Einleitung
Erst durch die Zuordnung zur Psychiatrie im 19. Jahrhundert wurde die Grundlage für
das heutige „medizinisch-psychosoziale Paradigma“ von Suizidalität geschaffen und
damit die Jahrhunderte lang bestehende religiös-philosophischen Sichtweise abgelöst.
Suizidalität ist ein ernsthaftes Gesundheitsproblem, dessen Einschätzung nach dem
eigenen Urteil des Untersuchers auf der Information durch den Betroffenen und dem
fachlichen Wissen um Suizidalität fördernde Risikofaktoren und Gefährdungszeichen
beruht [1]. Sichere Testverfahren, z. B. Biomarker, zur Abklärung bei Verdacht auf Suizidalität
gibt es nicht.
Epidemiologie
Weltweit versterben jährlich mehr als 800 000 Menschen durch Suizid (Weltgesundheitsorganisation
2014). Die Suizidrate pro 100 000 der Bevölkerung beträgt weltweit 11,4 (Männer 15,0;
Frauen 8,0). In den letzten 45 Jahren haben die Suizidraten weltweit um 60% zugenommen.
Von allen Suiziden ereigneten sich 75% in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen,
woraus die WHO einen Zusammenhang zwischen psychosozialer Lebenssituation und Suizidalität
ableitet. Suizid ist eine der drei häufigsten Todesursachen in den Altersgruppen zwischen
15 und 44 Jahren in einigen Ländern und die zweithäufigste Todesursache in der Altersgruppe
zwischen 10 und 24 Jahren. Die Suizidraten waren weltweit am höchsten bei Männern
und Frauen bei den 70-Jährigen und Älteren. Die häufigsten Suizidmethoden waren Intoxikation
durch Pestizide, Erhängen und Erschießen. Fast 80% aller Suizidopfer sind Männer.
Für diese Verteilung zwischen den Geschlechtern gibt es viele mögliche Gründe: Unterschiede
im Hilfesuchverhalten, Präferenzen für bestimmte Suizidmethoden, aber auch Verfügbarkeit
und das Muster des Alkoholkonsums. Suizid führte nach Schätzungen zu 1,3% der „total
global burden of disease“ (Krankheitslast, gemessen in Disability-Adjusted Life Years,
DALY) und wird im Jahr 2020 auf 2,4% in Ländern mit Marktwirtschaft und in früheren
sozialistischen Staaten ansteigen (Weltgesundheitsorganisation 2014).
In Deutschland ist in den letzten 30 Jahren die Zahl der Suizide zurückgegangen: In
Gesamtdeutschland halbierte sich die Zahl der Suizide nahezu. 1982 ereigneten sich
noch 18 451 Suizide; im Jahr 2015 lag die Zahl aller Suizide bei 10 080 (7398 Männer
und 2682 Frauen). Suizidprävention einschließlich gesellschaftlicher Veränderungen
spielt langfristig für die Entwicklung von Suizidraten eine große Rolle. Männer haben
in Deutschland wie in vielen anderen Industriestaaten eine fast dreimal höhere Suizidrate
als Frauen [2]. In Deutschland nehmen mit zunehmendem Lebensalter die Suizidraten zu. Während im
Jahr 2015 bei den 20- bis 25-Jährigen die Suizidrate lediglich 6,9 pro 100 000 Einwohner
betrug, belief sie sich in der Altersgruppe der 85- bis 89-Jährigen auf 33,0 pro 100 000
(Statistisches Bundesamt Deutschland 2017). Die häufigsten Suizidmethoden in Deutschland
sind Erhängen, Vergiften und der Sturz aus der Höhe. Es muss davon ausgegangen werden,
dass sich etwa zehn- bis vierzigmal so viele Suizidversuche wie vollendete Suizide
ereignen.
Definition von Suizidalität
Definition von Suizidalität
Suizidalität ist ein zutiefst menschliches Geschehen und Erleben, das in seiner Komplexität
nie vollständig verstehbar sein wird. Der Bereich, in welchem uns Suizidalität überwiegend
begegnet, ist das medizinisch-psychosoziale Umfeld von Beratung, Krisenintervention
und medizinisch-psychotherapeutischer bzw. -psychiatrischer (Notfall-)Behandlung [3]. Auch mit dieser Einschränkung wurde eine Vielzahl von Definitionen zusammengetragen
(z. B. [4]). Letztlich gibt es keine Definition von Suizidalität, die das gesamte Spektrum
dieses Phänomens abdeckt. Heute ist die Definition der WHO am geläufigsten: Unter
Suizidalität versteht man eine Reihe von Denk- und Verhaltensweisen, die Suizidgedanken
oder -absichten, Suizidpläne, Suizidversuche und Suizide einschließen (WHO). Eine
suizidale Handlung als solche zu benennen, liegt beim Handelnden [3]. Die Deutung einer Handlung als Ausdruck von Suizidalität liegt beim Beobachter;
dabei gehen dessen Fachwissen wie auch der Eindruck auf therapeutischer Seite bzw.
das Übertragungsgefühl mit ein.
In den meisten Fällen entwickelt sich Suizidalität rasch: Die Bedenkzeit von der Suizididee
bis zur Durchführung eines Suizidversuchs liegt bei ⅔ der Betroffenen unter 24 Stunden
und die Zeitspanne vom Entschluss zur Handlung bis zur Durchführung eines Suizidversuchs
liegt in 97% aller Fälle unter 24 Stunden, in 58% sogar unter einer Stunde [5]. Letztlich bedeutet dies, dass Suizidalität in der Regel eine temporäre Erscheinung
ist und eine hohe zeitliche Dynamik hat.
Pöldinger hat 1968 die „Stadien suizidaler Entwicklungen“ beschrieben: nach einem
Erwägungsstadium mit Suizidideen und erhaltener Distanzierungsfähigkeit folgt das
Ambivalenzstadium mit Hin- und Herschwanken zwischen eigentlich „Nichtsterbenwollen“,
aber so Nichtweiterlebenkönnen und daraus entspringenden Appellen und Suizidankündigungen;
am Ende steht das Entschlussstadium mit aufgehobener Distanzierungsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit,
mit Resignation und letztendlich trügerischer Ruhe durch den erfolgten Entschluss
der Selbsttötung [6].
Das Kontinuitätsmodell von Suizidalität nach Wolfersdorf (2008) [7] beschreibt verschiedene Gefährdungsgrade mit unterschiedlich hohem Handlungsdruck
und sich daraus ergebenden Konsequenzen für fürsorgliche Maßnahmen der Fremdverantwortung.
-
Wunsch nach Ruhe, Pause, Unterbrechung im Leben ohne Intention zu versterben.
-
Todeswunsch: aktuell oder in der Zukunft, ohne aktive Handlung und ohne Handlungsdruck.
-
Suizidideen oder sich zwanghaft aufdrängende Suizidgedanken: mehr oder weniger konkret als mögliche Handlungsweise gedacht; häufig Ausdruck von
Ambivalenz; ohne konkreten Handlungsdruck; eher passiv.
-
Suizidabsichten: Suizidideen mit konkreter Planung und Absichtserklärung zur Durchführung; deutlicher
als Drang erlebter Handlungsdruck.
-
Suizidhandlung: vorbereiteter Suizidversuch, begonnen und abgebrochen (unter Fremd- und Selbsteinfluss),
gezielt geplant, impulshaft durchgeführt.
Eine parasuizidale Handlung sieht wie eine suizidale Handlung aus. Die Selbstdestruktion hat jedoch kaum Todesintention,
wenngleich die Gefahr des Sterbens in Kauf genommen wird. Die Handlung hat oft ausgeprägten
appellativen oder instrumentellen Charakter: etwas soll erreicht werden oder es wird
auf eine Veränderung abgezielt.
Risikofaktoren und Warnzeichen
Risikofaktoren und Warnzeichen
Verschiedene Autoren und Organisationen, die im Bereich der Suizidprävention aktiv
sind, haben unterschiedliche Warnzeichen und Risikofaktoren aufgeführt [8]. Bekannte Risikofaktoren sind vor allem psychische Erkrankungen, insbesondere Depressionen,
Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, schizophrene Psychosen, körperliche Erkrankungen,
akute belastende Lebensereignisse, frühere Suizidversuche und Suizidversuche in der
Familienanamnese. Zu den Warnzeichen gehören unter anderem das Äußern von Suizidgedanken,
Sinnlosigkeit im Leben, das Gefühl, für andere eine Last zu sein, sozialer Rückzug,
Verabschieden bei anderen, das Verschenken von wertvollen Besitztümern, Angst, Erniedrigung,
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, ausgeprägte Stimmungsschwankungen.
Die Information zu Risikofaktoren [9] sollte man grundsätzlich bei der Risikoabschätzung berücksichtigen. Dies ist auch
dann zu bedenken, wenn in der aktuellen Situation keine konkreten Suizidgedanken oder
-absichten eruierbar sind. In psychiatrischen Kliniken ereignen sich in der ersten
Zeit nach der stationären Aufnahme die meisten Suizide [10].
Grundprinzipien der Krisenintervention – was ist im Gespräch mit Suizidalen zu beachten
Grundprinzipien der Krisenintervention – was ist im Gespräch mit Suizidalen zu beachten
In der Krisenintervention geht es um die Herstellung einer Beziehung, die hilfreichen, stützenden und damit per se bereits präventiven Charakter hat,
um die Diagnostik von Suizidalität und die Risikoeinschätzung sowie die Diagnostik von psychischer Störung, um das Management der aktuellen Situation sowie um die Therapieplanung einer zugrunde liegenden psychischen Erkrankung bzw. einer emotionalen Krise oder
Belastungs- oder Anpassungsreaktion.
Wesentliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Management von Suizidalität ist es, sie als Signal seelischer
Not des Betroffenen anzusehen, als Ausdruck dessen, dass ein Mensch in Not ist, der
Hilfe, Zuwendung und Verstehen benötigt. Dies soll auch mit dem positiven Stellenwert
des Notsignals für die Person zu erkennen sein, die letztendlich nicht anders handeln
konnte und zur Beendigung einer sehr quälend erlebten Befindlichkeit diesen subjektiv
bedeutsamen Weg gewählt hat. Basis ist eine gute, auch Belastung aushaltende, offene
und vertrauensvolle Beziehung, in der Schutz und Fürsorge, Stützung, emotionale Entlastung,
Vermittlung von Krankheits- bzw. Krisenkonzept unter Beachtung der aktuellen Psychopathologie
sowie der aktuellen Psychodynamik deutlich werden [11].
Wann ist eine Abklärung der Suizidalität erforderlich?
Wann ist eine Abklärung der Suizidalität erforderlich?
Eine Abklärung der Suizidalität ist immer im Rahmen einer psychiatrischen Erstuntersuchung
bei jedem Patienten erforderlich. Außerdem muss bei jeder neu aufgetretenen Krisensituation,
vor Entlassung, aber auch bei jeder plötzlich auftretenden (scheinbaren) Besserung,
bei fremdanamnestischen Hinweisen sowie bei Suizidalität fördernder Symptomatik und
bei Verschlechterung erneut nach Suizidalität gefragt werden ([Abb. 1 ]). Grundsätzlich kann in jedem Stadium des Behandlungsverlaufs Suizidalität neu auftreten.
Daher ist eine nach den Besonderheiten des Einzelfalls ausgerichtete, regelmäßige
Erfassung notwendig. Es muss immer eine Dokumentation des erhobenen Befundes erfolgen.
Formulierungen müssen in der Dokumentation immer klar und eindeutig sein.
Abb. 1 Entscheidungsbaum und weiteres Vorgehen.