etwa der Angstsymptomatik wie vermutet nur passagere durch die Reduktion von Vermeidung induzierte Phänomene darstellen.
Traumafokussierte Psychotherapie ist auch unter naturalistischen Bedingungen mit in der Kindheit schwer sexuell oder körperlich traumatisierten PatientInnen mit komplexer PTBS sicher durchführbar. Geringe Abbruch- und Verschlechterungsraten spiegeln Sicherheit und Akzeptanz eines traumafokussierten Vorgehens wider. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass einzelne Subgruppen wie PatientInnen mit ausgeprägten somatoformen Beschwerden, komplexen dissoziativen Störungen oder Achtsamkeitsdefiziten schlechter auf die Behandlung ansprechen.