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DOI: 10.1055/a-0755-2688
Medizinische Datenhaltung – Ansatz, Konzepte, strategische und operative Implikationen
Article in several languages: deutsch | EnglishPublication History
Publication Date:
03 April 2019 (online)
- Zusammenfassung
- I. Prinzipielle Überlegungen
- II Konzepte der medizinischen Datenhaltung
- III. Erfolgsfaktoren, strategische und operative Implikationen
- Literatur
Zusammenfassung
Die Erfassung, Auswertung und Bewirtschaftung klinischer Daten mittels elektronischer Anwendungen hat in der Medizin bereits eine weite Verbreitung gefunden. Der Digitalisierung von Patientenakten werden signifikante Effizienz- und Effektivitätspotenziale beigemessen, die auch dazu führen, dass seitens des Gesetzgebers und der Selbstverwaltungsorgane zahlreiche Initiativen gestartet wurden, um möglichst in naher Zukunft eine flächendeckende Etablierung von elektronischen Patientenakten in den klinischen Entitäten sicherzustellen. Gleichwohl liegen die deutschen Krankenhäuser und Praxen im internationalen Vergleich weit zurück. Der folgende Artikel beschreibt die Prinzipien der elektronischen medizinischen Datenhaltung und erläutert die verschiedenen Ansätze, die im internationalen Kontext verfolgt werden. Darüber hinaus wird diskutiert, wie mithilfe elektronischer Datenerfassungs- und Bewirtschaftungssysteme Wert im Sinne von höherer Versorgungsqualität oder von geringeren Versorgungskosten geschaffen werden kann. Und schließlich werden die strategischen und operativen Implikationen abgeleitet und konkrete Handlungsempfehlungen gegeben, wie die Einführung einer organisationsweiten elektronischen Patientenakte optimal gestaltet werden kann.
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Schlüsselwörter:
Elektronische Patientenakte - Digitalstrategie - Digitale Transformation - ePA - elektronische Gesundheitsakte - KrankenhausI. Prinzipielle Überlegungen
Im September 2018 überschritten erstmals 2 Unternehmen die lange als magisch geltende Grenzmarke einer Börsenkapitalisierung von mehr als 1 Billion $. Kurz nacheinander waren damit sowohl der Apple-Konzern als auch der Internethändler Amazon jeweils mehr wert als das Bruttoinlandsprodukt der Niederlande oder der Schweiz und Österreichs zusammengenommen. Unter den wertvollsten Unternehmen der Welt finden sich neben Apple und Amazon auch noch 2 weitere datengetriebene Unternehmen: der Google-Mutterkonzern Alphabet und das soziale Netzwerk Facebook. Investmentmanager und Anlagestrategen rechnen damit, dass die Wertentwicklung der Datenkonzerne noch für einige Jahre nahezu ungebremst anhalten wird. Den Kursphantasien liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Daten das Gold einer globalen digitalisierten Wirtschaft darstellen. Daten sind der Kitt, der die Elemente der Wertschöpfungsketten zusammenhält. Durch die Omnipräsenz digitaler Technologien werden laufend immense Datenmengen generiert, deren Bewirtschaftung und Nutzung die wesentlichen Voraussetzungen für moderne Wertschöpfung darstellen.
Immer weiter wachsende Speicherkapazitäten und nahezu ungebremst steigende Prozessorleistungen, die dem vor über 50 Jahren erstmalig beschriebenen Mooreschen Gesetz folgen [1], machen multidimensionale Datenanalysen möglich und, dank eines technologiebedingten Preisverfalls, erschwinglich [2]. Große Datenmengen, gemeinhin als „Big Data“ apostrophiert [3], können mit intelligenten Computerprogrammen durchforstet und ausgewertet werden [4]. Dabei geht es häufig um das Erkennen von Mustern, einerseits um die Datenquellen sprich: die einzelnen Nutzer besser charakterisieren zu können [5] [6] und andererseits um die Entwicklung prädiktiver Modelle, mithilfe derer sich das (Konsum-) Verhalten der Nutzer präzise vorhersagen lässt [7]. Auf dieser Basis können bspw. vom Internethändler passgenaue Angebote errechnet und platziert werden, die eine Akquise seitens des Nutzers mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lassen [8]. Der technische Fortschritt bewirkt darüber hinaus die rasante Entwicklung von künstlichen Intelligenz (KI)-Anwendungen, der in nahezu allen Lebensbereichen ein riesiges Potenzial zugerechnet wird [9].
Die Digitalisierung hat sämtliche Lebensbereiche erfasst und verändert die Geschäftslogik vieler Branchen signifikant und nachhaltig. Die sogenannte digitale Transformation wirkt in 5 strategischen Kategorien [10]:
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Kunden
Die Machtverhältnisse zwischen Anbieter und Konsument haben sich umgekehrt. Das Informationsmonopol liegt nicht mehr beim Produzenten sondern ist durch das Internet atomisiert. Über soziale Netzwerke, Foren und Vergleichs- bzw. Bewertungsplattformen können meist unvalidierte Informationen viral verbreitet werden. Der Einfluss des einzelnen Kunden nimmt dadurch erheblich zu. Im Fokus des Marketings stehen deshalb Loyalität, Einkaufserlebnis und hohe Servicequalität. -
Wettbewerb
Einerseits erlauben kostengünstige Technologien die schnelle und wenig komplexe Entwicklung digitaler Produkte und Dienstleistungen, sodass sich der Kreis der Wettbewerber dynamisch erweitert („New Entries“). Andererseits führen die oben beschriebenen Netzwerkeffekte zu einer Konzentration der Konsumenten auf wenige große Anbieter. In allen Branchen verändert sich das Wettbewerbsfeld laufend und in hoher Dynamik, was eine hohe Reaktivität und Agilität erfordert. -
Daten
Wie die oben angeführten Beispiele zeigen, sind Daten, die kontinuierlich und überall generiert werden die wesentliche Währung für den Wert einer Unternehmung geworden. Auch unstrukturierte Daten können durch die modernen Technologien zunehmend genutzt werden. Viele Unternehmen beginnen gerade erst, ihren „Datenschatz“ zu verstehen und zu heben. -
Innovation
Die hohe Dynamik erfordert eine signifikante Beschleunigung und Flexibilisierung unternehmerischer Innovationsprozesse. Erfolgreiche Unternehmen und Organisationen verlassen die traditionellen und langsamen, linearen Vorgehensweisen und etablieren experimentelle, iterative und nahezu chaotische Prozesse, um möglichst schnell die Lösung für das richtige Problem zu finden. Das Ziel ist nicht mehr ein fertiges und nahezu perfektes Produkt sondern ein minimaler Prototyp, der schnell im Markt getestet und laufend optimiert wird (sog. „minimal viable product; MVP“). -
Wert In der analogen Welt waren Wertschöpfungsmechanismen über lange Zeit stabil, sodass die Organisationen sich darauf ausrichten und dahingehend strukturieren konnten. Erfolg war meistens nachhaltig, weil er in der Erfüllung relativ statischer Bedürfnisse wurzelte. Flüchtige Kundenbedürfnisse und schlecht vorhersagbare Marktveränderungen erfordern im digitalen Zeitalter laufende Anpassungen der jeweiligen Geschäftslogik. Dadurch ergeben sich permanent neue Chancen aber auch neue Risiken für den geschäftlichen Erfolg. Der Columbia University-Professor David Rogers fasst es in einem Satz zusammen: „Only the paranoid survive“ [10].
Auch die Medizin ist ein Informationsgeschäft. Die klinische Medizin lebt von der Generierung, der Beurteilung und der Archivierung von Informationen. Als Erfahrungswissenschaft ist sie darauf angewiesen, dass möglichst viele verwertbare Informationen zur Verfügung stehen und zum Wohl des Patienten systematisch analysiert werden. Der überwiegende Teil der medizinischen Interventionen nutzt das Kommunikationssystem des menschlichen Körpers über die Sensorik oder greift in die körpereigenen Kommunikationssysteme wie z. B. das Immunsystem, das endokrine System oder das Nervensystem ein [11]. Bei allen klinischen Vorgängen fallen Daten an, die es zu erheben, zu speichern und zu analysieren gilt. Der Datenanfall ist bereits heute sehr hoch und nimmt nahezu exponentiell zu. Der jährlich erscheinende Internet-Trend-Report der Beratungsfirma Kleiner Perkins führt auf, dass in der durchschnittlichen Arztpraxis pro Jahr 26 Datensätze pro behandelndem Patient entstehen. In einem typischen Krankenhaus mit 500 Betten entstehen so in jedem Jahr 50 Petabytes an Daten (1 PB=1015 Bytes=1 Mrd. MB). Die jährliche Wachstumsrate von Gesundheitsdaten liegt bei 48%. Die Halbwertszeit medizinischen Wissens liegt nunmehr bei knapp 3 Jahren; die Anzahl publizierter Studien folgt seit Jahren einer Exponentialfunktion [12]. Damit ist das Wachstum an medizinischen Daten und Informationen größer als das der übrigen Internet-basierten Daten. Es wird geschätzt, dass alleine die dokumentierten genomischen Daten im Jahr 2025 umfangreicher sein werden als die dann vorliegenden Daten der Internetdienste YouTube, Twitter und die Daten aus der astronomischen Forschung zusammen [13]. Treiber für diese Entwicklung sind einerseits die sich entwickelnden technischen Möglichkeiten, bspw. der digitalen Dokumentation von radiologischen oder pathologischen Befunden oder klinischen Bildern, zum anderen aber auch die Ausweitung des molekularen Grundlagenverständnisses, das zu einer höheren Fragmentierung und damit einer höheren Komplexität in der Taxonomie von Erkrankungen führt [14]. Je personalisierter, d. h. individualisierter die klinische Diagnostik und die Therapie sind, desto größer werden die Datensätze pro Patient. Darüber hinaus ist die Interdisziplinarität des Fachs gestiegen, sodass im Behandlungsverlauf mehr Schnittstellen entstehen. Und schließlich werden Patienten zunehmend transsektoral versorgt, was eine weitere Komplexitätsschicht auf den klinischen Pfad legt. Die Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde zählt insbesondere in ihrem otologischen bzw. audiologischen Teil zu den klinischen Disziplinen, in denen die meiste Information digitalisiert vorliegt bzw. digitalisiert werden kann. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass die Lebenswirklichkeit der HNO-Ärzte über kurz oder lang signifikant von den Veränderungen betroffen sein wird [11].
Die wahrgenommene hohe Dynamik der Veränderungen in der Medizin ist auf die Explosion wissenschaftlicher Information zurückzuführen und auf die Notwendigkeit, diese Informationen in der Praxis der Heilkunde anzuwenden [15]. Dabei stellt sich die Frage, ob die Informationstechnologie, die zur sinnvollen Handhabung der medizinischen Informationen zur Anwendung kommt, nur eine weitere Ergänzung einer langen Liste von innovativen Technologien ist, die im Lauf der Zeit von den klinischen Notwendigkeiten der Medizin domestiziert wurden, oder ob es sich tatsächlich um eine disruptive Entwicklung handelt, die die Logik der Medizin fundamental und nachhaltig verändern wird [16]. Vieles spricht dafür, dass durch die zunehmende, permanente und örtlich völlig ungebundene Verfügbarkeit von klinischer Information ein Paradigmenwechsel ausgelöst wird, den der amerikanische Systembiologe und Molekulargenetiker Leroy Hood als P4-Medizin bezeichnet. Demnach verursacht die Digitalisierung eine Verlagerung des klinischen Fokus von einem traditionellen, primär kurativen Ansatz hin zu einer prädiktiven, präventiven, personalisierten und partizipatorischen Logik [17].
Immer dann, wenn sich in bestimmten Lebensbereichen oder Branchen Paradigmenwechsel abzeichnen oder zumindest möglich erscheinen, ergeben sich strategische Opportunitäten, die geschäftlich genutzt werden wollen. So nimmt es nicht Wunder, dass auch die großen Technologiefirmen, wie bspw. Google, IBM, Amazon, Microsoft, Facebook oder auch die deutsche SAP ein hohes Interesse an der Generierung und Bewirtschaftung medizinischer Daten zeigen. Gleichwohl sind die bisherigen Ergebnisse bestenfalls gemischt und einige der Unternehmen mussten trotz hoher Investitionssummen und dem signifikanten Einsatz von Know-how herbe Rückschläge hinnehmen [18] [19] [20] [21] [22] [23]. So haben bspw. Google als auch Microsoft ihre anfänglich hoch gehandelten Digital Health-Aktivitäten für mehrere Jahre eingefroren, da sie nicht von Erfolg gekrönt waren. Offensichtlich lassen sich die bekannten Prinzipien und Strukturen, die insbesondere in der Konsumgüterbranche extrem erfolgreich sind, nicht einfach, linear bzw. 1:1 auf die medizinische Versorgung übertragen. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht nicht überraschend, dass das Gesundheitswesen allen anderen Branchen im Digitalisierungsgrad weit hinterher läuft [24].
Voraussetzung und Grundlage jedweder Wertschöpfung aus Daten ist die Nutzbarmachung dieser Daten mithilfe von Datenbanken, die die Bewirtschaftung, die Auswertung, das Kombinieren und die Weiterverwendung der Daten erlauben. Im medizinischen Versorgungskontext haben sich für derartige Datenbankanwendungen Begriffe wie elektronische Patientenakte, electronic health record (EHR) oder auch elektronisches Patientenfach entwickelt. Vorreiter für diese versorgungspezifischen Datensysteme sind die USA, wo parallel zur Einführung von Computertechnologien in den 60-er und 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts erste EHRs entwickelt und etabliert wurden [25]. Aufgrund der spezifischen US-amerikanischen Versorgungsstruktur sind die meisten medizinischen Datenbanksysteme regional organisiert. Eine nationale Lösung ließ sich bisher nicht durchsetzen [26]. Da die flächendeckende Implementierung von EHRs trotz der vermuteten großen Wertschöpfungspotenziale auf sich warten ließ, verfügte die Clinton-Administration ein Gesetz (Health Insurance Portability and Accountability Act, HIPAA), das die Einführung von electronic health records boostern sollte. Seitdem hat die Marktdynamik für EHRs signifikant zugenommen. Über 90% der US-Krankenhäuser und der amerikanischen Praxen hat inzwischen irgendeine Form von elektronischer Fallakte eingeführt [12] [27]. Der globale Markt wird derzeit mit 23 Milliarden $ taxiert, wovon gut 40% auf die USA fallen, und wächst jährlich um ca. 10% [28]. Die in den letzten Jahren sehr dynamische Penetration des amerikanischen Versorgungsmarktes mag auch damit zusammenhängen, dass in vielen Versicherungssystemen, die in den USA überwiegend privatwirtschaftlich organisiert sind, von den traditionellen fee-for-service-Vergütungen sukzessive abgerückt wurde. Stattdessen werden vielerorts und zunehmend value-based-contracts und pay-for-performance-Verträge geschlossen, bei denen die Höhe der Vergütung an das klinische Ergebnis gekoppelt ist [29] [30]. Die Voraussetzung für die Operationalisierbarkeit solcher Vertragskonstrukte ist die Erhebung, Vorhaltung und Zurverfügungstellung relevanter klinischer Daten, die von der Versicherungsseite überprüft, d. h. controllt werden können [31] [32] [33].
Allerdings sind die Rezeptionen der Technologie in diesem global am weitesten entwickelten Markt seitens der Anwender überaus gemischt. Es ergibt sich kein klares Bild, welches das Urteil rechtfertigen könnte, dass EHRs in jedem Fall zu einer verbesserten, effizienteren, kostengünstigeren und für alle Beteiligten sinnvolleren Versorgung führen [34]. In vielen Studien ist von einer weit verbreiteten Frustration der Ärzte und des Pflegepersonals die Rede [35] [36]. Electronic health records und die mit ihnen einhergehenden Dokumentationspflichten werden sogar als wichtigste Einzelursache für den endemisch um sich greifenden Burnout von Ärzten angeführt [37]. Als besonders frustrierend wird empfunden, dass trotz der für die Akquisition und Eingabe von Daten eingesetzten ärztlichen Zeit nur wenig nutzbare Intelligenz an den behandelnden Arzt zurückfließt [38]. Obwohl unbestreitbar ist, dass die Erfassung und das Teilen von bestimmten biomedizinischen Informationen mittels EHRs verbessert wird, steht infrage, ob die Interaktion mit dem Computersystem nicht möglicherweise mit der psychosozial und emotional basierten Patientenkommunikation interferiert [39].
In diesem Zusammenhang werden verschiedene Hypothesen ins Feld geführt, die die beschriebenen Phänomene zu erklären versuchen. Einerseits ist die klinische Versorgung ungleich komplexer als jeder andere datenbasierte Entscheidungs- und Exekutionsprozess [40] [41]. Zum anderen sind in der klinischen Versorgung unterschiedlichste Anspruchsgruppen miteinander verwoben, deren teilweise gegenläufige Interessen fein ausbalanciert sind und somit zu einer renitenten Stabilisierung des nicht-digitalen status quo beitragen [42]. Und schließlich wird diskutiert, dass die meisten herkömmlichen computergestützten Kommunikations- und Datensysteme auf einem mathematischen, linearen Modell basieren (Sender-Transmitter-Empfänger [43]), das einem fluideren, interpretationsbedürftigeren Modell, welches die Notwendigkeit zur Exegese möglicher Bedeutungen der Informationen im Wittgensteinschen Sinne vorsieht, und das der ärztlichen Entscheidungsfindung und dem kollegialen Diskurs inhärent ist, entgegenstehen [41] [42] [43] [44].
Im Folgenden soll versucht werden, die verschiedenen Diskussionsaspekte zu ordnen und einen Überblick über die wesentlichen operativen und strategischen Implikationen der medizinischen Datenhaltung und -bewirtschaftung zu geben.
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II Konzepte der medizinischen Datenhaltung
a. Terminologie und Einordnung
Die Dynamik der Digitalisierung ist so hoch, dass sich innerhalb kürzester Zeit verschiedenste thematische Inseln herausgebildet haben, deren taxonomische Einordnung bisher nicht gelungen ist bzw. die der Entwicklung hinterher laufen. Gleiches gilt für die rechtliche und regulatorische Begleitung der Digitalindustrie, was insbesondere in einem sensiblen Anwendungsfeld wie der Medizin ein hohes Unsicherheits- und Konfliktpotenzial birgt [11]. Darüber hinaus erschwert die heterogene und bunte digitale Anwendungslandschaft die Entwicklung strategischer Direktiven im Sinne einer digitalen Agenda ([Abb. 1]).
Eine ähnliche Begriffsvielfalt herrscht auch bei den Datenhaltungssystemen vor. In den über 50 Jahren, die seit der Einführung der ersten Prototypen von medizinischen Datenbanken vergangen sind, sind mehrere Begriffe und Definitionen verwendet und auch wieder verworfen worden [45]. Ging es zunächst noch um die systematische Erfassung und Archivierung von klinisch-wissenschaftlicher Literatur ( MEDLARS und dann MEDLINE), gesellten sich mit Ausgang der 60-er und Beginn der 70-er Jahre Funktionalitäten hinzu, die zur klinischen Entscheidungsunterstützung, bspw. auf der Basis von Erinnerungsprogrammen, entwickelt und programmiert worden waren [46]. Mit der Marktreife von relativ einfach bedienbaren Datenbanksystemen und der Verbreitung der Personal Computer (PC) wurden mit Beginn der 80-er Jahre erste systematische Überlegungen angestellt, wie die im klinischen Verlauf einer Behandlung auflaufenden Daten und Informationen systematisch zusammengefasst und mehrdimensional auswertbar dokumentiert werden könnten. Dabei wurde schon sehr früh deutlich, dass eine der größten Herausforderungen für die Nutzbarkeit solcher Systeme darin liegt, von verschiedenen Beteiligten an verschiedenen Orten und zu jeder Zeit teilweise gleichzeitig, teilweise sukzessive genutzt werden zu können. Dies ist der Interdisziplinarität der klinischen Medizin geschuldet und verlangt als unabdingbare Voraussetzung für eine sinnhafte Anwendung eine Multi-User-Funktionalität, die gleichzeitig sowohl als Chronik der Ereignisse, als auch als Archiv, als auch als Entscheidungsgrundlage und Dokumentation der Entscheidungsfindung dienen muss [47].
Verschiedenste Begriffe, die letztlich sehr ähnliche Funktionalitäten beschreiben, sind in den letzten Jahren im Sinne einer Taxonomie eingeführt und diskutiert worden. Eine weite Verbreitung erfuhr der Begriff Computer-Based Patient Record (CPR), der verdeutlichte, dass der Patient und der an ihm stattfindende Versorgungsprozess die wesentliche Datenquelle darstellt [48]. Um die Jahrtausendwende herum wurde der Begriff CPR durch Electronic Health Record (EHR) weitgehend ersetzt. Dieser Begriff ist nunmehr im internationalen Kontext der Goldstandard. Synonym werden auch die Begriffe Electronic Medical Record (EMR), oder, seltener, Patient Health Record (PHR) verwendet, wobei der PHR sich dadurch unterscheidet, dass er vom Patienten befüllt und administriert wird, wohingegen die beiden anderen, EHR und EMR, beim Leistungserbringer oder auch bei der Krankenversicherung verwaltet werden. Unter CPOE werden Systeme oder Funktionalitäten von EHRs verstanden, mit denen die Behandler Anordnungen, Verordnungen/Verschreibungen oder Bestellungen veranlassen und dokumentieren können: Computerized Physician-Order Entry. Und schließlich bezeichnet CDSS Computerized Decision Support Systems, d. h. an EHRs angedockte Computerprogramme, die mittels „intelligenter“ Algorithmen medizinische Entscheidungen unterstützen sollen [49] [50]. Diese Subdisziplin der medizinischen Datenhaltung boomt aufgrund der Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz, wenngleich eine prinzipielle Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt noch schwer fällt (s.u.).
In Deutschland wird naturgemäß eine eigene Terminologie verwandt, die ebenfalls nicht ganz eindeutig ist. Am weitesten verbreitet ist der Begriff der elektronischen Patientenakte (ePA), der im Sozialgesetzbuch V in typisch deutscher Manier bereits kodifiziert wurde (§291 a). Hier hat der Gesetzgeber das physische Element der elektronischen Gesundheitskarte, die ursprünglich als Datenträger konzipiert war und sowohl den klinischen als auch den administrativen Datenfluss zwischen Leistungserbringer und Kostenträger vereinfachen sollte, um das Konzept einer Web-basierten Lösung erweitert. Dazu sah er sich gezwungen, weil das gemeinsame Entwicklungsprojekt der Selbstverwaltungsparteien, gematik, ohne Ergebnis geblieben war und letztlich, gemessen an dem ursprünglichen Auftrag als gescheitert gelten muss. Die ePA soll ab 2021 allen gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland zur Verfügung stehen und sektorenübergreifend bei allen Leistungserbringern und auch kassenübergreifend nutzbar sein [51]. Die konkrete Ausgestaltung steht allerdings noch in den Sternen. D. h. es ist unklar, wer letztlich die Administration, also die Datenhaltung und Datenbewirtschaftung verantwortet und wie die systemische Gestaltung erfolgen soll. Seitens der Kostenträger sind mehrere Initiativen gestartet worden. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels waren 3 unterschiedliche Ansätze vorgestellt und teilweise schon in praxi eingesetzt worden: einerseits das dezentral organisierte AOK-Modell, das die Daten in einer dezentralen Organisation, d. h. auf den Computersystemen der Leistungserbringer (Arztpraxen und Kliniken) bereithält. Andererseits das zentrale Modell der Techniker Krankenkasse unter Beteiligung der privaten Krankenversicherung Signal Iduna und Generali, bei der die Gesundheits- und Krankheitsdaten auf Servern des Unternehmens IBM gehalten und bewirtschaftet werden. Und schließlich das System des privaten Anbieters Vivy, hinter dem als maßgeblicher Investor die Allianz Krankenversicherung steht und dem sich verschiedene gesetzliche und private Krankenversicherungen angeschlossen haben, und bei dem die Daten ebenfalls zentral vorgehalten werden sollen. Allen Systemen soll gleich sein, dass der Patient Herr seiner Daten bleibt und entscheidet, wer auf welche Daten zu welchem Zeitpunkt Zugriff erhalten darf [52]. Zum jetzigen Zeitpunkt ist allerdings noch gänzlich unklar, ob und wie die verschiedenen Systeme miteinander kommunizieren und Daten austauschen können, um eine schnittstellenfreie Kommunikation zu gewährleisten, die ja gerade die Grundlage für eine nahtlose, sinnhafte und wertvolle Nutzung der Versorgungsdaten darstellt. Die beiden weiteren in Deutschland genutzten Begriffe elektronische Gesundheitsakte (eGA nach §68 SGB V) und elektronisches Patientenfach (ePF nach §291a SGB V) werden aller Voraussicht nach abgelöst, da es sich nach jetzigem Entscheidungsstand um Auslaufmodelle handelt. Im Folgenden wird hauptsächlich der Begriff Electronic Health Record (EHR) verwendet, da dieser international etabliert ist und die damit verbundenen Funktionalitäten auch in der deutschen Version, der ePA, ihre Entsprechung finden sollen.
Das US-amerikanische Institute of Medicine hat sich in der Vergangenheit um eine systematische Ordnung des weiten und fluiden Feldes der Health Information Technology (HIT) bemüht [16]. Nach dieser Definition muss ein EHR 8 Funktionen leisten können ([Tab. 1]).
Kernfunktionen |
Zusatzfunktionen |
---|---|
Datenhaltung von Gesundheitsinformationen |
Elektronische Kommunikation und Konnektivität |
Ergebnismanagement |
Patientenunterstützung |
Elektronische Eingabe von Anordnungen und Verschreibungen |
Unterstützung der Verwaltung |
Entscheidungsunterstützung |
Berichtswesen und Gesundheitsmanagement von Populationen |
Das bedeutet, dass eine elektronische Patientenakte im Kern imstande sein muss, Patientendaten zu sammeln und zu lagern, diese Informationen Leistungserbringern bzw. Behandlern anlassbezogen zur Verfügung zu stellen, den behandelnden Ärzten zu erlauben, Anweisungen und Verordnungen am Computer einzugeben und diese zu dokumentieren (CPOE) und Ärzte und Pflegepersonal mit Ratschlägen für Entscheidungen über Versorgungsalternativen individueller Patienten zu versorgen (CDSS). Die Definition zeigt, dass die Unterstützung und Erleichterung der klinischen Tätigkeit der Behandelnden, d. h. der Ärzte und der Pfleger im Mittelpunkt der Funktionalität steht [53]. Die Unterstützung der Verwaltungsprozesse, einschließlich der Abrechnung wird als notwendige aber nicht hinreichende Zusatzfunktion gesehen. Aus deutscher Sicht ist diese im gesamten internationalen Schriftgut verankerte Perspektive bemerkenswert, da hierzulande die Unterstützung der Verwaltungsprozesse und die Erwartung von Kosteneinsparungen in der Versorgung als zentrale Funktion einer elektronischen Datenhaltung gesehen werden. Demgegenüber besteht im angelsächsischen Umfeld Einigkeit darüber, dass HIT v. a. dazu da ist, die 3 Komponenten der ärztlichen Zeit zu optimieren: die Zeit, die der Arzt mit Patienten verbringt, die Zeit, die für die Dokumentation aufgewandt werden muss, und die Zeit, die für die kontinuierliche Weiterbildung eingesetzt werden kann [54]. Ein arztbezogener EHR als auch ein patientenbezogener PHR sollten so gestaltet und konstruiert werden, dass sie sich möglichst nahtlos in das berufliche oder das private Umfeld einfügen. Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, werden elektronische Patientenakten erfolgreich sein [52].
Der globale Markt für EHRs wird derzeit auf 23 Milliarden $ geschätzt und wächst seit vielen Jahren mit einer konstanten Wachstumsrate von über 5% [53]. Es existieren unterschiedliche Segmente, denen verschiedene Ansätze zugrunde liegen. So kann zwischen Web- bzw. Cloud-basierten und Systemen mit eigenem Server unterschieden werden, hinsichtlich der zentralen Aufgabe des Systems (z. B. Praxismanagement, Patientenmanagement, Überweisungsmanagement oder Netzwerkmanagement) oder nach der Konfiguration des Anwenders (Krankenhaus, Arztpraxis, Pflegeheim, Akutversorgung usw.) [55]. Allen Systemen gemein ist das schlichte aber gleichwohl in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzende GIGO-Prinzip: garbage in, garbage out. Das bedeutet, dass ein elektronisches Datenverwaltungs und -analysesystem nur so gut sein kann wie die schlechteste Qualität der eingegebenen Daten. D. h. also, dass selbst der smarteste Algorithmus aus unvollständigen oder fehlerhaft eingegebenen Daten nur schlechte, unklare, invalide oder gar falsche Analysen liefern kann [56]. Konsequenterweise bedeutet dies, dass schon bei der Erfassung und Eingabe der Daten in ein EHR die Entscheidung gefällt wird, welchen Nutzen das System zu einem späteren Zeitpunkt generieren kann. Dementsprechend muss das Augenmerk auf dem Datenerfassungsprozess liegen und es überrascht nicht, dass der Aufwand bei neu eingeführten und etablierten EHR-Systemen zu Beginn des Datenprozesses, also bspw. bei der Anlage eines neuen Datensatzes steigt. Dies wird von vielen Beteiligten allerdings als kontraintuitiv empfunden und ist häufig eine der maßgeblichen Ursachen für ein Versagen des Systems bzw. für die Ernüchterung und Enttäuschung auf Seiten der Anwender [57].
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b. Wertschöpfungslogik
Die Krankenversorgung in Deutschland erfolgt im Allgemeinen unter dem sozialrechtlich verankerten Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot. Dieses Effektivitäts- bzw. Effizienzparadigma kommt auch bei der Argumentation des Nutzens von elektronischen Patientenakten zur Geltung. Es wird einerseits angeführt, dass auf der Basis organisierter und entsprechend sinnvoll ausgewerteter Daten die Qualität der Versorgung gesteigert werden könnte und andererseits die Versorgungskosten reduziert werden könnten, es also zu Einsparungen im System käme. Wie oben beschrieben ist die Qualität der Daten eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Wertversprechen eingehalten werden. Darüber hinaus haben auch die Qualität und die Intelligenz der angewendeten Algorithmen, die technische Verarbeitungsqualität und die Ergebnis- und Berichtsqualität einen erheblichen Einfluss auf den Nutzen von EHRs.
Die Versorgungsqualität kann über verschiedene Wertmechaniken erhöht werden [58]: es wird angenommen, dass durch mehr und systematischer aufbereitete Daten sowohl die Diagnostik verbessert als auch die Therapie gezielter durchgeführt werden können. Auf die sich durch die Weiterentwicklung der personalisierten Medizin anbahnende Datenflut ist oben bereits eingegangen worden. In einigen Studien konnte bestätigt werden, dass EHRs zu einer höheren Adhärenz der Therapeuten an evidenzbasierte Leitlinien führen können [16] [50] [59]. Voraussetzung dafür ist, dass das System aktuelle Evidenzen vorhält und in der jeweiligen Therapiesituation als Entscheidungshilfe zuspielt. Weiterhin erleichtern entsprechend aufbereitete Daten die Mustererkennung, insbesondere im interindividuellen Vergleich und die Identifikation von Trends innerhalb bestimmter Populationen [60], was insbesondere bei seltenen Erkrankungen oder untypischen klinischen Situationen von hohem Wert sein kann.
Die Beteiligung von Patienten an der klinischen Entscheidung (Shared Decision Making) und ihre aktive Einbeziehung in das Management der Erkrankung verbessert die Versorgung und kann mithilfe elektronischer Patientenakten bewerkstelligt werden [61]. Die Interaktivität der Akte und das bedeutet auch das Teilen von Informationen und Dokumenten ist die dafür notwendige Voraussetzung. Perspektivisch muss sicher berücksichtigt werden, dass die Datenquellen, die beim Patienten liegen, ebenso wie die im professionellen klinischen Umfeld aus unterschiedlichsten Quellen generierten Daten interoperabel konfiguriert werden. Dies ist bei den von der Konsumgüterindustrie produzierten Apparaten, z. B. Wearables wie Fitnessuhren oder persönliche elektronische Assistenten (Alexa & Co.) mitnichten gewährleistet, da ein gemeinsamer Datenstandard nicht existiert.
Nicht eindeutig sind die Studiendaten zu der Hypothese, dass EHRs die Kommunikation, Kollaboration und Koordination in der klinischen Versorgung verbessern [50]. Offensichtlich sind die untersuchten Versorgungssituationen so heterogen in ihrem jeweiligen Set-up, ihrer Komplexität und ihrer Zieldefinition, dass dieses oft ins Feld geführte Wertversprechen, mit einer elektronischen Patientenakte verbessere sich quasi automatisch die intersektorale und interdisziplinäre Zusammenarbeit kritisch hinterfragt werden muss [62] [63].
Die Vermeidung von Therapiefehlern, insbesondere bei der Verordnung oder Applikation von Arzneimitteln gilt als weiterer wichtiger Werthebel für den Nutzen von elektronischen Patientenakten. Bspw. können integrierte Expertensysteme auf Wechselwirkungen, Unverträglichkeiten oder besonders Kontraindikationen hinweisen und so eine Falschbehandlung verhindern [16] [50] [64]. Interessanterweise liegen aber auch Studien vor, die genau das Gegenteil zu beweisen scheinen, dass Therapiefehler auf der Basis von EHRs nämlich zunehmen können [65] [66] [67]. D. h. auch hier ist die Studien- und Evidenzlage nicht eindeutig und hängt von der spezifischen Situation ab. Auf das oben ausgeführte GIGO-Prinzip sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich hingewiesen. Vollständige und gut strukturierte elektronische Patientenakten, bei denen die Qualität der Dateneingabe auf der Basis von verhaltenskontrollierenden Elementen sichergestellt wird, können die Gefahr des Daten -und Informationsverlustes und die Manipulationsanfälligkeit der klinischen Dokumentation reduzieren [50]. Das übliche, oft ins Feld geführte Szenario nicht auffindbarer Befunde oder radiologischer Bilder ergibt sich bei einer zentralen vollständigen und zugänglichen Datenhaltung nicht. Dieses ist sicherlich eines der stärksten Argumente für die Entwicklung und Etablierung einer elektronischen Patientenakte.
Mit der verpflichtenden Einführung eines Krankenhaus-Entlassmanagements nach § 35 SGB V hat noch ein weiterer Aspekt der Wertschöpfung durch elektronische Patientenakten an Bedeutung gewonnen. Die Idee ist, dass die Vorhaltung und Zurverfügungstellung von patienten- bzw. therapierelevanten Daten zu einer signifikanten Verringerung von Informationsbrüchen zwischen stationärem und ambulantem Sektor führen könnte. Diese Brüche werden für einen bedeutenden Teil der vermeidbaren Wiederaufnahmen ins Krankenhaus als ursächlich angesehen. Verschiedene Studien haben bspw. gezeigt, dass 20% der Wiederaufnahmen in das Krankenhaus Arzneimittel-bedingt sind und in mehr als zwei Dritteln dieser Fälle vermeidbar gewesen wären, wenn das therapeutische Management nicht unterbrochen oder geändert worden wäre [68] [69]. Auch beim Schlaganfall führen Informationsbrüche zu einer suboptimalen Versorgung der Patienten, sowohl in der akuten Situation als auch bei der postakuten Therapie und Rehabilitation [70] [71] [72]. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass eine bessere, d. h. nahtlosere und vollständigere Information, Kommunikation und damit Kollaboration zwischen ambulantem und stationärem Sektor auf der Basis elektronischer Informationssysteme zu einer signifikanten Verringerung des sogenannten Drehtüreffekts (stationäre Aufnahme – Entlassung – stationäre Aufnahme) und damit zu einer deutlich höheren Versorgungsqualität führen kann [73] [74] [75] [76] [77] [78] [79] [80] [81].
Neben der Qualität soll durch elektronische Patientenakten auch die Wirtschaftlichkeit gesteigert werden. Die Effizienzgewinne sollen dabei auf einer Reduktion des Ressourceneinsatzes (Zeit, Kapital, Personal) beruhen. Vorausgesetzt der Datenbankträger (Server, Cloud, Internet) ist technisch zugänglich, ist eine Reduktion der Such- und Zugriffszeiten verglichen mit analogen Systemen weitgehend unstrittig [50] [82]. Die Hypothese, die mit der Zeitersparnis mitschwingt, ist, dass die durch den EHR gewonnene Zeit sinnvoll für die direkte Patientenversorgung genutzt werden kann. Zusätzlich werden in verschiedenen Bereichen Kostensenkungen postuliert, bspw. durch eine wirtschaftlichere Verordnung von Arzneimitteln, durch eine effizientere Nutzung der radiologischen Einrichtungen, durch eine Vermeidung von Doppeluntersuchungen oder unnötigen Tests oder durch eine Reduktion von Abrechnungsfehlern oder eine erfolgreichere Abwendung von Regressen [83] [84] [85] [86]. Die durch Prozessverbesserungen erreichten Effizienzgewinne, bspw. durch die Vorhaltung eines zentralen Datensatzes, der nicht an den verschiedenen Stellen entlang des Versorgungablaufs redundant vorgehalten werden muss, können zu einer Reduktion des Personals und damit der Personalkosten, die im Krankenhaus den größten Kostenblock darstellen, führen [67] [87] [88] [89] [90]. Der Effekt von EHRs auf diese Kostenposition gilt gemeinhin als Argument für die Gegenfinanzierung der beträchtlichen Entwicklungs-, Implementierungs- und Betriebskosten eines elektronischen Patientenakten-Systems. Nur wenige Zahlen sind zu den Kosten veröffentlicht. In einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2011 werden 19 Millionen $ für ein Akutkrankenhaus mit 280 Betten taxiert [64]. Da die Versorgungslandschaft hochkomplex und außerordentlich heterogen ist, lassen sich vermutlich keine belastbaren Benchmarks entwickeln. Stattdessen kommt es auf die individuelle Konstellation an, mit welchem Aufwand gerechnet werden muss. Es kann also festgehalten werden, dass das unbezweifelbar große Potenzial für Effizienz- und Effektivitätssteigerungen in der Versorgung von Patienten, das Electronic Health Records besitzen, sich nicht unmittelbar, direkt und voraussetzungslos realisieren lässt [67].
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c. Anspruchsgruppen und Geschäftsmodelle
Maßgeblich für die Einschätzung und Bewertung des Erfolgs, d. h. für die Realisierung des Wertversprechens elektronischer Patientenakten und die Umsetzung in Geschäftsmodellen ist die Perspektive des jeweiligen Nutzers: Cui bono? (Cicero). Da in einem vielgliedrigen und arbeitsteiligen Gesundheitssystem verschiedenste Anspruchsgruppen miteinander verbunden sind, können Zielkonflikte nicht ausgeschlossen werden, sie gehören vielmehr zur Normalität. Was für die Krankenversicherungen wünschenswert und nutzbringend erscheint, kann aus Sicht der Ärzteschaft als kritisch und wertlos beurteilt werden: „One person’s failure may be another’s success“ [91].
Wenn Patientenzentriertheit das Paradigma einer modernen Versorgung sein soll, müssen Datenhaltung und -bewirtschaftung aus Patientensicht beurteilt werden und zumindest mittelbar den Nutzen für den Patienten, sei es durch eine Effektivitäts- oder eine Effizienzsteigerung erhöhen. Es ist allgemein anerkannt und vom Gesetzgeber auch intentional so vorgesehen und bestätigt, dass die medizinischen Daten dem Patienten „gehören“, ihm also uneingeschränkter Zugang dazu zu gewähren ist und nur er allein verfügen kann, wem diese Daten wann, wie und unter welchen Umständen zur Verfügung stehen. Diesem Imperativ müssen sich alle Datenhaltungs- und Auswertungssysteme beugen. De facto liegen derzeit aber keine konsolidierten Daten vor, sondern fragmentierte oder nahezu atomisierte Datenabschnitte bei den jeweiligen Quellen. Die Kostenträger verfügen über sogenannte Sozialdaten, die aus administrativen Elementen und Leistungsdaten bestehen, die das Leistungsgeschehen, also die durchgeführten oder veranlassten Leistungen der Leistungserbringer und die damit ausgelösten Kosten i.S. von Abrechnungsdaten dokumentieren. Die Leistungserbringer verfügen über die anamnestischen und die klinischen Daten der Patienten, die in nicht-standardisierter Form dokumentiert und höchst individuell verwaltet werden. Aus Versorgungsforschungsicht verfügen die Leistungserbringer über Primärdaten, wohingegen die Kostenträger Sekundärdaten besitzen bzw. verwalten. Deshalb bestehen gewisse Verzögerungen bis diese Daten vorliegen. So dauert es ungefähr 2-3 Monate bis die Arzneimittelverordnungen bei der jeweiligen Krankenkasse vorliegen und ausgewertet werden können.
Das Interesse an und die Unterstützung für die Konzipierung und Implementierung einer elektronischen Patienten- oder Fallakte ist bei den verschiedenen Beteiligten und Anspruchsgruppen unterschiedlich und orientiert sich an dem „job to be done“, also an der Aufgabe, die eine ePA erfüllen soll und welcher Nutzen daraus erwartet wird [92]. Ärzte und Leistungserbringer könnten Datenbanksysteme zur Unterstützung der klinischen Entscheidungsfindung nutzen, um die Versorgungsqualität zu erhöhen. Diesem Ziel sollen auch klinische Register dienen, die es erlauben, longitudinale Verläufe zu analysieren und Ursache-Wirkungsbeziehungen im klinischen Alltag zu erkennen [93]. Gleichwohl liegt der momentane Fokus bei der Generierung, Dokumentation und Auswertung von Daten auf Seiten der Heilberufe v. a. auf der Erfüllung von Dokumentationspflichten und der möglichst vollständigen Leistungserfassung, die dann als Grundlage für die Abrechnung gegenüber den Kostenträgern dient. Die meisten elektronisch erfassten klinischen Daten werden also zum Zwecke des administrativen Controllings erfasst und nicht unbedingt, um primär die Versorgung zu verbessern.
Auf Seiten der Kostenträger werden elektronisch dokumentierte Daten im Versorgungsmanagement, bspw. im Betrieb strukturierter Behandlungsprogramme (Disease Management, DMP) oder in integrierten Versorgungsmodellen gem. §140 SGB V eingesetzt und zur Compliance-Messung qualitätsorientierter Prozesse genutzt. Aber auch bei den Kostenträgern liegt der Fokus der Datenbewirtschaftung auf den vermuteten Effizienzsteigerungen. Die übermittelten Leistungsdaten der Leistungsträger lösen Finanzströme aus, die entsprechend engmaschig controllt werden müssen. Auf der Basis eines morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs ist es für die Krankenversicherungen geboten, möglichst vollständige Datensätze, in denen Morbiditäts- und Leistungsdaten zusammengeführt werden, an den Gesundheitsfonds zu melden. Interessanterweise besteht an diesem Punkt eine Interessensgleichheit zwischen Leistungserbringer und Kostenträger, deren wirtschaftliche Interessen ansonsten eher diametral entgegengesetzt sind. Je morbider ein behandelter Patient bzw. Versicherter ist, d. h. je mehr Erkrankungen im betreffenden Datensatz codiert und dokumentiert sind, desto höher ist die Vergütung für den Leistungserbringer und desto höher ist die Zuweisung an den Kostenträger aus dem Gesundheitsfonds. Dass dieses Modell manipulationsanfällig ist, liegt auf der Hand. Die Kostenträger nutzen die übermittelten Datensätze weiterhin für ihre Budgetplanung, für die Versichertensteuerung und für die Steuerung des Vertriebs als auch zur Aufdeckung von Abrechnungsbetrug. Einige Kassen haben Risk Management-Kompetenzen aufgebaut, mit denen die Leistungsdaten in prädiktiven Modellen verarbeitet werden und, wie in der privaten Krankenversicherung aktuariell kalkuliert werden. Dies erlaubt die Entwicklung strategischer Handlungsoptionen im Hinblick auf sich entwickelnde Risiken (z. B. starke Zunahme der Behandlungskosten in der Onkologie, Anstieg der Krankengeldzahlungen für Versicherte mit Diagnose Depression).
Pharma- und Medizintechnikindustrie haben ebenfalls ihr Interesse an elektronischen klinischen Daten entdeckt. Die Pharmaindustrie wird zukünftig immer stärker darauf angewiesen sein, Daten aus der realen Versorgungssituation („Real World Evidence“) zu generieren, da die Zulassungsbehörden und die für die Preissetzung und Vergütung zuständigen HTA-Agencies (HTA: Health Technology Assessment) immer mehr dazu übergehen, nur vorläufige oder temporäre Entscheidungen hinsichtlich des Marktzugangs zu treffen. Eine Verlängerung der Market Authorization bzw. der Geltungsdauer des Erstattungsbetrags ist dann abhängig vom Nachweis der klinischen Performance des Produkts in der realen Versorgungssituation, d. h. letztlich von einer Bestätigung des Nutzens bzw. Zusatznutzens in der realen Welt (jenseits artifizieller klinischer Prüfungen). Aus diesem Grunde sind die pharmazeutischen Unternehmen darauf angewiesen, klinische Daten aus den EHRs zu akquirieren und im Sinne einer Phase IV-Studie auszuwerten. Da der Zugang zu diesen Daten, die ja entweder von den Leistungserbringern oder von den Kostenträgern administriert werden, nur sehr umständlich möglich ist, gehen einige Unternehmen den Weg der Etablierung von Registern, die Ihnen erlauben, Studiendaten von behandelten und unbehandelten Patienten zu erheben. Ein weiterer Weg ist der Aufbau von internetbasierten Patientenplattformen, in denen Patienten freiwillig ihre Daten freigeben bzw. austauschen. Diese Variante lässt sich allerdings kaum qualitätssichern, weshalb die damit generierte Evidenz schwach ist oder insgesamt infrage gestellt werden muss. Medizintechnik-Unternehmen haben schon seit einiger Zeit ihr Geschäftsmodell dahingehend erweitert, dass sie als Systemanbieter v. a. im Krankenhaus in Erscheinung treten. Die mit Software und eigenen Computern ausgestatteten Geräte sollten zunächst in die bestehenden Krankenhausinformationssysteme (KIS) eingebettet werden. Mittlerweile ist das Ziel vieler, insbesondere größerer Medtech-Unternehmen selbst als Systemanbieter zu fungieren und außer der Geräte-Hardware auch die Steuerungs-, Auswertungs- und Dokumentationssoftware bereitzustellen. Electronic Health Records sind ein zentraler Punkt auf der strategischen Agenda der Medizintechnikindustrie [94]. Problematisch erscheint, dass die meisten Anbieter proprietäre Software zur Steuerung der Gerätschaften entwickelt haben, die mitnichten interoperabel im oben beschriebenen Sinne sind.
Softwareunternehmen und sogenannte Systemhäuser haben ihren Fokus bislang auf Krankenhausinformationssysteme zur Steuerung administrativer Prozesse gelegt. Da diese Anbieter bereits „vor Ort“, also nahe am klinischen Geschehen sind, liegt es nahe, dass die Ausweitung der bestehenden Systeme und Strukturen auf vollwertige elektronische Patientenakten, die all das leisten sollen, was im obigen Abschnitt beschrieben wurde, als logische Konsequenz erscheint. Beispielsweise hat der Softwarekonzern SAP eine eigene Geschäftsdivision Health gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hat, der Goldstandard der klinischen Dokumentation zu werden. Zum momentanen Zeitpunkt drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass die Komplexität und die Besonderheiten der klinischen Versorgung und der sich daraus ergebenden Anforderungen an die Datenhaltung und -bewirtschaftung größtenteils unterschätzt werden. Die Datendimensionen entlang eines klinischen Versorgungspfads sind so groß, dass auch für spezialisierte Nischenanbieter, die sich auf eine isolierte Aufgabe konzentrieren, gute Geschäftschancen bestehen. Beispielsweise haben sich in den USA sogenannte Pharmacy Benefit Manager (PBM) etabliert, deren Aufgabe ausschließlich darin besteht, den Arzneimitteleinsatz im Versorgungsgeschehen zu überwachen und hinsichtlich der Kosten aber auch der evidenzbasierten Leitlinien zu optimieren. Als Intermediäre vermitteln sie zwischen Leistungserbringer und Kostenträger und sind bestrebt, einen Interessenausgleich herbeizuführen. Dazu greifen sie auf bestimmte Elemente der EHRs zu und analysieren diese mithilfe eigener Auswertealgorithmen und Benchmarks. In einigen Modellen sind außer den üblichen Beteiligten auch weitere Datenlieferanten und Anspruchsgruppen involviert. Beispielsweise können Biobanken genetische Daten zufüttern und sogar die Konsumdaten einer Supermarktkette können als relevante Quelle gelten, wenn es bspw. um die Abbildung von Einkaufsverhalten von Diabetikern geht [95].
Behörden, Organisationen und Institutionen der öffentlichen Gesundheitspflege, die sich mit bevölkerungspolitischen Fragestellungen beschäftigen, haben ebenfalls ein hohes Interesse an den Daten aus elektronischen Patientenakten. Die bisherige Gesundheitsberichterstattung ist stark verzögert, sehr grob und allein deskriptiv, sodass die Nutzbarkeit für die Beantwortung strategischer Fragestellungen gering ist. Der Gesetzgeber und die Organe und Körperschaften der mittelbaren Staatsverwaltung müssen ein großes Interesse daran haben, möglichst aktuelle und authentische Versorgungsdaten zu generieren, um ordnungspolitisch adäquat reagieren zu können. Vor diesem Hintergrund sind auch die gesetzgeberischen Initiativen zu deuten, die eine zügige Umsetzung einer universell nutzbaren elektronischen Patientenakte fordern bzw. anordnen. Die Patienten und Versicherten nutzen ihre Gesundheits- und Krankheitsdaten momentan im Wesentlichen zur Dokumentation und archivieren diese in Papierform. Privatversicherte nutzen die Daten teilweise zur Abrechnung ihrer Krankheitskosten mit dem Kostenträger. Über Geräte der Consumer Electronics wie Wearables oder Smart Watches werden allerdings laufend biologische und Verhaltensdaten (Herzschlag, Schlafverhalten, Bewegung, Ernährung, Sauerstoffsättigung, Tracking usw.) generiert und meistens auch archiviert, die durchaus klinische Bedeutung haben können. Diese Daten liegen allerdings nahezu regelhaft bei den Herstellern der einschlägigen Produkte und werden dort intransparent genutzt. So entstehen quasi en passant elektronische Patientenakten und Nutzerprofile, die nicht unbedingt für den autonomen und exklusiven Zugriff des Patienten vorgesehen sind. Ein weiteres Format der systematischen, datenbankbasierten Nutzung klinischer Daten stellen soziale Netzwerke und Patientenplattformen dar, in bzw. auf denen Patienten ihre Daten teilen und den anderen Mitgliedern des Netzwerks zugänglich machen. Aus diesen Datensätzen können dann Analysen des Gesamtkollektivs durchgeführt werden. Insbesondere in den USA spielen Plattformen wie patientslikeme.com (www.patientslikeme.com) eine zunehmende Rolle, da mit den dort von Patienten zur Verfügung gestellten Daten, bspw. aus Krankheitstagebüchern, substantielle Analysen erstellt werden können [16]. So hat die amerikanische Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) mit patientslikeme.com einen Vertrag zur Pharmakovigilanz geschlossen, da in den Berichten der Patienten, die auf der Plattform geteilt werden, mögliche Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten signifikant früher auftauchen und damit identifiziert werden können, als dies über den traditionellen Weg der ärztlichen Meldung möglich ist.
Es liegt nahe, dass die Erhebung, Haltung und Bewirtschaftung von sehr persönlichen klinischen Daten rechtliche und ethische Probleme aufwerfen, deren Diskussion allerdings den Rahmen dieses Referats sprengen würde. Es kann jedoch festgehalten werden, dass die juristische Dimension des Datenschutzes und der Datensicherheit zwar intensiv diskutiert wird, dass Lösungen jedoch ausstehen. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Rechtspflege und die Rechtsprechung mit der technischen Dynamik Schritt halten können. Hilfreich wäre allerdings, wenn gewisse Standards vereinbart und festgelegt würden [11]. Auch in ethischer Hinsicht existieren viele offene Fragen, deren Beantwortung vermutlich nur in einem gesellschaftlichen Konsens erfolgen kann [96]. Die einschlägigen Diskussionen beginnen jedoch sehr zaghaft und laufen wie die rechtlichen Überlegungen der technischen Entwicklung hinterher.
Die unterschiedlichen Anspruchsgruppen (Stakeholder) haben also sehr unterschiedliche Perspektiven auf die elektronische Datenhaltung. Die großen Potenziale für die Steigerung der Versorgungsqualität, also für die Verbesserung der Medizin, und für die Erhöhung der Effizienz können allerdings nur dann realisiert werden, wenn die unterschiedlichsten Daten aus den verschiedenen Datenquellen patientenzentriert zusammengeführt werden [97]. Hierzu müsste eigentlich eine Interessensgleichheit aller Beteiligten angenommen werden. Von dieser Voraussetzung hängt auch ab, ob, wie oft behauptet wird, die Medizin vor disruptiven Veränderungen steht und ein echter Paradigmenwechsel zu erwarten ist. Möglicherweise wird die Entscheidung darüber im Wettbewerb getroffen, was einer ordnungspolitischen top-down Direktive in jedem Fall vorzuziehen ist [98]. Für die Marktteilnehmer auf Seiten der Leistungserbringer (Krankenhäuser und Arztpraxen) und auf Seiten der Kostenträger (gesetzliche und private Krankenversicherungen) stellt sich ein strategischer Imperativ: die eigenen Daten müssen verstanden und bewertet werden und es sollten Handlungsoptionen entwickelt werden, die eine Verbesserung der eigenen Versorgungsqualität und eine Erhöhung der Versorgungseffizienz im Sinne des Patienten ermöglichen.
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d) Technische Aspekte
Die aus Anwendersicht wichtigen technischen Elemente richten sich nach den erforderlichen Funktionalitäten, dem „job to be done“ (s. o.). Weil Medizin, d. h. Krankheiten und ihre jeweilige Behandlung, ein kontinuierlicher Vorgang ist (24/7), ist die wesentliche technische Bedingung einer elektronischen Patientenakte die hohe Präsenz oder Verfügbarkeit, also möglichst geringe oder gar keine „down times“. Dies erfordert redundante und gespiegelte Systeme, damit Wartungszeiten entsprechend überbrückt werden können. Damit im Zusammenhang steht der Anspruch an die Technik, dass es zu keinem Datenverlust kommen darf, weil die lückenlose Kontinuität der Informationen für die ärztliche Entscheidungsfindung unabdingbar ist. Da der Datenanfall wie oben beschrieben groß ist und weiter exponentiell zunehmen wird, müssen entsprechende EHR-Systeme unlimitierte bzw. schnell und hoch skalierbare Speicherkapazitäten zur Verfügung stellen. Die Analyse der immensen Datenmengen erfordert zudem höchste Prozessorleistungen, damit schnell, bestenfalls in Real-time entsprechende Schlüsse gezogen werden können. Einen ganz zentralen Aspekt stellt die Datensicherheit dar, d. h. die Frage, wie die Datenbestände vor unberechtigtem Zugriff, Diebstahl und Missbrauch geschützt werden können. Dazu zählt auch die Gewährleistung der Fälschungssicherheit, sodass Manipulationen nicht möglich sind oder zumindest transparent werden. In diesem Zusammenhang wird das Potenzial der Blockchain-Technologie diskutiert, die durch die weltweite Distribution unzähliger Kopien der Datensätze eine unbefugte Manipulation unmöglich machen soll [99] [100].
Zentraler technische Aspekt in der Datenhaltung und -bewirtschaftung ist die Interoperabilität, die auch auf vielen staatlichen Agenden als oberste Priorität gilt [101]. Da die relevanten klinischen und administrativen Datensätze an vielen verschiedenen Stellen des Versorgungspfades anfallen und von unterschiedlichsten Systemen aufgenommen und dokumentiert werden, muss sichergestellt sein, dass eine Übertragbarkeit von einem System in das andere ohne Datenverlust gelingt, und dass die Zusammenführung kompatibel gestaltet ist. Dies soll z. B. durch den Health Level 7-Standard gewährleistet werden (HL-7), der den Austausch von Daten zwischen Organisationen im Gesundheitswesen und deren Computersystemen ermöglicht. In Deutschland wird HL7 praktisch nur innerhalb von Krankenhäusern eingesetzt und so gut wie nie zum Austausch von Daten zwischen dem klinischen und dem niedergelassenen Sektor im Gesundheitswesen genutzt. Dies liegt z. T. daran, dass sich in der Praxis-Software im niedergelassenen Bereich eine Fülle von Datenaustauschformaten entwickelt hat, wobei die xDT wohl die Formate mit der größten Verbreitung sind. Fast Healthcare Interoperability Resources (FHIR) ist die nächste Generation der HL7-Standards, die derzeit international implementiert werden [34] [102]. Aber nicht nur die technische Interoperabilität mithilfe von Spezifikationen muss für eine optimale Nutzung gewährleistet sein, sondern auch die semantische Interoperabilität [100]. Das bedeutet, dass die unterschiedlichen Daten, die in aller Regel nicht nur maschinell generiert, sondern als (Frei-)Text von Menschen erstellt und in der Fallakte dokumentiert werden, von den unterschiedlichen Zugreifenden gleichermaßen verstanden und interpretiert werden müssen. Dies ist natürlich dadurch erschwert, dass jede Disziplin ihre eigene Terminologie und ihren eigenen Jargon besitzt, die verschiedenen Berufsgruppen Synonyme durchaus nicht synonym benutzen und sich die professionelle Sprache von der Laien- und Umgangssprache inhaltlich und strukturell unterscheidet. Multilingualität, also das gleichzeitige Verwenden von englischer und deutscher Sprache erhöht die Komplexität zusätzlich [103].
Die Gesellschaft für Gesundheitsinformation und Managementsysteme HIMSS (Healthcare Information and Management Systems Society) hat ein Electronic Medical Record Adoption Model (EMRAM) entwickelt, dass zur Bewertung des Fortschritts bei der Einführung von elektronischen Patientenakten geeignet erscheint. In diesem Modell werden 7 Stufen definiert, entlang derer sich eine Organisation bis zur vollkommenen Etablierung einer kompletten, papierlosen elektronischen Patientenakte und der dazugehörenden Behandlungspfade entwickeln soll ([Abb. 2]).
Stand heute haben bisher nur 2 deutsche Krankenhäuser die Stufe 6 erreicht. Auf Stufe 7 findet sich kein deutsches Krankenhaus und insgesamt nur 4 europäische Häuser (2 in den Niederlanden und jeweils eins in Portugal und der Türkei). Für die USA, in denen in weit mehr Krankenhäusern EHRs etabliert sind, wird vorausgesagt, dass die Mehrheit der Häuser die Stufe 7 nicht vor dem Jahr 2035 erreichen wird [105]. Dass die Wertversprechen der künstlichen Intelligenz und des Maschinenlernens in der Krankenversorgung nur dann erfüllt werden können, wenn es technisch gelingt, diese Algorithmen mit den elektronischen Patientenakten zu verbinden, liegt dabei auf der Hand [34].
Ein weiterer technischer Aspekt, der bei der Weiterentwicklung optimaler EHRs zu berücksichtigen ist, ist die Ermöglichung kollaborativer Zusammenarbeit, ohne am selben Ort zu sein. In der Softwareentwicklung und in der Projektarbeit wird dies über verschiedene Kollaborations-Tools wie bspw. Microsoft Teams, Sharepoint, Slack oder Trello gewährleistet. Diese Plattformen ermöglichen die gleichzeitige Bearbeitung von Dokumenten durch mehrere Personen und beinhalten ein strukturiertes Ablage- und Terminsystem sowie verschiedene Kommunikationsfunktionen via Chat, Email, Telefon oder Video. Diesen Funktionen liegt ein Berechtigungssystem zugrunde, das definiert, wer welche Daten erheben, einstellen, kommentieren oder bearbeiten bzw. verändern darf. Außerdem treffen diese Systeme bestimmte Hierarchieentscheidungen, sodass konfliktäre bzw. widersprüchliche Eingabeaufforderungen angezeigt oder aufgelöst werden. Hier ist die technische Entwicklung außerhalb der Medizin schon sehr weit fortgeschritten und es wird zukünftig darauf ankommen, dass die so entwickelten Lösungen in die Datenhaltungs- und Bewirtschaftungssysteme integriert werden. Die größte technische Herausforderung, die zugleich Erfolg und Scheitern von EHR-Systemen determiniert, ist die Entwicklung eines nutzerfreundlichen Interface auf der Basis kohäsiver User Experiences [54]. Der wichtigste Erfolgsfaktor, der zur breiten Anwendung von Softwareprogrammen und Apps führt, ist die Einfachheit, Zugänglichkeit und Intuitivität der Nutzeroberfläche, wie Google eindrücklich beweist. Nur wenn es gelingt, die hohe klinische Komplexität in einer leicht zu verstehenden Datenstruktur abzubilden, werden elektronische Patienten- bzw. Fallakten eine breite Akzeptanz bei den Nutzern finden.
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e) Limitationen und Evidenz
Die Erfüllung der technischen Anforderungen und das Ausmaß, wie gut der „Job“ seitens des EHR erledigt wird, determinieren den Nutzen des Systems und damit den Erfolg. Die hierzu publizierten Studien zeichnen ein unklares, weil sehr heterogenes Bild [25] [106] [107]. In vielen Konstellationen überwiegt der Frust der Anwender [108] und die Einführung von elektronischen Patientenakten wird in einer großen Burn-out-Studie als führende Ursache in der Ärzteschaft angesehen [37]. Ein allgemeingültiges Phänomen ist, dass es während und in der ersten Zeit nach der Einführung von EHRs zu einem Produktivitätsverlust der ärztlichen Tätigkeit von 10–20% kommt [16] und sich die zeitlichen Anteile des ärztlichen Alltags von der direkten Interaktionszeit mit dem Patienten auf die Exposition gegenüber dem EHR verlagern, sodass insgesamt fast 50% der zeitlichen Ressource des Arztes auf die Beschäftigung mit der elektronischen Patientenakte fallen [109]. Ursächlich könnte sein, dass viele elektronische Datensysteme einen eigenen und damit anderen Workflow vorsehen als der in der Routine eingeübte klinische Prozessfluss [110]. In der Tat lässt sich in der Praxis beobachten, dass der klinische Workflow „passend gemacht“ werden muss, sodass das Informationssystem funktioniert. Hier wird letztlich das Pferd von hinten aufgezäumt. Die feststellbare Folge ist, dass die Compliance der Nutzer schlecht ist und die Systeme nur minimalistisch in Anspruch genommen werden [82].
Auch bei EHRs gibt es Spam, da das System per se nicht zwischen wertvoller und sinnloser Information unterscheiden kann (GIGO). So wird über „decision support overload“ berichtet, die zusammen mit einem manchen Programmen inhärenten Alarmismus zur „alert fatigueness“ führen kann, indem auf ständige Hinweise und Aufforderungen zum Handeln einfach nicht mehr reagiert wird [36;40]. In diesem Zusammenhang ist es dann nicht überraschend, dass auch Studien publiziert wurden, in denen im ersten Jahr der Einführung eines umfassenden klinischen Datensystems eine Gefährdung der Patientensicherheit nachgewiesen wurde [111]. Als besonders problematisch für die Patientensicherheit erscheint, dass computerbasierte Entscheidungsunterstützungssysteme ihre Nutzer zu einer „Phantomobjektivität“ verleiten [50]. Da der Computer eine bestimmte Handlungsoption empfiehlt und diese ja auf hoch sophistizierten Analysealgorithmen beruht, ist es vermutlich schon aus medicolegalen Gründen sinnvoll, dieser zu folgen. So bergen falsche Algorithmen in einem organisationsweiten elektronischen Datenbanksystem das Risiko mehrfacher systematischer Fehlentscheidungen [91]. Das beste Antidot bzw. die effektivste Prävention gegen derartige Risiken für die Patienten stellt eine Intensivierung des Arzt-Patientenkontakts dar [112]. Dieser kostet Zeit, die knapp bemessen ist und, wie oben beschrieben, durch die Einführung von elektronischen Patientenakten weiter reduziert wird. Dadurch werden die Ärzte in ein Ressourcendilemma geführt, das nur schwer aufzulösen ist [113]. Festzuhalten bleibt, dass die klinische Erfahrung mit EHRs nicht eindeutig ist, und dass die Studien ein sehr buntes Bild zeigen. Die Qualität der veröffentlichten Studien schwankt und aufgrund der Heterogenität in den einzelnen Settings kann auch keine befriedigende Modellierung erfolgen [82] [114].
Mit der Einführung von elektronischen Patientenakten, insbesondere wenn Entscheidungsunterstützungssysteme damit funktionell verbunden sind, ergeben sich auch haftungsrechtliche Fragestellungen, die bislang größtenteils unverstanden oder zumindest unbeantwortet sind [115]. Dass künstliche Intelligenzprogramme und die ihnen zugrunde liegenden Mustererkennungsalgorithmen nicht unfehlbar sind, sondern sogar mit relativ einfachen Mitteln überlistet und von Hackern gekapert werden können, ist ein Umstand, der derzeit intensiv von den einschlägigen Fachleuten diskutiert wird [116]. Überhaupt muss infrage stehen, ob nicht mit der Ausdehnung der analytischen Funktionalität von EHR-Systemen gleichzeitig die Angriffsfläche für Hacker vergrößert wird. Dabei entstehen nicht nur Gefahren hinsichtlich einer Datenmanipulation sondern auch hinsichtlich des Auslesens höchst privater Daten und der retrograden Identifikation der eigentlich anonymisierten oder pseudonymisierten Datenquellen (ergo individuellen Patienten) [117]. Dass das Misstrauen der Patienten aufgrund solcher Berichte und Studien steigt und damit die Bereitschaft, persönliche Daten in elektronische Akten einzufüttern sinkt, erstaunt nicht [118].
Die Einführung von elektronischen Patientenakten, sei es im Krankenhaus oder in der Arztpraxis oder auch der Krankenversicherung ist ein komplexes, aufwändiges und fehleranfälliges Unterfangen. Allen Berichten über schlechte Erfahrungen, enttäuschte Erwartungen und kontraproduktive Effekte ist gemein, dass zu wenig Ressourcen (Zeit, Kapital, Personal) für die Kommunikation aufgewendet wurde [16] [119]. Die konzeptionellen und praktischen Kenntnisse im Umgang mit komplexen und mächtigen Datenhaltungs und Bewirtschaftungsprogrammen sind in den Heilberufen nicht besonders stark ausgeprägt [120]. Somit besteht die Gefahr der Ausbildung von 2 Klassen: einer digitalen Elite, die die neue Technologie anzuwenden und zu nutzen versteht und eines digitalen Prekariats, das mit den Anwendungen nichts anzufangen weiß, diese ablehnt oder gar boykottiert. Dieses Phänomen zeigt sich auch in anderen Branchen bei Vorhaben der digitalen Transformation. Es besteht bis heute ein erhebliches Defizit an Best-Practice-Leitlinien, wie ein EHR System am besten zu entwickeln und zu implementieren sei, sodass viele Vorhaben gewissermaßen das Rad immer wieder neu erfinden und sich auf terra incognita vorwagen [121]. Dieses Vorgehen ist naturgemäß mit erheblichen Risiken für die Kultur einer zum Erfolg verpflichteten Organisation verbunden.
Die beschriebenen Hürden rufen naturgemäß die Ordnungspolitik auf den Plan, die auch in Deutschland nunmehr versucht, die flächendeckende Einführung von ePA-Systemen zu beschleunigen. In zentralisierten one-payer-Systemen wie dem britischen National Health Service gelingt dies leichter als in fragmentierten, marktorientierten Systemen wie bspw. den Vereinigten Staaten, der Schweiz oder Norwegen [122]. In Deutschland obliegt die Weiterentwicklung der Systeme der Selbstverwaltung, also der Repräsentanz der Leistungserbringer und der Kostenträger, die in einem zähen Verhandlungsprozess versuchen, den Ausgleich der Interessen in einer gemeinsamen Herangehensweise zu erreichen. Gleichwohl hat der Gesetzgeber nunmehr angekündigt, die rechtlichen Rahmenbedingungen so zu verändern, dass Deutschland, welches im internationalen Vergleich deutlich zurückliegt, innerhalb sehr kurzer Zeit ein flächendeckendes EHR-System einführen muss.
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III. Erfolgsfaktoren, strategische und operative Implikationen
Dass die elektronische Datenhaltung und Bewirtschaftung große Qualitäts- und Effizienzpotenziale birgt und alleine aufgrund der technischen Entwicklungen unabwendbar ist, ist unumstritten. Es stellt sich aber die Frage, wie die beschriebenen Risiken minimiert, die systemischen Hürden überwunden und die Erfolgsaussichten maximiert werden können. Aus der Literatur und auf der Basis praktischer Erfahrungen lassen sich einige Erfolgsfaktoren identifizieren:
Die Konzeption und die Implementierung von Electronic Health Records ist eine strategische Managementaufgabe, die auf der obersten Führungsebene verankert werden muss und von dieser höchste und ungeteilte Aufmerksamkeit erfordert. In einem klinischen Setting ist das Zentrum der Bestrebungen die Interaktion zwischen Heilkundigem und Patient. Deshalb ist die klinische bzw. die Versorgungsperspektive die maßgebliche Sichtweise und nicht etwa der administrative Prozess [123]. So begrüßenswert die Schaffung zentraler Informationstechnik-Expertise auf der Managementebene ist, bspw. durch Ernennung eines Chief Information Officers (CIO), so sehr sind diese Aktivitäten doch häufig mit dem bequemen Weg des Delegierens von technischen Fragestellungen verbunden. Dies führt letztlich dazu, dass die Kernkompetenz des Wissens um den zentralen Wertschöpfungsprozess nicht als strukturbildendes Element der CIO-Funktionen genutzt wird oder diesen zur Verfügung steht. Jedwede Entwicklung sollte mit der Aufnahme und dem Verständnis im Sinne der Versorgung optimierter klinischer Prozesse beginnen und dabei die Datenquellen, die Charakteristika der Daten, den Datenfluss, d. h. auch den Datenempfänger und die geplante Nutzung der Daten abbilden. Die hohe Interaktions- und Schnittstellendichte der klinischen Situation treibt dabei die Komplexität nach oben. Da biologische Systeme per se durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz (VUCA) gekennzeichnet sind, sind klassische, lineare Entwicklungsprozesse für die infrage stehende Aufgabe ungeeignet. Stattdessen empfiehlt sich ein iteratives und agiles Vorgehen, welches in kurzer Zeit Prototypen entwickelt und diese in der realen Situation auf ihre Nutzbarkeit hin testet. Passt der Prototyp nicht zur Lösung der Aufgabenstellung in der realen Situation, muss er verworfen und ein neuer Prototyp entwickelt werden. Dabei gilt es, sich an der Customer Journey zu orientieren, die festlegt, welches der „job to be done“ ist. Diese Festlegung, die die sogenannten „Pain Points“ berücksichtigt, ist die wichtigste strategische Aufgabe, für deren Bearbeitung ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen müssen. Die Kernfragen, die beantwortet werden sollen, lauten:
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Welches Problem wollen wir lösen?
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Welche Fragestellungen wollen wir beantworten?
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Welche unserer bisherigen Erfolg bedingenden Elemente müssen wir erhalten?
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Wie wollen wir den Erfolg messen?
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Welche Risiken können wir vorhersehen und wie können wir diese adressieren?
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Welche Fähigkeiten sind notwendig und wie können wir diese aufbauen?
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Wie können wir alle Beteiligten involvieren und auf den Erfolg verpflichten?
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Welche Anreize müssen gesetzt werden?
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Welche Anpassungen in der Organisation sind notwendig und welche davon sind wir bereit vorzunehmen?
Insgesamt bedingt die Einführung von EHRs eine kulturelle Veränderung, die viele Beteiligte aus ihrer Komfortzone herausführt und deswegen schwierig und risikobehaftet ist.
Um die Patientenperspektive in das Zentrum der Bestrebungen zu stellen, ist es sinnvoll, Patienten im Sinne eines Co-Creation-Prozesses frühzeitig zu involvieren und ihre Präferenzen zu verstehen [124] [125] [126]. Dabei sind anonyme Marktforschungserhebungen nur von begrenztem Wert, wohingegen sich die direkte Einbindung bei der initialen Konzeptionierung und beim Testen der Prototypen empfiehlt. Die Berücksichtigung der multiplen Datenquellen erstreckt sich auch auf die eher unstrukturierten Daten, die von Patienten z. B. aus einem Tagebuch zugesteuert werden können [90]. Sinnvolle elektronische Patientenakten leisten auch diese Funktionalität, sodass eher anekdotische Narrative, denen ein zunehmender Wert beigemessen wird, ebenfalls erfasst und einer Auswertung zugänglich gemacht werden können [127]. Wie oben bereits ausgeführt ist die Einfachheit, d. h. die Zugänglichkeit zum Datensystem eine wesentliche Bedingung für dessen Nutzung und ein bedeutender Faktor für die Zufriedenheit der jeweiligen Nutzer [34] [54] [112] [128] [129] [130]. Letztlich geht es darum, ein Binnensystem, bestehend aus Patient, klinischem Stab und Technologie zu entwickeln, das dann in eine Außenbeziehung z. B. zum Kostenträger oder zu anderen Leistungserbringern und Dienstleistern eintreten kann [54]. Bereits vor 50 Jahren wurde in einer vollständig analogen Welt vorgeschlagen, wie klinische Daten sinnvoll strukturiert werden könnten, um den Versorgungsprozess qualitativ zu optimieren und gleichzeitig die Erkenntnisse aus dem individuellen Fall als prinzipielle Lernerfahrung zu verallgemeinern [131]. An diesen Prinzipien hat sich durch die Digitalisierung letztlich nichts geändert.
Neben allen bereits diskutierten ordnungspolitischen Vorgaben stellt sich durchaus die Frage, welche Anreize gesetzt werden können, um den Erfolg von EHRs zu befördern. Hierbei scheinen finanzielle Anreize eine herausragende Rolle zu spielen [132] [133] [134]. Allerdings ist fraglich, ob sich mit dem Hygienefaktor Geld auch sogenannte „Workarounds“, also das aufs Minimum reduzierte Anwenden der Technologie tatsächlich vermeiden lassen [135] [136]. In aller Regel bewirkt ein finanzieller Anreiz keine nachhaltige kulturelle Veränderung, die wie oben erläutert jedoch vonnöten ist, um die Effektivitäts- und Effizienzpotenziale der elektronischen Patientenakte zu realisieren. Die Entwicklungs- und Implementierungsprozesse erfordern von den in der Organisation Beteiligten den Aufbau neuer Fähigkeiten, die bisher nicht zum klassischen Kompetenzprofil der klinisch Tätigen gehören. Technologisches Konzeptions- und Anwendungs-Know-how sowie Methoden aus dem Design Thinking und der Systemanalyse entwickeln sich zu Schlüsselkompetenzen der zukünftigen, digital veränderten Medizin und sollten in den Ausbildungs- und Weiterbildungskatalog der Heilberufe regelmäßig aufgenommen werden [35] [38]. Das hierfür ausreichend Zeit vorhanden sein muss, liegt auf der Hand [137] [138].
Viele klinische Einheiten haben mit der Initiierung und Durchsetzung von Qualitätsmanagement-Vorhaben die Erfahrung gemacht, dass die Beschäftigung mit den Kernprozessen mühsam, manchmal unangenehm aber letztlich sinnvoll ist, weil sich dadurch verschiedene Ansatzpunkte für eine Optimierung ergeben. Bei der Einführung von EHRs kommt es noch viel mehr darauf an, die bisherigen Prozesse radikal infrage zu stellen und ggf. abzuändern oder sogar völlig neu zu entwickeln. Wie in allen digitalen Transformationsprozessen gilt auch hier der Leitsatz: “digitalizing a shitty process gives you a shitty digital process“. Deshalb ist es geboten, den patientenzentrierten Workflow in den Fokus der Überlegungen zu stellen und die Datenhaltung und -bewirtschaftung in diesen zu integrieren [39] [139] [140]. Dazu mag es sinnvoll sein, gemeinsam mit den Softwareentwicklern und Systemarchitekten Entwicklungsteams zu bilden, die nahe an der klinischen Praxis angesiedelt sind [141]. So lassen sich nicht nur Customer Journeys (s. o.) sondern auch Data Journeys nachvollziehen, bei denen mögliche Systembrüche frühzeitig identifiziert und konzeptionell berücksichtigt werden können [142].
Was braucht es also, um die größte digitale Effektivitäts- und Effizienzbarriere von EHR-Systemen, das kulturelle Beharrungsvermögen zu überwinden [143]? Viele verschiedene Einfluss- und Erfolgsfaktoren sind dafür ins Feld geführt worden und sicherlich haben alle von ihnen ihre Relevanz in einem so komplexen Umfeld wie der klinischen Versorgung [139]. Der wichtigste Faktor jedoch, der in zahllosen Studien und Fallberichten einmütig bestätigt wird ist die ungeteilte Aufmerksamkeit der obersten Führungsebene und das uneingeschränkte Commitment des Top-Managements [144] [145]. Wie bei vielen kritischen Veränderungsprojekten in großen, arbeitsteiligen Organisationen ist eine kontinuierliche, intensive Kommunikation Pflicht, wobei Multiplikatoren auf jeder Hierarchieebene und in allen Organisationseinheiten bzw. Unternehmensfunktionen ein unverzichtbares Element darstellen, welches hilft, das Veränderungsmomentum kraftvoll und nachhaltig in die Organisation zu tragen [146] [147]. Da elektronische Patientenakten als interdisziplinäre Datenbank konstruiert sind, muss das Vorhaben der Konzeption und der Implementierung von vornherein transdisziplinär aufgesetzt werden [148]. Da sich die Medizin, die Versorgung, somit das professionelle Umfeld aber auch der Patient, seine Lebenswirklichkeit und seine Erwartungen und insgesamt die Gesellschaft mit hoher Dynamik verändern, wird konsequenterweise der Change-Prozess, der mit der Implementierung eines EHR-Systems begonnen wurde, adaptiv gestaltet werden müssen und nicht zeitlich abgrenzbar sein [50]. Soziologische und organisationspsychologische Untersuchungen der Performance von Internet-basierten sozialen Netzwerken unterstreichen, dass ein iteratives und laufend adaptierendes, quasi experimentelles Vorgehen, das aber gleichzeitig rigide Evaluations- und Selektionsprozesse beinhaltet, den Schlüssel zum Erfolg darstellt [149] [150]. Die den in der Medizin und im Versorgungssystem Tätigen inhärente Problemlösungskompetenz und die damit verbundenen kognitiven und emotionalen Fähigkeiten sind eigentlich hervorragende Bedingungen, um eine sinnvolle Entwicklung und Implementierung von ePA-Systemen zu bewerkstelligen und einen hohen Nutzen für alle Beteiligten zu realisieren [151]. Frustrationstoleranz ist eine wichtige Tugend, denn es muss sich um lernende Systeme handeln [36] [40]. Und schließlich ist es ratsam, eine gewisse Sensibilität für möglicherweise entstehende marktverzerrende Unwuchten zu entwickeln [152]. Der benötigte hohe Aufwand an Kapital, Manpower und Zeit begünstigt prinzipiell große Einheiten und könnte einer Oligopolbildung den Weg ebnen. Derartige Konzentrationsprozesse sind bei Suchmaschinen, Internethändlern und sozialen Netzwerken zu beobachten.
Elektronische medizinische Datenhaltungs- und Datenbanksysteme werden in den nächsten Jahren zum Standard der klinischen Dokumentation werden. Als elektronische Patientenakte, ePA, oder Electronic Health Record, EHR, werden sowohl klinische als auch administrative Daten zusammengefasst. Die Daten stammen aus der Versorgung, aus Abrechnungsprozessen der Leistungserbringer mit den Kostenträgern als auch vom Patienten selbst, der Messwerte aber auch Narrative in die Datenbank einbringen kann. Mithilfe von weiterführenden Technologien wie der künstlichen Intelligenz oder dem Maschinenlernen wird es mehr und mehr gelingen, die immensen Datenmengen sinnvoll zu strukturieren und auszuwerten und für alle Beteiligten sinnvolle Entscheidungshilfen zu entwickeln. Bereits bei der Datenerfassung entscheidet sich, ob sich das Wertversprechen einer erhöhten Versorgungsqualität und/oder einer gesteigerten Versorgungseffizienz erfüllt, da ein unvollständiger oder unkorrekter Datensatz nicht zu einem sinnvollen Analyseergebnis führen kann. Weil vollfunktionale elektronische Datensysteme das Potenzial besitzen, die klinische Medizin und die traditionelle Versorgungslogik nachhaltig zu verändern, gehört die Konstruktion und Implementierung eines EHR auf die strategische Agenda der ärztlichen Entscheidungsträger in Praxis, Klinik, Verbänden und wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Jedes Vorhaben braucht von Beginn an eine strategische Perspektive, die genau beschreibt, welches der „job to be done“ ist. Im Zentrum sollte der unmittelbare oder auch mittelbare Nutzen für den Patienten stehen. Ausgehend vom klinischen Kernprozess, d. h. von der Interaktion zwischen Heilkundigen und Patienten gelingt die Beschreibung der Wertschöpfungsmechanik und Identifikation des vorhandenen Datenschatzes. Die Entwicklung und Implementierung wertvoller und nutzenstiftender Datenhaltungssysteme erfordert immense Ressourcen, sowohl Zeit als auch Geld und schließlich Kapital. Neue Fähigkeiten, bspw. agile Arbeitsmethoden oder Design Thinking Know-how sind zu entwickeln; alte Tugenden wie Disziplin, Commitment und Aufrichtigkeit sind zu pflegen. Die Risiken, die mit der Veränderung der Prozesse und der zugrunde liegenden Denkweise verbunden sind, sollten aufmerksam adressiert und abgewehrt werden. Dazu zählen ein positivistisch-unkritischer Glaube an die Unfehlbarkeit von computergestützten Algorithmen, der Verzicht auf die Mühen der direkten persönlichen Exposition durch Nutzung elektronischer Kommunikation anstelle des face-to-face mit dem Patienten oder dem ärztlichen Kollegen und schließlich der freiwillige oder erzwungene, weil vermeintlich technisch alternativlose Verzicht auf eine ganzheitliche Erfassung von klinischen Daten und unstrukturierter Information zugunsten von vereinfachten, checklistenartigen Informationsrudimenten. Insgesamt können medizinische Datenbanksysteme in ganz erheblichem Ausmaß zu einer Verbesserung der Versorgung beitragen und stellen damit einen zukünftig bedeutsamen Wettbewerbsfaktor dar.
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