Per Kreuzfahrt nach New York. (Quelle: Ramona Herrfurth)
Eine Kreuzfahrt zu machen wird für viele Menschen weltweit immer attraktiver – ferne
Länder, ein schwimmendes Hotel mit hohem Standard, „Entschleunigung“ auf See vom
Alltag sind nur einige der Gründe. 2017 haben ungefähr 26 Mio. Menschen (2017 CLIA
State of the Industry) ihren Urlaub auf diese Weise verlebt, davon 2 Mio. allein
aus Deutschland (Meldung CLIA Deutschland, März 2018). Und die Zahl steigt. Derzeit
gibt es etwa 300 aktive Kreuzfahrtschiffe auf Meeren und Flüssen, und weitere
werden gebaut – in 2017 wurden 26 Neubauten für Hochsee-Kreuzfahrtschiffe in Auftrag
gegeben.
Das Bild der Medizin auf einem solchen Schiff ist häufig von Klischees geprägt – attraktive
Präsenz im Gästebereich des Schiffs scheint das Berufsbild des
medizinischen Personals auf See zu bestimmen. In Unterhaltungssendungen ist zumeist
nur ein Bord-Arzt zu sehen, der mit dem Kapitän eher zwischenmenschliche Nöte
löst, als medizinische Herausforderungen zu meistern. Pflegepersonal sucht man in
diesen TV-Klassikern oft vergeblich. Wie so oft: Die Realität zeichnet ein etwas
anderes Bild. „Eine Notaufnahme ohne zuliefernden Rettungsdienst“ beschreibt die Situation
treffender.
Das Schiffshospital
Empfangsbereich eines Hospitals auf dem Schiff. (Quelle: Ramona Herrfurth)
Alle Hochsee-Kreuzfahrtschiffe haben eine medizinische Einrichtung, das „Hospital“.
Zu versorgen sind nicht nur erkrankte oder verletzte Passagiere, sondern auch die
Crew, zeichnet der Reeder doch für deren medizinische Versorgung während des oft monatelangen
Einsatzes verantwortlich.
Mit dem Wachstum der Kreuzfahrtindustrie hat sich das American College of Emergency
Physicians (Amerikanische Gesellschaft für Notfallmedizin) des Themas angenommen
und Guidelines zu Räumlichkeiten, Ausstattung und personeller Besetzung aufgestellt.
Für das Gros der Kreuzfahrt-Reedereien sind diese heute verbindlich. Zumeist
auf den unteren Decks und mittschiffs gelegen, einem Ort hoher Stabilität auch bei
lebhafteren Wetterbedingungen, verfügen die Hospitäler je nach Schiffsgröße über
mindestens ein Sprechzimmer, einen Raum für Untersuchungen und Eingriffe, Räume für
stationär zu betreuende Patienten bis zur Intensiv-Versorgung. Der Wartebereich
ist häufig für Gäste und Crew voneinander getrennt.
Sprechzimmer eines Schiffshospitals. (Quelle: Ramona Herrfurth)
Medizinische Geräte wie EKG, Spirometer, Röntgen-Apparat, diverse POCT-Laborgeräte
(Blutbild, klinische Chemie, Troponin, Gerinnung u. a.) finden sich ebenso an Bord
wie chirurgisches Instrumentarium, Gips-Equipment und Autoclave dort, wo nicht bereits
Single-use-Instrumente im Einsatz sind. Für Notfall- und intensivmedizinische
Versorgung sind Defibrillator, Monitoring, Beatmungsgerät, Perfusoren, Sauerstoff
und Absaugung vorhanden.
Die Bordapotheke ist breit aufgestellt, von Aspirin über Antihypertensiva bis zu Katecholaminen
und Thrombolytika. Die genaue Ausstattung variiert etwas von
Kreuzfahrt-Reederei zu Reederei, auch abhängig von den Vorschriften des Landes, unter
dessen Flagge das Schiff fährt, und vom Fahrtgebiet beeinflusst.
Stationäre Versorgung an Bord. (Quelle: Ramona Herrfurth)
Das Spektrum der zu versorgenden Patienten und ihrer Erkrankungen ist breit – natürlich
spielt die Seekrankheit eine Rolle, auch die großen Schiffe bewegen sich bei
rauer See. Und da bereits von „Notaufnahme“ die Rede war – das medizinische Team wird
häufiger gebraucht von Patienten mit Symptomen vom Schnupfen bis zum
Schlaganfall, von der Patella-Luxation bis zur Reanimation, von dem eingetretenen
Seeigel-Stachel bis zu Ciguatera; von zwei Patienten am Tag bis zu über 50 oder
mehr und vom einjährigen Kleinkind bis zum rüstigen Senior.
Organisations- und Improvisationstalent sind gefragt
Organisations- und Improvisationstalent sind gefragt
Die zur Verfügung stehenden anamnestischen Informationen sind limitiert – die Gäste
können im Vorfeld einer Reise über schwere Erkrankungen informieren, müssen es
aber nicht. Sie müssen auch keine medizinischen Unterlagen mit sich führen.
Die Crew wiederum hat eine medizinische Untersuchung, die „Seediensttauglichkeits-Untersuchung“,
hinter sich gebracht – an Bord stehen aber häufig keine
medizinischen Detailinformationen zur Verfügung. Die Bordsprache ist fast überall
Englisch, aber während ein Steward exzellente Fachtermini rund um das Restaurant
beherrscht, sind medizinische Fachausdrücke in der Fremdsprache nicht zwangsläufig
vorhanden, und so wird die Anamnese manchmal zum Puzzlespiel – sprachlich,
medizinisch, kulturell. Ein indisches Crewmitglied redet nicht gern, eigentlich gar
nicht über seine Darmerkrankung … Noch herausfordernder wird die Situation
möglicherweise dadurch, dass der diensthabende Medical Officer gerade eine Frau ist.
Das ist nicht diskriminierend gedacht, sondern kulturell bedingt eine Hürde,
mit der alle Beteiligten lernen müssen, umzugehen.
Limitiert sind auch die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten. Differentialdiagnose
Schlaganfall und intracerebrale Blutung? – Ein CT ist nicht an Bord.
ST-Hebungs-Infarkt? – Kein Katheterlabor. Schwere gastrointestinale Blutung? – Die
Not-Transfusion an Bord (es gibt kein Blutdepot!) ist heiß diskutiert …
Selbstredend, dass Notfall- und/oder intensivmedizinische Kenntnisse für eine Tätigkeit
auf See erforderlich sind. Wie auch ein gutes Maß an Organisations- und
Improvisationstalent: Wie geht man damit um, wenn mitten am Seetag eines der Laborgeräte
trotz regelmäßiger Wartung einen Defekt anzeigt? Oder wenn trotz größter
Sorgfalt bei Planung und Bestellung der Medikamentenbestand rapide abnimmt und bis
zur nächsten Lieferung Alternativen gefunden werden müssen?
Auf einer Enklave wie einem Schiff sind die materiellen wie personellen Ressourcen
limitiert. Das medizinische Team ist klein – abhängig von der Größe des Schiffs
und der Reederei kommen von einer Person bis zu sechs oder sieben zum Einsatz: Krankenpfleger,
Ärzte, MFAs, auch Notfallsanitäter. Jeder muss mit anpacken, jeder
muss das entsprechende Know-how haben, um die ersten Schritte in der Notfallversorgung
gehen zu können.
Ohne Teamplay geht’s nicht
Ohne Teamplay geht’s nicht
Jeder der Kollegen hat seine eigene Intention, um an Bord zu arbeiten. Diese unterscheidet
sich mitunter sehr von der eigenen, muss aber akzeptiert werden, wenn man
über einen längeren Zeitraum auf wenig Raum zusammen arbeiten und leben möchte. Das
Altersspektrum der Kollegen kann Spannungspotenzial bieten: Kann die 23-jährige
Medizinische Fachangestellte damit umgehen, dass der 62-jährige ehemalige Chefarzt
mit dem Computer nicht so flüssig umgeht wie sie selbst? Kann dieser wiederum
akzeptieren, das der Umgangston mit dem Gast an der Anmeldung möglicherweise zwar
sehr freundlich, aber etwas lockerer ist, als er mit dem Patienten kommunizieren
würde? So ist jeder in seinen Fähigkeiten zum Teamplay gefordert – die räumlichen
wie personellen Ausweichmöglichkeiten sind limitiert.
Schwestern-Kabine. (Quelle: Ramona Herrfurth)
Auch auf den Schiffen hält die Digitalisierung Einzug, so statten sich immer mehr
Reedereien mit elektronischen Patientenakten aus, die eine korrekte Dokumentation,
aber auch die schiffsübergreifende Bereitstellung vorheriger Informationen innerhalb
einer Reederei ermöglichen. Und neueste Entwicklungen lassen absehen, dass
Crew-Mitglieder und Gäste digital überall und immer über ihre persönlichen Informationen
verfügen und diese bei Bedarf freigeben. Viele Reedereien haben
Kooperationspartner in namhaften Universitätskliniken für telemedizinische Unterstützung
gefunden. Die Schwerpunkte liegen hier bei der Befundung von EKGs,
Röntgenbildern und Hauterkrankungen; auch eine telemedizinische psychologische Beratung
und Unterstützung ist bei einigen Reedereien etabliert.
Die Erwartungen an die medizinischen Teams sind hoch. Dem Geist der Kreuzfahrt verpflichtet
wird die medizinische Leistung zum Service, der Patient zum Kunden. Die
Crew-Mitglieder aus den unterschiedlichsten Nationen haben im Hospital den Hausarzt,
Seelsorger, Fluchtpunkt. Das ist so herausfordernd wie erfreulich – wer hat
sonst die Möglichkeit, verschiedensten Menschen so nah zu kommen, ihre persönlichsten
kulturellen Eigenheiten kennenzulernen und den eigenen Horizont so zu
erweitern?
Fast grenzenlose Entwicklungsmöglichkeiten
Fast grenzenlose Entwicklungsmöglichkeiten
Womit wir bei den hervorragenden Chancen dieses Tätigkeitsfelds wären. Die Arbeit
ist nicht immer Adrenalin-getrieben, aber abwechslungsreich und fordernd. Sie ist
verbunden mit dem Einbringen der eigenen persönlichen wie beruflichen Fähigkeiten
und Kompetenzen vom ersten Moment an und bietet dennoch das Erleben einer neuen
Welt. Das Gefühl, auch Zeit für ein Gespräch mit einem Patienten zu haben, ist vermutlich
eine der verlockendsten Seiten für jede Pflegefachkraft. Das Umfeld ist
begrenzt, aber man ist weltweit unterwegs und mit einem weiten Horizont umgeben –
im eigentlichen Sinne des Wortes. Die Kollegen, neben dem medizinischen Team,
kommen aus vieler Herren Länder, und so entwickeln sich nicht nur die englischen Sprachkenntnisse
rapide, sondern auch die Kenntnis kultureller Unterschiede und das
unterschiedliche Maß nötiger Toleranz. Es ist ausschließlich dem individuellen Engagement
zu verdanken, wie breit das Spektrum der eigenen Entwicklung wird –
persönlich wie fachlich – und welche Erfahrungen man für seine weitere Tätigkeit zurück
an Land mitnimmt.