Schlüsselwörter
Migräne - Spannungskopfschmerzen - chronische Schmerzstörung - multimodale Therapie - Kinder und Jugendliche
Key words
Migraine - tension-type headache - chronic pain disorder - multimodal treatment approach - children and adolescents
Einführung
Kopfschmerzen sind eines der häufigsten Symptome bei Kindern und Jugendlichen im Schulalter mit steigender Prävalenz im longitudinalen Vergleich [2]. Die Prävalenz verzehnfacht sich fast von der Einschulung (10%) bis zur Adoleszenz (95%) [43]. Häufig rezidivierende Kopfschmerzen treten bei 5% und tägliche Kopfschmerzen bei 1,0-2,5% der Schulkinder und Jugendlichen auf [5]
[30]. Bei der Migräne steigt die Prävalenz von 2% vor der Pubertät auf 5% bei Jungen und 8% bei Mädchen danach [3]. Bei Kleinkindern sind rezidivierende Kopfschmerzen selten und müssen an symptomatische Ursachen denken lassen. Die Kopfschmerzklassifikation erfolgt nach der neuen Klassifikation der International Headache Society (IHS) von 2018 anhand der Kopfschmerzbeschreibung und Verlaufsparametern, dem körperlichen Befund und dem Ausschluss symptomatischer Ursachen [51]
[56]. Meist handelt es sich um primäre Kopfschmerzen, d. h. die Symptomatik ist nicht auf eine andere Erkrankung zurückzuführen. Dazu gehören Spannungskopfschmerzen und Migräne sowie die seltenen trigemino-autonomen und anderen primären Kopfschmerzformen. Spannungskopfschmerzen und Migräne treten bei schwer beeinträchtigten Patienten oft (68%) gemeinsam auf [55] und sind bei einem Drittel der Patienten nicht sicher differenzierbar [23]. Sekundäre Kopfschmerzen durch eine Entzündung, Raumforderung oder anderes sind selten. Chronische Kopfschmerzen beeinträchtigen den Alltag der betroffenen Kinder und Familien durch Konzentrationsstörungen, emotionale Belastungen (Angst, Depression), sowie Einschränkungen bei Freizeitaktivitäten und beim Schulbesuch [49].
Primäre Kopfschmerzen
Am häufigsten sind episodische Spannungskopfschmerzen [5]
[30]
[43]. Für die Diagnose werden 10 Kopfschmerzepisoden mit typischen Schmerzcharakteristika (mindestens 2 aus [Tab. 1]) über 30 Min bis zu 7 Tage gefordert, die an weniger als einem Tag pro Monat bei seltenen, bzw. an 1–14 Tagen pro Monat bei häufigen episodischen Spannungskopfschmerzen auftreten. Bei der Migräne sind die Kopfschmerzen stärker und von vegetativen und/oder neurologischen Funktionsstörungen begleitet [3]
[33]
[44]. Häufig findet sich eine familiäre Belastung [25]. Für die Diagnose werden 5 Attacken mit mindestens 2 typischen Schmerzcharakteristika mit einer Dauer von mehr als 4 (Kinder 1–2) Stunden und mindestens 2 Begleitphänomenen gefordert ([Tab. 1]) [56]. Die Kopfschmerzen werden in 10–20% durch eine Aura mit Sehstörungen (Flimmerskotome, Gesichtsfeldausfälle), sensorischen Symptomen oder Sprachstörungen eingeleitet. Jedes Symptom kann bis zu 60 Min andauern, wobei der Kopfschmerz innerhalb von 60 Min folgt. In Abhängigkeit von der Aurasymptomatik werden verschiedene Migräneformen unterschieden. Bei der seltenen sporadischen oder familiären hemiplegischen Migräne treten reversible halbseitige Paresen mit visuellen, sensiblen Symptomen oder einer Sprachstörung bis zu maximal 72 Stunden auf. Bei der Migräne mit Hirnstammaura treten Schwindel, Dysarthrie, Ataxie, Tinnitus, Hörminderung und Bewusstseinsstörung gleichzeitig oder nacheinander bis zu 60 Min auf, die teilweise mit epileptischen Anfällen verwechselt werden können. Bei der sehr seltenen retinalen Migräne treten positive und negative visuelle Phänomene monokular bis zu 60 Min auf. Andere neurologische Erkrankungen müssen vor allem bei Aurasymptomen über eine Stunde, fehlender Migräneanamnese oder untypischen bzw. fehlenden Kopfschmerzen ausgeschlossen werden. Patienten, die die Diagnosekriterien einer Migräne erfüllen und über 3 Monate an≥15 Tagen pro Monat Kopfschmerzen haben, die an ≥8 Tagen pro Monat die Merkmale eines Migränekopfschmerzes aufweisen, haben nach der Definition eine chronische Migräne, wenn andere Ursachen der Kopfschmerzen ausgeschlossen sind [56].
Tab. 1 Kopfschmerzsymptome nach der International Headache Society (IHS) 2018.
Kopfschmerztyp
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Spannungskopfschmerzen mindestens 10 Episoden
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Migräne mindestens 5 Attacken 4-72 Stunden
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Lokalisation
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beidseitig
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einseitig (bei Kindern häufiger bifrontal oder Holokranie)
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Qualität
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drückend, beengend
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pulsierend (bei Kleinkindern selten)
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Intensität
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leicht bis mittel
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mittel bis stark (Kinder legen sich freiwillig hin)
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Dauer
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30 Min–7 Tage
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2–72 Stunden
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Begleitsymptome
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Photo- oder Phonophobie
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Übelkeit, Erbrechen, Licht-, Lärmempfindlichkeit, Aura
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Verstärkung durch körperliche Aktivität
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nein
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ja
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Besserung durch*
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Ablenkung
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Schlaf
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Ursache
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nicht auf eine andere Erkrankung zurückführbar
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*nicht Teil der IHS Klassifikation 2018
Eine Sonderstellung nehmen die in der Kindheit vorkommenden selbstlimitierenden periodischen Syndrome ein, die im allgemeinen Vorläufer einer Migräne sind. Dazu gehören: der benigne Torticollis mit plötzlicher Kopfschiefhaltung, Erbrechen, Irritabilität und Apathie, das zyklische Erbrechen mit häufig rezidivierenden Brechattacken und Übelkeit, die abdominelle Migräne mit rezidivierenden dumpfen Bauchschmerzattacken, Übelkeit und Erbrechen, und der benigne paroxysmale Schwindel der Kindheit mit rezidivierenden kurzen Schwindelattacken, Nystagmus und Erbrechen. Das Alice-im-Wunderland-Syndrom mit einer veränderten Wahrnehmung des eigenen Körpers oder der Umwelt wird als Aura-Äquivalent eingeordnet, es kann auch bei Intoxikationen oder Epilepsie auftreten.
Unter den im Kindesalter sehr seltenen trigemino-autonomen Kopfschmerzen ist der Clusterkopfschmerz am häufigsten. Er besteht aus einseitigen periorbitalen Kopfschmerzattacken für 15–180 Min und ipsilateralen kranialen autonomen Symptomen (Ptosis, Miosis, Tränen, konjunktivale Injektionen, Rhinorrhoe und nasale Kongestion, Schwitzen im Gesicht, Lidödem), von denen eines für die Diagnose obligatorisch ist. Typisch ist eine ausgeprägte Ruhelosigkeit während der Attacken. Die anderen primären Kopfschmerzen treten situationsbezogen auf und sind nach der auslösenden Ursache klassifiziert, wie z. B. primärer Husten- oder Kältekopfschmerz [56].
Sekundäre Kopfschmerzen
Sekundäre Kopfschmerzen durch intrakranielle Raumforderungen, Sinusvenenthrombose, Hydrozephalus, Pseudotumor cerebri, entzündliche Erkrankungen (z. B. ADEM, Multiple Sklerose) usw. sind bei Kindern und Jugendlichen selten und umso unwahrscheinlicher, je länger die Kopfschmerzanamnese geht. Für die Diagnose muss eine Erkrankung vorliegen, die 1. Kopfschmerzen verursachen kann, 2. im zeitlichen Zusammenhang damit steht und 3. innerhalb von 3 Monaten nach der Therapie verschwindet oder sich deutlich bessert. Am häufigsten bei Kindern sind akute umschriebene Kopfschmerzen bei Otitis media, Sinusitis (Zunahme beim Vornüberbeugen) und Zahnproblemen. Ursachen generalisierter akuter Kopfschmerzen sind ZNS-Infektionen (Meningitis, Enzephalitis, Hirnabszess) und demyelinisierende Entzündungen (ADEM, Multiple Sklerose), intrakranielle Blutungen und Schädel-Hirn-Traumata, oft in Verbindung mit Erbrechen und Meningismus. Ursachen chronisch progredienter Kopfschmerzen sind intrakranielle Raumforderungen, Sinusvenenthrombose, Hydrozephalus und Pseudotumor cerebri. Besonders groß ist die Angst vor einem Hirntumor, an dem in Deutschland ca. 360 Kinder pro Jahr erkranken. Bei Diagnosestellung haben zwei Drittel Kopfschmerzen, die Hälfte zusammen mit weiteren neurologischen Auffälligkeiten, wie Ataxie, Stauungspapille und/oder Erbrechen [9]
[16]. Dagegen findet sich ein Hirntumor bei Kindern mit chronischen Kopfschmerzen ohne weitere neurologische Symptome nur in 0,25% [1].
Wenn Kopfschmerzen unter Therapie mit Analgetika zunehmen und/oder den Charakter ändern, handelt es sich möglicherweise um analgetikainduzierte Kopfschmerzen. Sie sind bei Jugendlichen seltener als bei Erwachsenen [45]. Nach der Definition müssen die Kopfschmerzen und die Einnahme von Analgetika über 3 Monate an>15 Tagen pro Monat auftreten oder an>10 Tagen pro Monat für Ergotamine, Triptane, Opioide, Mischpräparate und die Kombination von Akutmedikamenten [56]. Die Patienten schildern oft ein Mischbild aus chronischen Spannungskopfschmerzen und Migräne, wobei Übelkeit, Erbrechen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit weniger stark sind als bei Migräneattacken ([Tab. 2]).
Tab. 2 Sekundäre Kopfschmerzen nach IHS-Classification ICHD-3.
Einteilung der sekundären Kopfschmerzen
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Beispiele
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Diagnostik
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Trauma des Kopfes oder Halses
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Schädel-Hirn-Trauma, Kraniotomie
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cMRT oder CCT je nach Dringlichkeit
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Kraniale oder zervikale Gefäßerkrankungen
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Ischämie, Hämorrhagie, vaskuläre Malformation, Arteriitis, Dissektion (A. carotis, A. vertebralis), Sinusvenenthrombose, Vasokonstriktion, genetische Vaskulopathie (z. B. CADASIL, MELAS, Moyamoya-Erkrankung)
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cMRT mit MR-Angiographie, Doppler- bzw. Duplexsonographie, ggf. konventionelle Angiographie
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Nicht-vaskuläre intrakranielle Erkrankungen
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Erhöhter Hirndruck (z. B. Hydrocephalus, idiopathische intrakranielle Hypertension), erniedrigter Hirndruck (z. B. postpunktionelles Syndrom), nicht-infektiöse intrakranielle Inflammation (z. B. aseptische Meningitis), Neoplasie, Epilepsie (iktale oder postiktale Kopfschmerzen), intrathekale Injektion, Chiari-Malformation Typ 1
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cMRT ggf. Lumbalpunktion
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Substanzgebrauch oder - entzug
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Übergebrauch von Ergotaminen, Triptanen, Paracetamol, NSAID, Opioiden. Entzug von Koffein, Opioiden
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Anamnese Analgetikapause für 4 Wochen
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Infektion
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Meningitis, Enzephalitis, intrakranieller Abszess
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cMRT, Labordiagnostik ggf. Lumbalpunktion
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Erkrankungen der Homöostase
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Aufenthalt in großer Höhe, Tauchen, Fliegen, Schlaf-Apnoe-Syndrom, Dialyse, Eklampsie, Hypothyreose, Fasten, kardiale Ursachen
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Anamnese Ggf. Polysomnographie, kardiologische Untersuchung, Labordiagnostik
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Kopf-, Gesichtsschmerz durch Erkrankung des Schädels, Nackens, der Augen, Nase, Nasennebenhöhlen, Zähne, Mund, faziale oder zervikale Strukturen
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Erkrankungen der Kalotte, Refraktionsfehler, akutes Glaukom, Sinusitis, Otitis, Zahnerkrankungen
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ggf. cMRT HNO-, zahnärztliche oder orthopädische Mitbeurteilung
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Psychiatrische Erkrankung
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Somatisierungsstörung, Psychose
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Psychologische Exploration
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Pathophysiologie
Spannungskopfschmerzen können durch eine erhöhte periphere (muskuläre Anspannung) und zentrale (psychischer Stress) Aktivierung ausgelöst und verstärkt werden. Dabei kommt es über eine Hemmung inhibitorischer Hirnstammneurone im periaquäduktalen Grau und im Nucleus raphe magnus zu einer zentralen Schmerzsensibilisierung bzw. Erhöhung der Schmerzempfindlichkeit [26]. Häufig rezidivierende Kopfschmerzen führen sowohl zu einer Dauersensibilisierung im myofaszialen Gewebe, als auch zu einer Langzeitaktivierung nozizeptiver Neurone und Blockierung inhibitorischer antinozizeptiver Systeme [15]
[29]. Die Daueraktivierung zentraler nozizeptiver Neurone könnte die Ursache chronischer Spannungskopfschmerzen sein [34]
[40].
Der Migräneschmerz entsteht im trigeminovaskulären System durch eine neurogene Entzündung (Serotonin, Substanz P u. a.) und wird über den trigeminozervikalen Komplex im Thalamus zu den sensiblen und affektiven Kortexarealen weitergeleitet. Die Aura entsteht durch eine Welle neuronaler Aktivität mit anschließender kortikaler Hemmung (Cortical-Spreading-Depression). Neben Umweltfaktoren spielt die erbliche Disposition eine wichtige Rolle. Sie liegt für die Migräne mit/ohne Aura bei ca. 40–50% (Konkordanz für Zwillinge 30–45%) [25]. Bei der familiär-hemiplegischen Migräne sind Mutationen bekannt (CACNA1A-, ATP1A2-, SCN1A-Gen), die zu einer transienten Funktionsstörung von Ionenkanälen und ATPase und zu einer erhöhten Neuroexzitation durch Vermehrung von Glutamat und Kalium im synaptischen Spalt führen [6]
[36]. Als Triggerfaktoren spielen Hormone (Regelblutung), Umweltfaktoren (Lärm) und psychische Faktoren (Stress) eine Rolle. Risikofaktoren für eine Chronifizierung sind früher Beginn und häufige sowie schwere Attacken.
Bei der Entwicklung von primären Kopfschmerzen spielen bio-psycho-soziale Faktoren eine wichtige Rolle. Risikofaktoren sind Substanzkonsum (Koffein, Alkohol, Nikotin), Inaktivität und Übergewicht [20]
[39], Stress, Prüfungsangst und das Gefühl ungerechter Behandlung in der Schule [10]
[50], familiäre Konflikte, Nichtbeachtung, psychische und körperliche Misshandlung [46], weniger als 2 Stunden Freizeit und ein hohes Erwartungsniveau der Eltern [14]. Für die Chronifizierung sind unter anderem eine ängstlich erhöhte Körperaufmerksamkeit [28], passiv vermeidende Schmerzbewältigungsstrategien (Inaktivität und Schonung) [20]
[39], das Aufheben der Tagesstruktur und die Fokussierung der familiären Interaktion auf die Schmerzproblematik [47]
[48] verantwortlich. Dagegen spielen die tägliche Trinkmenge und ausgelassene Mahlzeiten keine Rolle [32].
Diagnostik
Die Kopfschmerzklassifikation erfolgt nach der International Headache Society (IHS) anhand der Kopfschmerzbeschreibung, Verlaufsparametern und dem Ausschluss symptomatischer Ursachen [51]
[56]. Dafür sind die Anamnese und der klinische Befund wichtig. Bei nächtlichen oder morgendlichen Kopfschmerzen, ständiger Übelkeit, rezidivierendem oder morgendlichem Erbrechen, Krampfanfällen, fokalen neurologischen Symptomen oder Wesensveränderung muss ein MRT vom Kopf rasch erfolgen, ansonsten großzügig bei zunehmenden, rezidivierenden oder persistierenden Kopfschmerzen und bei Änderung der Kopfschmerzsymptomatik. Auch die psychische Dynamik bei Angst des Patienten oder der Eltern vor einem Hirntumor kann eine Indikation zum MRT sein. Obwohl chronische Kopfschmerzen bei kleinen Kindern seltener sind als bei älteren Kindern, wird die Indikation zum MRT wegen der Narkose zurückhaltender gestellt. Nach unserer Erfahrung sind MRT Untersuchungen ohne Narkose bei vielen Kindern jedoch schon ab 4 Jahren mit einer entsprechenden Vorbereitung möglich. Bei persistierenden Kopfschmerzen mit Wesens- oder Bewusstseinsveränderungen, Anfällen und/oder neurologischen Herdsymptomen muss bei unauffälligem MRT eine MR-Angiografie zum Ausschluss einer Sinusvenenthrombose durchgeführt werden, insbesondere bei vorausgegangenen Infektionen im Gesicht bzw. der Nasennebenhöhlen.
Ein EEG kann bei Aurasymptomatik zur Abgrenzung von seltenen fokalen epileptischen Anfällen indiziert sein [21]. Zum Ausschluss anderer hirnorganischer Erkrankungen ist es nicht geeignet, da EEG-Veränderungen bei Kindern in der Kopfschmerzepisode (36% bei Migräne und 12% bei Spannungskopfschmerzen) und im kopfschmerzfreien Intervall (16% bei Migräne und 2% bei Spannungskopfschmerzen) zu häufig sind [35].
Eine HNO-Untersuchung sollte bei V. a. einen Nasennebenhöhlenprozess erfolgen. Eine augenärztliche Untersuchung ist zum Ausschluss von Sehfehlern (Hyperopie) und einer Stauungspapille bei Hirndruck bzw. einem Pseudotumor cerebri indiziert.
Eine Lumbalpunktion muss bei V. a. eine Meningitis bei Fieber und Meningismus oder eine Enzephalitis bei anhaltenden kognitiven Ausfällen bzw. konfusionellen Symptomen erfolgen. Beim Nachweis einer Stauungspapille ohne Auffälligkeiten im MRT ist eine Liquordruckmessung zum Ausschluss eines Pseudotumor cerebri erforderlich. Nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie ist ein Liquoreröffnungsdruck ≥25 cmH2O pathologisch, nach neueren Untersuchungen und nach der IHS Klassifikation von 2018 bei adipösen Kindern erst ab ≥28 cmH2O [13]
[56]. Voraussetzung ist eine korrekte Messung bei ruhigem Patienten in Seitenlage. Falsch hohe Liquordruckwerte können durch Schreien, Pressen und Medikamente, z. B. bei Sedierung (Ketanest) entstehen [31]. Bei Patienten mit Muskelerkrankungen oder schweren kraniofazialen Syndromen sollte ein Schlafapnoesyndrom durch eine Polysomnografie ausgeschlossen werden.
Wichtig ist die Medikamentenanamnese zum Ausschluss eines medikamenteninduzierten Kopfschmerzes. Für die standardisierte Erfassung der Kopfschmerzsymptomatik eignet sich ein Kopfschmerzfragebogen, wie der Deutsche Schmerzfragebogen für Kinder, Jugendliche und Eltern [41].
Ambulante Schmerztherapie
Ambulante Schmerztherapie
Die Aufklärung und Vermittlung der Schmerzursache und des Teufelskreislaufs der Schmerzverstärkung (Schmerzedukation) anhand des bio-psycho-sozialen Modells führen oft schon zu einer Besserung. Wichtig ist, dass die Patienten lernen, Migräne und Spannungskopfschmerzen zu unterscheiden ([Tab. 1]) und Triggerfaktoren zu vermeiden. Schmerzen sollten immer ernst genommen werden, aber nicht zu einer erhöhten Aufmerksamkeit und Pflichtentlastung führen außer in der Migräneattacke. Ab dem Schulalter können Patienten bei Spannungskopfschmerzen, Migräne und Mischbildern lernen, sich vom Schmerz abzulenken und einen normalen Alltag zu führen. Dabei helfen Schmerzdistanzierungs-, Entspannungs- und Atemtechniken, Biofeedback, körperliche Aktivität und Physiotherapie bei muskulären Verspannungen oder Haltungsproblemen. Akupunktur und Stimulationsverfahren (transkutane elektrische Nervenstimulation, transkranielle Magnetstimulation) können ebenfalls helfen [22], haben aber den Nachteil, dass sie nicht selbständig vom Patienten durchgeführt werden können. Darüber hinaus müssen schmerzverstärkende Stressfaktoren (kindliches Katastrophisieren, elterliche Sorge), psychologische und soziale Belastungsfaktoren sowie emotionale Komorbiditäten (Angststörung, Depression) erkannt und ggf. psychotherapeutisch behandelt werden.
Bei Spannungskopfschmerzen sind Analgetika nur in Ausnahmefällen indiziert. Manchmal hilft Pfefferminzöl 10% (Euminz®) auf die Schläfe. Wenn die nicht-medikamentöse Therapie zu keiner Besserung führt, kann bei chronischen Spannungskopfschmerzen in Einzelfällen ein Therapieversuch mit Amitriptylin (Zulassung ab 6 Jahre) in niedriger Dosierung für 3–4 Monate durchgeführt werden.
Bei Migräne, Clusterkopfschmerz, Paroxysmaler Hemikranie und Trigeminusneuralgie sind Schmerzmittel frühzeitig und in ausreichend hoher Dosierung indiziert. Migräneattacken werden mit Reizabschirmung (Schlaf), Stirn kühlen, Antiemetika bei Erbrechen und NSAID ([Tab. 3]) behandelt, wobei Ibuprofen Paracetamol überlegen ist [17]. Bei unzureichender Besserung ist die Wirksamkeit von Sumatriptan (Imigran®) oder Zolmitriptan als Nasenspray bei 60–70% der Kinder in zahlreichen Studien nachgewiesen [54]. Die Zulassung besteht ab 12 Jahren. Bei fehlender Wirksamkeit kann ein Wechsel auf Rizatriptan (Zulassung ab 6 Jahren in den USA) oder Almotriptan (Zulassung ab 12 Jahren in den USA) sinnvoll sein [27]
[52]. Bei unzureichender Wirkung hilft oft die Kombination von Triptanen mit NSAID oder Metamizol. Bei sehr schweren oder lang anhaltenden Migräneattacken über 72 Stunden (Status migränosus) ohne Besserung durch die angegebenen Maßnahmen besteht die Indikation für Steroide (2 mg/kg Körpergewicht) oder Aspirin i.v. (10 mg/kg Körpergewicht i. v.).
Tab. 3 Pharmakotherapie der Migräne.
Indikation
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Wirkstoff
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Initialdosis
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Intervall (h)
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Maximaldosis (mg/kg KG/Tag)
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Applikation
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Analgesie
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Ibuprofen
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10 mg/kg KG
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6–8
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40
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p.o., rectal
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Paracetamol
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15 mg/kg KG
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6–8
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65(–100)
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p.o., rectal
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Metamizol
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15 mg/kg KG
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4–6
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75
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p.o., rektal, i. v.
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Sumatriptan
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10–20 mg ED 12,5–50 mg ED 12,5–25 mg ED 3–6 mg ED
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>12
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intranasal p.o. rektal s.c.
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Zolmitriptan
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2,5 mg ED bei <30 kg KG 5 mg ED bei >30kg KG
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>12 h
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nasal ab 12. LJ, p.o. (off label)
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Almotriptan
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12,5 mg ED
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>12
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25 mg/d
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p.o. (off-label in schweren Fällen)
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Rizatriptan
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5 mg ED bei 20-39 kg KG 10 mg ED ab 40 kg KG
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>24
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p.o. (off-label in schweren Fällen)
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Antiemese
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Dimenhydrinat
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40 mg ED ab 8 kg KG 70 mg ED ab 14 kg KG 150 mg ED ab 15 Jahre
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5 mg/kg/d 6-14 Jahre max. 150 mg/d ab 15 Jahre max. 400 mg/d
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rektal
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Domperidon
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10 mg/kg KG
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8
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30 mg/d
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p.o. ab 12. LJ
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Metoclopramid
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0,1 mg/kg KG
|
8
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0,5
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p.o., rektal, i. v. cave: extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen
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ED=Einzeldosis
Bei hoher Attackenfrequenz, ausgeprägter Aurasymptomatik oder chronischer Migräne und Versagen der analgetischen und nicht-medikamentösen Therapie kann eine Intervalltherapie zur Migräneprophylaxe für 3–6 Monate sinnvoll sein. Eine Wirksamkeit wurde für Betablocker (Metoprolol 0,5–1 mg/kg Körpergewicht, max. 50–100 mg) in langsam steigernder Dosis nach unauffälligem EKG in einer Dosis am Abend (Zulassung ab 6 Jahre) und Flunarizin (off-label) nachgewiesen [4]. Topiramat sollte wegen der widersprüchlichen Datenlage und häufiger Nebenwirkungen erst in zweiter Wahl eingesetzt werden [4]
[11]
[38]. Für die Wirksamkeit von Nahrungsergänzungsmittel (Vitamin D, Mineralien, Magnesium, Coenzym Q, Melatonin) und Pestwurz gibt es nur Einzelfallberichte [4]
[11]
[22]. Botulinumtoxin ist im Kindesalter eine experimentelle Option, wenn keine der genannten Therapien geholfen hat [4]. Bei allen Medikamenten ist ein Placeboeffekt von bis zu 50% zu erwarten, der schwer vom spezifischen Therapieerfolg zu differenzieren ist [12]
[24].
Bei sekundären Kopfschmerzen steht an erster Stelle die Beseitigung der zugrunde liegenden Ursache. Bei analgetika- bzw. medikamenteninduzierten Kopfschmerzen bessert sich die Kopfschmerzsymptomatik deutlich nach einer Medikamentenpause von vier Wochen bis zu 2 Monaten. Entzugssymptome wie vorübergehend stärkere Kopfschmerzen, Übelkeit, Unruhe, Abgeschlagenheit, Schwitzen und Herzklopfen sind bei Jugendlichen sehr selten und müssen nur in Ausnahmefällen behandelt werden, z. B. mit Steroiden (1–2 mg/kg Körpergewicht). Wenn die Gabe von Schmerzmittel nicht zu verhindern ist, sollte Ibuprofen oder ASS bei Jugendlichen gegeben werden.
Ein Kopfschmerzkalender ist zur Therapieplanung und Überprüfung des Behandlungserfolgs für 1–2 Monate wichtig.
Stationäre multimodale Schmerztherapie
Stationäre multimodale Schmerztherapie
Wenn die ambulante Schmerztherapie erfolglos ist und eine manifeste oder drohende Beeinträchtigung der Lebensqualität oder Schulfähigkeit vorliegt, sowie ein Medikamentenfehlgebrauch oder eine schmerzunterhaltende Begleiterkrankung, besteht die Indikation für eine stationäre multimodale Schmerztherapie [55]. Die am Deutschen Kinderschmerzzentrum in Datteln entwickelte 3–4-wöchige Therapie führt zu einer signifikanten Verbesserung der Schmerzstärke bei zwei Drittel sowie der schmerzbedingten Beeinträchtigung und emotionalen Belastung bei mehr als der Hälfte schwer beeinträchtigter Kinder und Jugendlichen nach 3–48 Monaten [7]
[8]
[18]
[53]. Auch die Arbeitsfehlzeiten und die subjektive finanzielle Belastung der Eltern durch die Schmerzerkrankung der Kinder nimmt signifikant ab [19]
. Die Therapie besteht aus 6 Modulen, die nach dem bio-psycho-sozialen Modell aufeinander aufbauen und auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten abgestimmt sind [53]. Patienten und Angehörige lernen, welche biologischen (Genetik, Muskelverspannung, körperliche Dekonditionierung), psychischen (Fehlbewertung, Angst, erhöhte Körperaufmerksamkeit) und sozialen (Vermeidungsverhalten, Schmerzinteraktion) Faktoren die Schmerzen aufrechterhalten oder verschlimmern können [28]
[47]
[48]. Somatisch werden die Ursachen und Therapiemöglichkeiten der Kopfschmerzen und Schmerzsensibilisierung im Gehirn besprochen sowie die Notwendigkeit körperlicher Aktivität in Physio-, Sport- und Milieutherapie trotz Schmerz vermittelt. Psychologisch werden die Schmerzwahrnehmung durch Ablenkungstechniken, schmerzverstärkende Gedanken („es wird nie besser!“) durch kognitive Umstrukturierung, belastende Erinnerungen und Emotionen durch imaginative Übungen sowie schmerzunterhaltende Begleiterkrankungen (Angststörung, Depression, posttraumatische Belastungsstörung) störungsspezifisch behandelt [37]
[42]. Das soziale Kompetenz- und Konfliktbewältigungstraining bei der Einhaltung eines regelmäßigen Tagesablaufes mit Schulbesuch, Stationsdiensten und Freizeitprogramm stärken die Selbstwirksamkeit und das Selbstwertgefühl der Patienten. In der Familientherapie wird der Umgang mit Schmerzen, psychosozialen Konflikten, belastenden Lebensereignissen und Überforderungen verbessert, ggf. mit familienunterstützenden Hilfen und Jugendhilfemaßnahmen. Der Behandlungserfolg wird durch eine Belastungserprobung zu Hause und in der Schule überprüft.