Schlüsselwörter
Gewaltprävention - Medien und sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen - Missbrauchsmythen - sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen - YouTube
Key words
abuse myths - child and youth sexual abuse - media and child and youth sexual abuse - violence prevention - YouTube
Sexueller Kindesmissbrauch (kurz: SKM; engl. Child Sexual Abuse: CSA) ist ein
weit verbreitetes gesellschaftliches Problem, das große Gesundheitsrisiken für
betroffene Menschen birgt ([Fegert et al. 2013]).
Angesichts der Komplexität des Sachverhalts existieren unterschiedliche
sozialwissenschaftliche, klinisch-therapeutische und juristische Definitionen von
sexuellem Kindesmissbrauch ([Fegert 2007]; [Jud 2015]). Im Kern besteht Einigkeit darüber, dass
„sexueller Kindesmissbrauch“ vorliegt, wenn Minderjährige (also nicht nur Kinder im
engeren Sinne) durch sexuelle Handlungen, denen sie nicht zustimmen oder
entwicklungsbedingt gar nicht zustimmen können, viktimisiert werden. Sexuelle
Viktimisierung von Kindern und Jugendlichen kann durch Gleichaltrige erfolgen sowie
durch Erwachsene aus dem sozialen Umfeld oder durch Fremde. Missbrauchstaten werden
mehrheitlich von Jungen und Männern begangen (ca. 80–90 %), es gibt aber auch
Missbrauchstäterinnen (ca. 10–20 %; [BKA 2017]). Im
Unterschied zum breiteren Begriff der sexuellen bzw. sexualisierten Gewalt, der
Erwachsene einbezieht, ist der SKM-Begriff spezifisch auf Minderjährige bezogen und
wird deswegen hier genutzt.
Laut einer aktuellen Metaanalyse sind weltweit 15 % der Mädchen und 8 % der Jungen
von sexuellem Missbrauch betroffen, dabei 9 % der Mädchen und 3 % der Jungen von
schwerem Missbrauch einschließlich Penetration ([Barth et
al. 2013]: 476). In einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage in
Deutschland berichteten 13 % der Erwachsenen retrospektiv, als Kind sexuell
missbraucht worden zu sein ([Häuser et al. 2011];
für eine kritische Diskussion der Häufigkeitsangaben zu sexuellem Missbrauch siehe
[Jud et al. 2016]).
Sexueller Kindesmissbrauch als Thema in den Medien
Sexueller Kindesmissbrauch als Thema in den Medien
Wie wir gesellschaftlich mit dem Problem des sexuellen Kindesmissbrauchs umgehen,
hängt von vielen Faktoren ab ([Buchanan 1996]),
etwa dem Rechtssystem, dem Bildungssystem, dem Gesundheitssystem und nicht zuletzt
dem Mediensystem, das durch die Konstruktion und Verbreitung von Mediendarstellungen
über sexuellen Kindesmissbrauch [
1
] das
Problem auf die öffentliche und politische Agenda bringt (engl. Agenda
Setting) und jeweils in einem bestimmten Interpretations- und
Bedeutungsrahmen (engl. Frame) behandelt.
Gemäß dem kommunikationswissenschaftlichen Framing-Ansatz prägen
Mediendarstellungen über sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen unsere
Vorstellungen von typischen Tätern, Opfern und Tatkonstellationen, Ursachen und
Folgen, sowie sinnvollen Präventions- und Interventionsansätzen ([Dorfman et al. 2011]; [Kitzinger 2004]; [Scheufele 2005]).
Dabei sind sowohl nicht-fiktionale Medienformate relevant (z. B. Presse-, Radio-,
Fernseh- und Online-Nachrichten; siehe z. B. [Scheufele
2017]) als auch fiktionale (z. B. Romane, Fernsehserien und Kinofilme;
siehe z. B. [Stompe 2017]).
Aus der Perspektive der Medien- und Kommunikationsforschung ([Lonne und Parton 2014]), der journalistischen Praxis
([Dorfman et al. 2011]) sowie der mit SKM
befassten Fachberatungspraxis ([Wildwasser e. V. Berlin
2007]) wird die Rolle der Medien im Zusammenhang mit Aufklärung über und
Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch sehr zwiespältig beurteilt.
Stärken der SKM-Berichterstattung in Massenmedien
Es wird in Forschung und Praxis gewürdigt, dass Medien zur Enttabuisierung,
Aufdeckung und Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch in unterschiedlichen
Kontexten (z. B. in Familien oder Institutionen) einen wichtigen Beitrag leisten
(können). Interviewstudien haben gezeigt, dass SKM-Betroffene sich nicht selten
durch Medienberichterstattung ermutigt fühlen, das Schweigen über ihren eigenen
sexuellen Missbrauch zu brechen, insbesondere wenn Betroffene als positive
Rollenmodelle in den Medien auftreten ([Kitzinger
2001]). Weiterhin ist anzuerkennen, dass der professionelle
Journalismus mehrfach dazu beigetragen hat, systematischen Missbrauch in
renommierten Institutionen aufzudecken und auf die Tragweite des Problems
aufmerksam zu machen, teilweise mit weitreichenden Folgen: Bereits im Jahr 1999
legte die „Frankfurter Rundschau“ erstmals systematischen sexuellen Missbrauch
an der Odenwaldschule offen ([Schindler 1999]),
was zunächst ohne große Resonanz in der Medienöffentlichkeit blieb [
2
], bevor dann einige Jahre später
ein weiterer Beitrag desselben Journalisten ([Schindler 2010]) aus Sicht des selbst betroffenen und für Aufklärung
eintretenden Andreas Huckele einen medialen „Tsunami“ auslöste ([Dehmers 2011]: 13): Die gesamte deutsche Presse
berichtete im Jahr 2010 umfassend über den Missbrauch an der Odenwaldschule, die
2015 geschlossen wurde. Als die „Berliner Morgenpost“ im Jahr 2010 über
sexuellen Kindesmissbrauch am Berliner Jesuitengymnasium Canisius-Kolleg
berichtete, war der Skandal angesichts weiterer Fälle in pädagogischen
Einrichtungen (v. a. Odenwaldschule) so groß, dass die Politik den Runden Tisch
„Sexueller Kindesmissbrauch“ und das Amt einer/eines Unabhängigen
Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM)
einrichtete ([Görgen und Fangerau 2017]). Die
„Berliner Morgenpost“ wurde für ihre politisch folgenreiche Berichterstattung
über sexuellen Kindesmissbrauch mit dem Wächterpreis der Tagespresse
ausgezeichnet. [
3
] Auch
international ist die Presse aufklärerisch aktiv: Der „Boston Globe“ wurde für
seine Berichterstattung über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche im
Jahr 2003 mit dem Pulitzer-Preis geehrt.
Schwächen der SKM-Berichterstattung in Massenmedien
Trotz nachweislicher einzelner Aufklärungsleistungen werden Medien seit Dekaden
dafür kritisiert, dass sie das gesellschaftliche Problem des sexuellen
Kindesmissbrauchs zu oft vernachlässigen oder es in verzerrter, reißerischer und
regelrecht schädlicher Weise behandeln. Es existieren mehr als 20 deutsch- und
englischsprachige Leitfäden für den Journalismus, die anlässlich der
identifizierten Missstände praktische Hinweise zu einer verbesserten
Berichterstattung über sexualisierte Gewalt einschließlich SKM geben. Sie
stammen teils von Fachorganisationen des Journalismus (z. B. [Dart Centre Europe 2016]), teils von
Fachorganisationen der Gewaltprävention (z. B. [AÖF
2014]; [MNCASA 2013]). Eine aktuelle
Umfrage unter Betroffenen in Deutschland zeigt, dass sie ganz ähnliche
Kritikpunkte vorbringen ([Nagel und Kavemann
2018]).
So wird als große Schwäche moniert, dass die massenmediale Berichterstattung sich
oft zu einseitig auf besonders spektakuläre Einzelfälle und auf die
Täterbestrafung konzentriert, sodass die Verbreitung des Problems und
insbesondere die notwendigen Präventionsmaßnahmen zu kurz kommen ([Dorfman et al. 2011]; [Mejia et al. 2012]). Wünschenswert seien
deswegen Medienbeiträge, die Hilfsangebote wie Fachberatungsstellen und
Selbsthilfe-Initiativen, unterschiedliche Therapieansätze sowie
Finanzierungsmöglichkeiten für Therapien, Schutzkonzepte für Institutionen usw.
aufgreifen. In Medieninhaltsanalysen wird also immer wieder ein episodisches
Framing festgestellt, d. h., Missbrauch wird nur sporadisch anhand von
Einzelfällen mit hohem Nachrichtenwert (z. B. Fällen mit Prominenten, Fällen mit
besonderer Grausamkeit) behandelt. Angemessener wäre jedoch ein thematisches
Framing, das SKM als Thema dauerhaft auf der medialen Agenda hält und
sexuellen Kindesmissbrauch als gesamtgesellschaftliches Problem behandelt ([Cheit et al. 2010]; [Weatherred 2015], [2017]).
Weiterhin wurde vielfach nachgewiesen, dass die Medienberichterstattung das
Problem des sexuellen Kindesmissbrauchs in Wort und Bild oft stereotypisierend
darstellt und nicht selten regelrechte Missbrauchsmythen verbreitet ([Cromer und Goldsmith 2010]): Täter werden
stereotyp als „Fremde“ (stranger danger), „Monster“, „Kinderschänder“
oder „Pädophile“ dargestellt, obwohl sie faktisch oft gar nicht pädophil sind,
obwohl es auch Täterinnen gibt, obwohl Missbrauch für Kinder keine „Schande“
darstellt, und obwohl das Bild des „Monsters“ davon ablenkt, dass sexueller
Missbrauch oft von Personen begangen wird, die nach außen völlig normal und
freundlich erscheinen, ja oft sogar gesellschaftliches Ansehen genießen und aus
dem sozialen Nahraum des Kindes stammen. Ebenso stereotypisierend ist das
mediale Bild der von SKM betroffenen Menschen. Sie werden oft einseitig als
bemitleidenswerte Opfer dargestellt, möglichst mit Tränen in Großaufnahme, deren
„Leben für immer zerstört“ wurde, die „Mord an der Seele“ erlitten haben. Damit
wird negiert, dass Missbrauchstaten zwar zerstörerisch wirken können, aber
individuell sehr unterschiedliche Folgen haben, dass eine Verarbeitung der
Traumatisierung unter bestimmten Umständen möglich ist. Vermisst wird die
Botschaft, dass SKM-Betroffene nicht lebenslang hilflose Opfer sind, sondern
mutige Akteur_innen, die Missbrauch öffentlich machen, ihr Leben trotz mehr oder
minder folgenreicher Traumatisierung selbstbestimmt gestalten wollen und können
sowie auch politische Forderungen haben ([Hölling
2007]).
Zur Verhinderung stereotypisierender Darstellungen und Missbrauchsmythen wird
mehr Rückbezug auf Statistiken und Forschungsergebnisse sowie Expertise von
Fachkräften und Betroffenen gefordert. An der bisherigen Medienberichterstattung
ist jedoch zu kritisieren, dass von SKM betroffene Menschen zu selten mit ihren
Erfahrungen und Forderungen zu Wort kommen und teilweise sehr unsensibel und
geradezu reviktimisierend bzw. retraumatisierend mit ihnen umgegangen wird. Sei
es, dass Medien identifizierende Informationen preisgeben und damit
Persönlichkeitsrechte von Betroffenen verletzen ([Jones et al. 2010]), in voyeuristischer Weise Tatdetails ausbreiten
([Martinius 2009]) oder bei Interviews
unnötig belastende intime Fragen stellen und Grenzen der Gesprächsbereitschaft,
des Respekts und der Würde nicht wahren ([Bea und
Fröhling 2007]; [Kitzinger 2004];
[Müller und Nicolai 2007]).
SKM als Thema in Sozialen Medien
Die bisherigen öffentlichen und fachlichen Debatten über Stärken und Schwächen
der medialen Thematisierung des Missbrauchsproblems beziehen sich auf die
klassischen Massenmedien wie Presse und Fernsehen, teilweise werden auch Bücher
und Kinofilme in den Blick genommen. Soziale Medien sind bislang dagegen kaum
untersucht worden. Dabei ist spätestens mit der im Jahr 2017 auf Twitter
gestarteten Hashtag-Kampagne „#MeToo“, in deren Rahmen Betroffene Erfahrungen
mit sexualisierter Gewalt einschließlich SKM öffentlich machen, die Bedeutung
Sozialer Medien für die Auseinandersetzung mit dieser Form von Gewalt deutlich
geworden ([Mendes et al. 2018]). Die an der
internationalen „#MeToo“-Kampagne Mitwirkenden wurden in ihrer Funktion als
Silence Breakers vom „Time Magazine“ kollektiv als Person of the
Year 2017 geehrt. Von sexuellem Kindesmissbrauch betroffene Menschen in
Deutschland berichten, dass sie neben Massenmedien auch Soziale Medien nutzen,
um sich über Fragen des sexuellen Missbrauchs zu informieren ([Nagel und Kavemann 2018]).
Forschungsfragen zur SKM-Thematisierung auf YouTube
Forschungsfragen zur SKM-Thematisierung auf YouTube
Vor dem Hintergrund des bisherigen nationalen und internationalen Forschungsstandes
zur Behandlung von SKM in den Medien widmet sich der vorliegende Beitrag der
Thematisierung von sexuellem Kindesmissbrauch in Sozialen Medien am Beispiel der
Videoplattform YouTube (gegründet 2005, aktuell im Besitz von Google
LLC). Denn laut Alexa-Ranking (https://www.alexa.com/topsites)
handelt es sich bei YouTube um die national wie international meistbesuchte
Social-Media-Plattform. Häufiger besucht als YouTube wird im Internet nur
die Suchmaschine Google. Die besondere Relevanz von YouTube im Kontext der
SKM-bezogenen öffentlichen Kommunikation ergibt sich zum einen aus der großen
Reichweite der Plattform: SKM-bezogene Botschaften, die auf YouTube verbreitet
werden, finden potenziell ein großes und auch ein sehr junges Publikum. Das ist
gerade unter Präventionsgesichtspunkten wichtig, da Informationen über SKM den
betroffenen Minderjährigen helfen können, Missbrauchssituationen frühzeitig zu
erkennen, von vornherein selbst abzuwenden und/oder gegenüber Vertrauenspersonen zu
offenbaren und somit Hilfe zu finden.
Zum anderen ergibt sich die Relevanz von YouTube für die öffentliche Kommunikation
über SKM aus den Besonderheiten der Social-Media-Kommunikation. So können auf
YouTube typische Schwächen der massenmedialen Kommunikation über SKM prinzipiell
überwunden werden: Für Menschen, die von SKM betroffen sind, bietet YouTube eine
Plattform, um sich vergleichsweise niedrigschwellig und selbstbestimmt öffentlich
äußern zu können, ohne ein „Ausschlachten“ der eigenen Geschichte durch
Medienunternehmen befürchten zu müssen. Auch Fachkräfte und Fachberatungsstellen,
die auf SKM-bezogene Prävention und Intervention spezialisiert sind, können YouTube
als Medium der Öffentlichkeitsarbeit nutzen, ohne darauf angewiesen zu sein,
Journalist_innen zu einer Berichterstattung über ihre Arbeit bewegen zu müssen.
Inwiefern diese und weitere Potenziale einer verbesserten öffentlichen Kommunikation
über SKM auf YouTube tatsächlich genutzt werden und positive Wirkungen entfalten,
ist zu klären. Ebenso ist zu prüfen, ob im Zuge von YouTube-Kommunikation über SKM
alte und neue Probleme auftauchen und es womöglich zu einer unangemessenen und
destruktiven Auseinandersetzung kommt. Derartige Einschätzungen zu Medieneffekten
sind darauf angewiesen, zunächst die Thematisierung von SKM auf YouTube zu
erkunden.
Obwohl die Forschung zu YouTube-Inhalten insgesamt boomt, sind viele Fragen zur
Repräsentation gesundheits-, sexual- und gewaltbezogener Themen noch offen ([Döring 2016], [2017a]). Ziel der vorliegenden Pilotstudie war es deswegen, erste
Antworten auf folgende vier Forschungsfragen zu liefern: F1) Von wem stammen
SKM-bezogene YouTube-Videos? F2) Welche Form und welche Inhalte haben SKM-bezogene
YouTube-Videos? F3) Wie ist die Qualität von SKM-bezogenen YouTube-Videos
einzuschätzen? F4) Welche Nutzungsweisen von SKM-bezogenen YouTube-Videos zeigen
sich in den Social-Media-Metriken?
Methodik zur Untersuchung der SKM-Thematisierung auf YouTube
Methodik zur Untersuchung der SKM-Thematisierung auf YouTube
Das methodische Vorgehen umfasste folgende vier Schritte: Die Zusammenstellung des
untersuchten Video-Materials, die Entwicklung und Prüfung des Instruments, die
Datenerhebung sowie die Datenanalyse.
Zusammenstellung des Video-Materials
Das Spektrum der SKM-bezogenen Videos auf YouTube wurde zunächst gesichtet. Dazu
wurden einschlägige Stichworte (z. B. „sexueller Kindesmissbrauch“,
„Missbrauch“, „missbraucht“) in die YouTube-Suchmaske eingegeben und bei den
Suchtreffern auch die vom YouTube-Algorithmus zusätzlich vorgeschlagenen
ähnlichen Kanäle und Videos geprüft. Die Methodik ähnelt dem Vorgehen bei einer
früheren Analyse, die Sexualaufklärung auf YouTube zum Gegenstand hatte ([Döring 2017b]). Während für Sexualaufklärung auf
YouTube mehr als 30 deutschsprachige YouTube-Kanäle identifiziert werden
konnten, die regelmäßig Videos zum Thema Sexualaufklärung publizieren, lassen
sich nur sehr wenige deutschsprachige YouTube-Kanäle identifizieren, die über
längere Zeit hinweg ausschließlich oder schwerpunktmäßig das Thema SKM
behandeln. Die Betrachtung SKM-bezogener deutschsprachiger YouTube-Inhalte
erfolgt somit im vorliegenden Beitrag überwiegend auf der Ebene einzelner
Videos.
Zur Stichprobenbildung wurden gezielt die N = 300 ersten YouTube-Treffer
zum Stichwort „sexueller Kindesmissbrauch“ untersucht, indem jeweils die
Top-100-Videos der drei gebräuchlichsten Filter der YouTube-Suchfunktion in das
Sample aufgenommen wurden ([
Tab. 1
]).
Hinter dieser Vorgehensweise steht die Überlegung, dass YouTube-Nutzende
ihrerseits typischerweise über die YouTube-Suchmaske an die SKM-bezogenen Videos
gelangen und dabei die ersten Suchtreffer der populärsten Filter die größte
Sichtbarkeit haben (Zugang im Pull-Modus). Daneben gelangen
YouTube-Nutzende auch im Push-Modus an SKM-bezogene Videos, etwa wenn
YouTube-Stars, denen sie regelmäßig folgen, das Thema aufgreifen oder wenn der
YouTube-Algorithmus ihnen SKM-bezogene Videos vorschlägt.
Tab. 1
Stichprobenziehung von N = 300 SKM-bezogenen YouTube-Videos
zum Suchbegriff „Sexueller Kindesmissbrauch“.
YouTube-Suchfilter Relevanz
|
YouTube-Suchfilter Uploaddatum
|
YouTube-Suchfilter Aufrufzahl
|
Gesamtzahl der Videos im Sample
|
Top-100-Treffer
|
Top-100-Treffer
|
Top-100-Treffer
|
N = 300
|
YouTube als internationales Soziales Medium ist in hohem Maße globalisiert. So
orientieren sich deutschsprachige YouTuber_innen oft an englischsprachigen
YouTube-Kanälen und greifen Themen und Darstellungsformate auf. Auch
YouTube-Nutzende in Deutschland beschränken sich oft nicht auf das
deutschsprachige Angebot, sondern schauen sich englischsprachige Videos an und
folgen internationalen YouTube-Stars, welche deswegen in der vorliegenden Studie
mitbetrachtet werden. Grundlage der Vergleiche von Missbrauchsdarstellungen in
deutsch- und englischsprachigen YouTube-Videos ist eine systematische Sammlung
und Inhaltsanalyse von N = 1 400 englischsprachigen YouTube-Videos zum
Thema „Child Sexual Abuse“, die im Wintersemester 2017/2018 im Rahmen eines
kommunikationswissenschaftlichen Forschungsseminars unter Leitung der Autorin
erarbeitet wurde.
Entwicklung und Prüfung des Instruments
Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde deduktiv anhand des Forschungsstandes
und induktiv anhand des Materials ein Codebuch mit fünf Kategorienblöcken
entwickelt.
-
Der erste Block des Codebuchs enthält formale Kategorien: Datum der
Codierung, Videotitel, Videolink, Uploaddatum des Videos, Länge des
Videos, Kanalname und Videodublette. Dubletten kommen zustande, wenn
dasselbe Video auf unterschiedlichen YouTube-Kanälen hochgeladen wird
oder wenn dasselbe Video vom selben Kanal bei unterschiedlichen
Suchfiltern unter den Top-100-Treffern auftaucht.
-
Der zweite Block des Codebuchs dient der Beantwortung von Forschungsfrage
1 und enthält die Kategorie Anbietendentyp: 1) Medienunternehmen, 2)
Fachleute aus dem Kontext SKM-bezogener Prävention und/oder
Intervention, 3) SKM-Betroffene, 4) bekannte YouTuber_innen (ab 10 000
Kanal-Abonnements), 5) andere Personen/Organisationen. Codiert wird
dabei, wer das Video produziert hat und nicht, wer das Video publiziert
hat (so können z. B. TV-Dokumentationen von TV-Sendern ebenso wie von
Privatpersonen verbreitet werden, als Anbietendentyp wird hier jedoch
immer Medienunternehmen codiert).
-
Der dritte Block bezieht sich zur Beantwortung von Forschungsfrage 2 auf
Form und Inhalt der SKM-bezogenen Videos. Für die Hauptformate der
Videos sind anbietendenspezifische binäre Kategorien entwickelt worden:
für die SKM-Videos von Medienunternehmen nicht-fiktionale (z. B.
Dokumentation) versus fiktionale (z. B. Krimi) Formate; für Videos von
SKM-Fachleuten Veranstaltungsmitschnitte (z. B. Aufzeichnungen von
Therapiesitzungen oder Fachkonferenzen) versus genuiner Medien-Content;
für Videos von Betroffenen Character- versus
Non-Character-Formate (bei Character-Videos zeigen sich die
Betroffenen selbst mit Gesicht vor der Kamera, während sie bei
Non-Character-Videos ihre Erfahrungen teilen, ohne sich selbst zu
zeigen, etwa indem sie beschriftete Karteikarten in die Kamera halten
oder rein computergenerierte Texte und Bilder zeigen; [Fowlds 2014]; [Lewis et al. 2011]); für Videos von
bekannten YouTuber_innen Selbstoffenbarungs- versus
Nicht-Selbstoffenbarungsformate (in ersteren thematisieren
YouTube-Persönlichkeiten eigene Missbrauchserfahrungen, in zweiteren
sprechen sie über Dritte). Für die heterogene Gruppe der anderen
Anbietenden wurden vier Formate codiert (Informations-, Kunst-, Werbe-
und Ideologieformat).
-
Der vierte Block des Codebuchs ist zur Beantwortung von Forschungsfrage 3
der Qualität der Videos gewidmet. Neben der Produktionsqualität der
Videos (z. B. Bild- und Tonqualität) ist hier vor allem die
Inhaltsqualität entscheidend. Ebenso wie die Hauptformate der Videos
sind auch die zentralen Qualitätsdimensionen anbietendenspezifisch und
wurden binär codiert: Bei Medienunternehmen das Vorhandensein einer
reißerischen Darstellung, bei SKM-Fachleuten die erkennbare oder
fehlende formale Qualifikation, bei Betroffenen das Verbreiten
triggernder Inhalte ohne Triggerwarnung, bei bekannten YouTuber_innen
wiederum eine reißerische Darstellung und bei anderen Anbietendentypen
eine ideologische Vereinnahmung des Themas.
-
Der fünfte und letzte Block des Codebuchs enthält die
Social-Media-Metriken zur Beantwortung von Forschungsfrage 4: Anzahl der
Videoaufrufe, Anzahl der positiven Videobewertungen (Likes / Daumen
hoch), Anzahl der negativen Videobewertungen: (Dislikes / Daumen
herunter), Anzahl der Freitext-Kommentare, Wortlaut des populärsten
Videokommentars (sog. Top-Kommentar).
Bei allen Kategorien in Block 1 und 2 handelt es sich um objektive Merkmale,
sodass die Ausprägungen direkt aus YouTube herauskopiert werden können, während
die Kategorienausprägungen in Block 2, 3 und 4 durch manuelle Codierung zustande
kommen. Um die Messgenauigkeit der manuell codierten Kategorien zu prüfen, wurde
der gesamte Datensatz doppelt codiert und die Inter-Coder-Übereinstimmung
für jede Kategorie berechnet. Der Cohens Kappa-Koeffizient variierte zwischen
κ = .95 und κ = .39, die prozentuale Übereinstimmung zwischen
100 % und 76 %, was gute Messgenauigkeit belegt. Messungenaue Merkmale bleiben
im Ergebnisteil unberücksichtigt.
Datenerhebung, Datenanalyse und Forschungsethik
Die Datenerhebung erfolgte im Mai 2018. Die Codierung der N = 300 Videos
samt zugehöriger Videokommentare erfolgte mit einer Dateneingabemaske im
Statistikprogramm SPSS, mit dem auch die quantitative Datenanalyse erfolgte.
Alle qualitativen Analysen bestehen in einer verbalen Zusammenfassung von bewusst
ausgewählten Videos und Videokommentaren. Die Gründe für die jeweilige Auswahl
werden im Text erläutert. Die qualitativen Zusammenfassungen des Materials
basieren auf einer vollständigen Sichtung des Materials durch die Autorin und
wurden alle von einem unabhängigen Zweitcodierer überprüft. Für alle fünf
betrachteten Anbietendengruppen deutschsprachiger SKM-Videos werden jeweils
vergleichend und einordnend zentrale Befunde der Analyse des englischsprachigen
Video-Samples berichtet.
Die Sammlung und Analyse von öffentlich frei zugänglichen YouTube-Videos und
Videokommentaren gilt forschungsethisch als unbedenklich.
Ergebnisse zur SKM-Thematisierung auf YouTube
Ergebnisse zur SKM-Thematisierung auf YouTube
Die Ergebnisse zu den vier Forschungsfragen werden in den folgenden Abschnitten
sowohl im Überblick über die Gesamtstichprobe als auch jeweils getrennt für die
SKM-Videos der fünf Anbietendentypen berichtet.
Beschreibung der Gesamtstichprobe
Die 300 Videos in der Gesamtstichprobe stammen aus den Jahren 2006 bis 2018,
wobei rund die Hälfte der Videos zwischen 2016 und 2018 veröffentlicht wurde.
Auffällig ist, dass teilweise auch zwölf Jahre alte Videos unter den
Top-Treffern erscheinen. Von den 300 Videos im Sample sind 108 (36 %) Dubletten
([
Tab. 2
]) und somit Videos, die
besonders häufig unter den ersten Treffern gefunden werden.
Tab. 2
Verteilung der N = 300 SKM-bezogenen YouTube-Videos im Sample
auf verschiedene Typen von Videoproduzierenden.
Typen von Videoproduzierenden
|
Anzahl der Videos
|
Anteil der Videos
|
Anzahl Dubletten
|
1. Medienunternehmen
|
141
|
47 %
|
63
|
2. SKM-Betroffene
|
52
|
17 %
|
15
|
3. Fachleute im SKM-Kontext
|
43
|
14 %
|
10
|
4. Bekannte YouTuber_innen
|
8
|
3 %
|
3
|
5. Andere Videoproduzierende
|
56
|
19 %
|
17
|
Summe
|
N = 300
|
100 %
|
108
|
Um Forschungsfrage 1 zu beantworten, wurde das Gesamtsample nach Anbietendentypen
unterteilt ([
Tab. 2
]).
Die Ergebnisse decken sich insofern mit den Befunden der Analyse zur
Sexualaufklärung auf YouTube ([Döring 2017b]),
als auch beim Thema Sexualaufklärung die Massenmedien, die Betroffenen bzw.
Beteiligten, die Fachkräfte und Fachinstitutionen sowie bekannte YouTuber_innen
(z. B. aus der Entertainmentbranche) Hauptquellen der Inhalte sind. Während beim
Thema Sexualaufklärung zusätzlich noch die Erotikbranche als Videoanbieterin
auftritt, ist dies beim gewaltbezogenen Thema SKM nicht der Fall. Dafür ist hier
eine mit 19 % recht große Restgruppe der „anderen Videoproduzierenden“
vertreten. Hierbei handelt es sich um Einzelpersonen oder Organisationen, die
nicht in die vorgenannten vier Gruppen passen und deren Zusammensetzung später
noch genauer beschrieben wird.
Social-Media-Metriken erlauben Rückschlüsse auf das Publikumsverhalten und dienen
der Beantwortung von Forschungsfrage 4 nach den Nutzungsweisen. Sie sind in
[
Tab. 3
] für die Gesamtstichprobe
sowie für die fünf Gruppen von Videoproduzierenden dargestellt.
Tab. 3
Social-Media-Metriken für die N = 300 YouTube-Videos (obere
Zeile: Minimum – Maximum; untere Zeile: Medianwert; Stand: Mai
2018).
Typen von Videoproduzierenden
|
Videoaufrufe
|
Likes
|
Dislikes
|
Kommentare
|
1. Medienunternehmen
|
2 – 727 977 4 822
|
0 – 13 920 17
|
0 – 467 2
|
0 – 1 508 3
|
2. SKM-Betroffene
|
0 – 419 339 2 768
|
0 – 786 24
|
0 – 311 1
|
0 – 178 7
|
3. Fachleute im SKM-Kontext
|
29 – 82 465 1 802
|
0 – 4 173 15
|
0 – 125 1
|
0 – 348 1
|
4. Bekannte YouTuber_innen
|
11 106 – 864 821 39 833
|
277 – 67 868 1 694
|
12 – 1 565 17
|
37 – 6 493 120
|
5. Andere Videoproduzierende
|
9 – 66 277 2 802
|
0 – 377 13
|
0 – 92 1
|
0 – 439 1
|
Gesamtstichprobe
|
0 – 864 821 3 894
|
0 – 67 868 18
|
0 – 1 565 2
|
0 – 6 493 3
|
Auffällig ist, dass es bei den SKM-bezogenen Videos sowohl innerhalb als auch
zwischen den fünf Typen von Videoproduzierenden sehr große Unterschiede
hinsichtlich des Zuschauendenengagements gibt: Das Spektrum reicht von 0
Reaktionen bis zu Reaktionszahlen im hohen sechsstelligen Bereich (z. B. 864 821
Videoaufrufe). Die mit Abstand größte Resonanz erzielten die SKM-Videos
bekannter YouTuber_innen. Dabei zeigen sich typische Reaktionsmuster: Je mehr
Aufrufe ein Video erhält, umso mehr positive (r = .90, p <
.001) und negative Bewertungen (r = .88, p < .001) und
Kommentare (r = .80, p < .001) erhält es gleichzeitig auch. Wie
üblich dominieren die positiven Videobewertungen (Likes) deutlich über die
negativen (Dislikes): Von allen Videobewertungen im Sample waren 85 %
positiv.
SKM-bezogene Videoinhalte von Medienunternehmen
SKM-bezogene Videoinhalte von Medienunternehmen
Nahezu die Hälfte (47 %) aller SKM-bezogenen YouTube-Videos unter den ersten
dreihundert Suchtreffern enthalten massenmedialen Content (Forschungsfrage 1; [
Tab. 2
]). Dabei sind von
öffentlich-rechtlichen TV-Sendern (ARD, ZDF, MDR etc.)
produzierte Sendungen prominent vertreten. Aber auch private Fernsehsender (z. B.
ProSieben) und Nischensender wie RT Deutschland (ehemaliger Name:
Russia Today) oder ERF MenschGott (Evangeliums-Rundfunk) sind mit
vielgeklickten Videos sichtbar. Weiterhin sind Radiosender und Verlage (BILD,
Die Welt, Der Spiegel) mit SKM-bezogenen Videos auf YouTube
präsent. Teils werden die Inhalte von den Medienunternehmen selbst auf YouTube
veröffentlicht, teils laden Privatpersonen Aufzeichnungen auf ihren eigenen Kanälen
hoch.
Die massenmedialen YouTube-Videos zum Thema sexueller Kindesmissbrauch haben
vielfältige Formen und ein breites Spektrum von Inhalten (Forschungsfrage 2): Stark
vertreten sind nicht-fiktionale Formate (Nachrichten, Berichte, Reportagen,
Dokumentationen, Interviews, Talkshows, Übertragungen von Bundestags-Debatten etc.).
Inhaltlich werden dabei ganz unterschiedliche Arten von sexuellem Kindesmissbrauch
angesprochen (z. B. intrafamiliär, durch Fremde, in Institutionen, durch Täter oder
durch Täterinnen) und auch verschiedene Perspektiven eingenommen (z. B. Folgen und
Hilfe für Betroffene, präventive Arbeit mit potenziellen Täter_innen). Beispiele
sind YouTube-Videos mit folgendem massenmedialen Content: „Das dunkle Geheimnis –
Missbrauch in der Familie“ (ZDF, „37 Grad“, 2018, 30 Min.), „Sexueller Missbrauch in
Sportvereinen: Wo die Selbstkontrolle versagt“ (ARD, „Panorama“, 2011, 9 Min.),
„Sexueller Missbrauch – das lange Schweigen der Opfer“ (ARD, „Beckmann“, 2013, 71
Min.). Fiktionale Beiträge wie der TV-Thriller „Operation Zucker“ über
Kinderprostitution (2012, 90 Min.) tauchten nur einmal unter den ersten Suchtreffern
auf.
Hinsichtlich ihrer Qualität (Forschungsfrage 3) weisen die massenmedialen Beiträge
auf YouTube die typischen Qualitätsmerkmale auf, die eingangs beschrieben wurden:
Einerseits sind Stärken erkennbar, etwa indem das tabuisierte Thema überhaupt
behandelt wird und die Anliegen von Betroffenen zur Sprache kommen. So thematisiert
der TV-Beitrag „Ich will zurück ins Leben! Entschädigung für Missbrauchsopfer“
(WDR, „FrauTV“, 2016, 7 Min.) faktenbasiert und sensibel, wie wichtig es
für SKM-Betroffene ist, aus dem Opferentschädigungsfond Mittel für die notwendige
Psychotherapie zu erhalten (da Krankenkassen nur 100 Stunden übernehmen), und auf
welche Hürden sie dabei stoßen (z. B. Antragsformular mit vielen potenziell
retraumatisierenden Fragen, sehr lange Bearbeitungszeiten), und dass doch eigentlich
eine Stellungnahme durch die bereits behandelnden Psychotherapeut_innen ausreichend
sein müsste. Andererseits zeigen sich die bekannten Schwächen bei massenmedialem
Content, etwa wenn das Thema SKM reißerisch aufbereitet und Täter undifferenziert
mit „Pädophilen“ gleichgesetzt werden (z. B. BILD, „Sexueller Missbrauch von Kindern
wird verniedlicht – die Pädophilen-Jäger von Frankfurt“, 2017, 2 Min.). Bei einer
zukünftigen Qualitätsanalyse muss berücksichtigt werden, dass auf YouTube zwei
gegensätzliche Selektionsmechanismen greifen: Einerseits werden offenbar besonders
wichtige und hochwertige massenmediale Inhalte verstärkt sichtbar, da sie hier zum
Teil mehrfach veröffentlicht werden und auf die oberen Plätze von Trefferlisten
gelangen. Gleichzeitig können aber auch fragwürdige und reißerische Beiträge, die
große Resonanz auslösen, besondere Sichtbarkeit erlangen.
Ordnet man den massenmedialen Content auf YouTube nach Zuschauendenengagement
(Forschungsfrage 4; [
Tab. 3
]), so zeigen
sich drei Spitzenreiter:
-
Das von ProSieben hochgeladene Video „Sexueller Missbrauch statt
Modelvertrag“ (ProSieben, „taff“, 2015, 6 Min.) fand mit über 700 000
Videoaufrufen die größte Resonanz beim Publikum. Berichtet wird von einem
sehr jungen (aber zum Tatzeitpunkt nicht mehr minderjährigen) Model, das
beim Casting nach eigenen Aussagen mit K.o.-Tropfen betäubt und vergewaltigt
wurde und die Tat angezeigt hat. Die 515 Video-Kommentare sind sehr
heterogen, teils wird der Betroffenen Mitgefühl ausgesprochen und für ihren
Mut gratuliert („Sowas ist schrecklich und das wünscht man niemandem. Aber
echt klasse von ihr, dass sie so stark war und zur Ärztin gegangen ist und
rechtliche Schritte eingeleitet hat“), teils wird ihr selbst die Schuld an
der Tat zugeschrieben und der Model-Beruf als riskant dargestellt
(„Willkommen in der Modelwirklichkeit abseits von GNTM“). Die Machart der
Sendung wird wegen widersprüchlicher und fragwürdiger Aussagen und
unpassender Musikuntermalung kritisiert. Immer wieder werden auch Wut und
Rachegedanken artikuliert („Ich bin der Meinung, dass er und alle anderen
Vergewaltiger zerstückelt werden sollten“).
-
Hinsichtlich Reichweite folgt im Sample das ebenfalls mehr als 700 000 Mal
geklickte Video „Opfer von rituellem Missbrauch: ‚Ich wurde als Kind
hunderte Stunden lang vergewaltigt.‘“ (RT Deutschland, „InTheNow“, 2016, 6
Min.), in dem die Belgierin Anneke Lucas ihre Erfahrungen mit rituellem
sexuellen Missbrauch in einem „elitären Pädophilen-Ring“ schildert. In der
Videobeschreibung wird dazu aufgerufen, sich für einen Gesetzesvorschlag zur
Bekämpfung von Menschenhandel durch verstärkte Kontrollen von Hotels
einzusetzen. In den 1 508 Videokommentaren bringt das Publikum Abscheu und
Rachegedanken angesichts der Gewalttaten zum Ausdruck, spekuliert aber auch
mit verschwörungstheoretischen Anklängen über die Täter: „Im Fall MARC
DUTROUX war die gesamte Belgische Regierung involviert, genau wie diese Frau
sagt: Die höchsten Spitzen der Gesellschaft – Minister, Regierungsbeamte,
Richter, Spitzenmanager etc. – sind die Täter.“
-
Auf Platz drei hinsichtlich Publikumsinteresse steht mit mehr als 600 000
Videoaufrufen die ARD-Dokumentation „Mama, hör auf damit“ (ARD, „Die Story
im Ersten“, 2012, 44 Min.), die sich dem oft ignorierten Problem von Müttern
als SKM-Täterinnen widmet und ausführlich zwei Betroffene (Andrea und Axel)
zu Wort kommen lässt. In den 804 Kommentaren zum Video werden Mitgefühl mit
und Hochachtung vor den Betroffenen sowie Wut, Hass, Ekel und Rachegedanken
gegenüber den Täterinnen („Monster-Mütter“) geäußert. Mehrfach merken
Kommentator_innen an, dass sexueller Kindesmissbrauch als Straftatbestand
nicht verjähren sollte.
Blickt man hinsichtlich massenmedialer SKM-Videos vergleichend in die
englischsprachige YouTube-Sphäre, die stark durch Beiträge aus den USA geprägt ist,
so zeigen sich einige Unterschiede. So haben sich in den USA sehr bekannte
Medienprofis wie beispielsweise die populären TV-Moderatorinnen Oprah Winfrey und
Ellen DeGeneres öffentlich als SKM-Betroffene zu erkennen gegeben, entsprechende
TV-Interviews sind auf YouTube zu finden. Ebenso finden sich zahlreiche
Fernsehübertragungen aus dem Gericht: Im Rahmen des Strafprozesses gegen den
inzwischen rechtskräftig verurteilten ehemaligen Teamarzt der US-Turnerinnen Larry
Nassar, der jahrzehntelang Hunderte von minderjährigen Athletinnen unter dem Vorwand
medizinischer Untersuchungen sexuell missbraucht hatte, entschieden sich im Januar
2018 mehr als 150 zum Teil immer noch minderjährige Opferzeuginnen vor Gericht zu
medien- und internetöffentlichen Victim Impact Statements. Diese fanden über
YouTube weltweite Verbreitung und große Anerkennung und ermutigten weitere
Betroffene, ihren Missbrauch anzuzeigen. Die im US-Fernsehen beliebten und auch auf
YouTube breit vertretenen Talkshows (z. B. „Dr. Phil“) setzen indessen oft auf
Polarisierung und behandeln auch das Thema SKM quotenträchtig wie ein Spektakel, bei
dem sich Betroffene, (mutmaßliche) Täter_innen und Moderator gegenseitig lautstark
mit Anschuldigungen überziehen.
SKM-bezogene Videoinhalte von Betroffenen
SKM-bezogene Videoinhalte von Betroffenen
In dem Sample der 300 SKM-bezogenen Videos stammen 17 % von Menschen, die sich als
von sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend Betroffene zu erkennen geben
(Forschungsfrage 1; [
Tab. 2
]). Viele von
ihnen bleiben anonym und äußern sich nur einmalig, andere kommunizieren unter
Klarnamen und behandeln das Thema SKM teilweise mehrfach. Sowohl in der deutsch- als
auch in der englischsprachigen YouTube-Sphäre sind bislang vor allem weibliche
Betroffene mit selbst produzierten Videos sichtbar – vom Teenager- bis zum
Erwachsenenalter.
Hinsichtlich Form und Inhalt der Videos von Betroffenen (Forschungsfrage 2) sind zwei
Gruppen von Videos zu unterscheiden, die sog. Non-Character-Videos (35 %) und die
Character-Videos (65 %): Non-Character-Videos, die anonym mittels Karteikarten,
Symbolbildern und Computerschrift von Missbrauchserfahrungen erzählen, sind häufig
sehr düster und legen den Fokus auf Schmerz und Traumatisierung, thematisieren nicht
selten Suizidgedanken und selbstverletzendes Verhalten wie Ritzen. Ein Beispiel ist
das Video einer jungen Frau, die sich den Namen „verlorene Kinderseele“ gegeben hat
und in ihrem Video „Meine Vergangenheit-sexueller Missbrauch“ (5.11.2017, 5 Min.)
auf Karteikarten erzählt, dass sie als Kind jahrelang schwer sexuell missbraucht
wurde. Obwohl sie inzwischen in therapeutischer Behandlung ist, geht es ihr immer
noch sehr schlecht: „Ich hasse jeden Körperteil. Ich hasse alles an mir“, stellt sie
fest, „Schlaflosigkeit, Dissoziationen und Flashbacks sind mein Alltag […],
Suizidgedanken begleiten mich jeden Tag.“
In Character-Videos ist die betroffene Person vor der Kamera zu sehen, erzählt ihre
Geschichte und thematisiert typischerweise auch Fragen der Verarbeitung. Im
deutschsprachigen Raum gibt es nicht nur Einzelvideos, sondern auch einige
YouTube-Kanäle von Betroffenen. Der Kanal „Bewegwas“ (18 Videos seit 2013) wird von
einer jungen Frau betrieben, die selbst im Grundschulalter von einem
Familienmitglied sexuell missbraucht wurde und den Täter angezeigt hat. Sie
informiert über das Vorgehen bei Anzeige und Strafverfahren, bespricht aber auch
Ess- und Schlafstörungen oder das erste Mal Sex nach dem Missbrauch. Der Kanal „Mia
Lu“ (5 Videos seit 2013) stammt von einer jungen Frau, die von ihrem Vater
missbraucht wurde und ihn ebenfalls angezeigt hat. Sie berichtet in den
Character-Videos ihres Kanals davon, wie sie heute mit dem Missbrauch und seinen
Folgen umgeht. Astrid von der Osten betreibt einen Videokanal, der sich vor dem
Hintergrund eigener Missbrauchserfahrungen mit der Verarbeitung von Missbrauch
befasst („Astrid VonderOsten“, 18 Videos seit 2016).
Im Zusammenhang mit der Qualität (Forschungsfrage 3) der Videos von SKM-Betroffenen
werden in der Fachliteratur v. a. triggernde Inhalte problematisiert ([Lewis et al. 2011]). Im Sample fanden sich zwei
Videos einer Betroffenen mit Triggerwarnungen („Seelenmord (sexueller Missbrauch)
VORSICHT TRIGGERT STARK!!!!!!“; 2009, 6 Min.). Potenziell triggernde Inhalte fanden
sich vor allem in den Non-Character-Videos. Auch wenn Videos, die traumatisierende
Gewalterfahrungen und deren Folgen aus erster Hand schildern, Risiken bergen mögen,
so sind doch auch die möglichen Chancen einer öffentlichen Thematisierung nicht zu
vernachlässigen ([Döring 2016], [2017a]). So kann es durchaus hilfreich für
Betroffene sein zu erfahren, dass sie mit ihrem Leiden nicht allein sind. Die
videobasierte Auseinandersetzung mit Traumatisierungsfolgen wie selbstverletzendem
Verhalten kann zur Heilung beitragen ([Lewis und Seko
2016]). Jenseits der möglichen Videowirkungen ist es auch als
Qualitätsmerkmal zu werten, dass SKM-Betroffene auf YouTube die Möglichkeit haben,
ihre Gedanken und Gefühle in genau der Weise öffentlich zu machen, wie sie es zum
jeweiligen Zeitpunkt können und für richtig halten. Das Spektrum reicht von
betroffenen Teenagern, die ihren Schmerz in melancholischen Non-Character-Videos
ausdrücken, bis zu betroffenen Erwachsenen, die SKM im gesellschaftlichen Kontext
reflektieren und eigene Fachvorträge auf YouTube hochladen, wie z. B. Andreas
Huckele – Autor des 2011 unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers erschienenen Buches „Wie
laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch“ –
auf seinem YouTube-Kanal „Andreas Huckele“.
Betrachtet man die Publikumsbeteiligung (Forschungsfrage 4), so zeigen die
Aufrufzahlen, dass SKM-bezogene Videos von Betroffenen beim YouTube-Publikum auf
Interesse stoßen ([
Tab. 3
]). Die Inhalte
der Videokommentare deuten dabei nicht selten eher auf hilfreiche, denn auf
schädliche Aneignungsweisen und Effekte hin: Es ist nicht untypisch, dass
Zuschauende in den Videokommentaren eigene Missbrauchserfahrungen teilen („Bei mir
war‘s auch jemand in meiner Familie […] und ich begegne ihr mindestens einmal in der
Woche […], es ist so schwer!“), sich gegenseitig Mut machen („Ich stecke gerade
selbst in einem Gerichtsverfahren, aber deine Videos geben mir Hoffnung“),
Anerkennung zollen („Meinen Respekt, du bist eine Heldin!“), Fürsorge zeigen („Hast
du mittlerweile jemanden zum Reden gefunden?“), Informationen über hilfreiche
Therapieangebote oder Anlaufstellen im Internet austauschen („Wenn du jemand kennst,
der sachlich und fachlich korrekt bei dem Thema helfen kann, würde ich mich
freuen“). Es sind aber auch unpassende und feindselige Videokommentare zu finden
(„Das ist so dumm, sowas ins Internet zu stellen, das hilft niemandem“; „Boah, ist
das langweilig“).
SKM-bezogene Videoinhalte von Fachleuten
SKM-bezogene Videoinhalte von Fachleuten
Mit einem Anteil von 14 % der Videos im Sample sind Fachleute und Fachinstitutionen
aus dem Bereich der SKM-bezogenen Prävention und Intervention unter den ersten
YouTube-Treffern nicht unbeträchtlich vertreten (Forschungsfrage 1; [
Tab. 2
]). Wie bei allen Fachdiskursen stellt
sich auch im Kontext SKM die Frage, wem Fachexpertise zuzuschreiben ist und wem
nicht. Teils finden sich auf YouTube Videos von etablierten Fachinstitutionen, etwa
von Wildwasser e. V., vom UBSKM oder vom Präventionsnetzwerk Kein
Täter werden der Charité. Auch YouTube-Kanäle, die von ausgebildeten
Sexualpädagogen betrieben werden, z. B. „61 Minuten Sex“ oder „Jungsfragen“ ([Döring 2017b]), behandeln zuweilen sexuellen
Missbrauch in Kindheit und Jugend. Teils finden sich auf YouTube indessen auch
Videos von Therapeut_innen, Coaches oder Heiler_innen, deren genaue Qualifikationen
nicht direkt erkennbar oder einzuordnen sind. Diese Problematik zeigt sich in der
deutsch- und in der englischsprachigen YouTube-Sphäre gleichermaßen.
Bei den von Fachleuten produzierten YouTube-Videos zum Thema SKM handelt es sich u.
a. um Kampagnenbotschaften, um Dokumentationen über Facheinrichtungen, Interviews
mit Fachleuten oder Tipps für Betroffene und Angehörige, also um Inhalte, die medial
aufbereitet wurden (79 %). Eine Minderheit der Videos (21 %) stellen Mitschnitte von
Tagungen oder Behandlungssitzungen dar (Forschungsfrage 2). Oftmals dienen die
Videos den Fachleuten und Fachinstitutionen dazu, ihre Arbeit bekannt zu machen und
auch für ihre Produkte (z. B. Bücher) und Dienste (z. B. Coachings, Seminare) zu
werben.
Bei der Qualitätsbewertung der Videos (Forschungsfrage 3) ist die formale
Qualifikation der Fachleute ein wichtiger Faktor, ebenso die Spezialisierung der
Fachleute auf Prävention oder Intervention bei SKM. Übliche Qualitätsstandards im
Bereich der Online-Gesundheitsinformationen verlangen ein Offenlegen der
Qualifikationen ([Döring 2017b]), was auf YouTube
oftmals nicht gegeben ist: Bei weniger als der Hälfte der Videos der Fachleute im
Sample (49 %) war eine entsprechende formale Qualifikation der Person oder
Institution erkennbar. Hinsichtlich Beurteilung der Inhaltsqualität ist
festzuhalten, dass es nicht schwerfällt, manchen Expertenvideos hohe Inhaltsqualität
zuzuschreiben (z. B. Aufzeichnung einer Fachkonferenz), während bei anderen
grundlegende Zweifel aufkommen, z. B. wenn im Video „Sexuellen Missbrauch heilen“
(2017, 28 Min.) von der Fachfrau empfohlen wird, die „fremde Energie“ von
Missbrauchstäter_innen als „schwarze Wolke“ aus dem eigenen Energiefeld zu ziehen
oder wenn im Video „Hypnose aufdeckend: Missbrauch in der Kindheit (Kurzfassung)“
(2016, 18 Min.) vom Fachmann unter Hypnose nahegelegt wird, die Klientin sei nunmehr
in Sicherheit, denn sie habe den Missbrauchstäter „einfach umgebracht“.
Die Kommentare auf derartige Videos sind überwiegend positiv bis enthusiastisch („Ich
bewundere Ihre großartige Arbeit“; „Danke, das Video ist wie Balsam“). Es gibt aber
auch kritische Stimmen („Jemandem in einem hypnotischen Zustand zu suggerieren,
jemanden umzubringen ist nicht wirklich förderlich“). Um genauer einzuschätzen, wie
das Publikum sich die Videos aneignet (Forschungsfrage 4; [
Tab. 3
]), sind neben umfassenden
Kommentar-Analysen in Zukunft auch Befragungen notwendig. Ebenso wären hier genauere
Qualitätsanalysen der Videos durch ausgebildete Traumatherapeut_innen sinnvoll.
SKM-bezogene Videoinhalte von bekannten YouTuber_innen
SKM-bezogene Videoinhalte von bekannten YouTuber_innen
Bekannte YouTuber_innen sind Medien-Profis, die nicht nur professionelle Videos
bieten, sondern mit ihren Zuschauenden und Fans auf verschiedenen
Social-Media-Kanälen ständig in engem Austausch stehen. Ihre Videos erzielen
deswegen hohe Reichweiten und viele Nutzendenreaktionen. Im vorliegenden Sample sind
zwar nur acht Videos von bekannten YouTuber_innen vertreten (Forschungsfrage 1),
sie gehören aber zu den SKM-bezogenen Videos mit der größten Resonanz ([
Tab. 3
]).
Bei den acht Videos von bekannten YouTuber_innen im Sample handelt es sich
durchgängig um Formate, die das Thema bei Dritten verorten und keine Offenbarung
eigener Betroffenheit beinhalten (Forschungsfrage 2). Dabei sind Inhalt und
Aufbereitung der Videos zur Hälfte reißerisch (Forschungsfrage 3), was vom Publikum
teils goutiert, teils kritisiert wird (Forschungsfrage 4): Der YouTuber „LeFloid“
(3.1 Mio. Kanal-Abonnements) greift in seinen wöchentlichen Videos stets aktuelle
Geschehnisse auf und ermuntert das Publikum zum Diskutieren in den Kommentaren. Sein
Video „Axt-Attacke im Zug & Sexueller Missbrauch auf YouNow“ hat über 860 000
Aufrufe und sein Video „Sexueller Missbrauch über Whatsapp // Videospiel mit echtem
Krieg verwechselt“ knapp 800 000 Aufrufe. In beiden Fällen wird SKM reißerisch
angesprochen, wobei das Publikum teils zustimmend kommentiert, teils aber auch den
„Bildzeitungs-Stil“ der Videos kritisiert. Die YouTuberin Jenny Define (41 000
Kanal-Abonnements) thematisiert in ihren Videos normalerweise Lifestyle-Themen, geht
aber anlässlich der Zuschrift einer Zuschauerin auf sexuelle Gewalt ein. In dem
Video „Sexueller Missbrauch und Vergewaltigung“ (11 000 Aufrufe) verliest sie die
Zuschrift, die nicht nur einen Übergriff beschreibt, sondern auch Präventions- und
Interventionsmöglichkeiten anspricht. In der Videobeschreibung sind zusätzlich
Fachberatungsstellen verlinkt. Dieses Video gehört zu den 50 % nicht-reißerischen,
sachlichen Beiträgen dieser Anbietendengruppe. In den Videokommentaren wird sehr
gelobt, dass die YouTuberin ein so wichtiges Thema strukturiert und empathisch
aufgreift. In den Kommentaren werden weitere Tipps zur Prävention sexueller Gewalt
geteilt („Ich hab letztens einen Selbstverteidigungs-Schnupperkurs gemacht, das war
sehr interessant und hilfreich. Der wurde von meiner Krankenkasse gesponsert.“). Für
das junge YouTube-Publikum sind die bekannten YouTuber_innen aus den Genres
Nachrichten, Unterhaltung, Comedy, Beauty usw. wichtige Rollenmodelle. In einer
separaten Studie könnte untersucht werden, wie speziell diese Gruppe von
Videoproduzierenden sexuelle Gewalt und SKM thematisiert.
In den USA wird das Thema SKM von bekannten YouTuber_innen u. a. in Form von
Pranks (Streichen) und Social Experiments (Sozialen Experimenten)
behandelt. Dabei werden Missbrauchs-Szenarien inszeniert, angeblich unter dem
Vorzeichen der Aufklärung. Der US-YouTuber Coby Persin (4.2 Mio. Kanal-Abonnements),
zeigt in dem Video „The Dangers of Snapchat (Child Predator Experiment)“ (13 Mio.
Aufrufe), wie er sich als junger Erwachsener auf der Messenger-App Snapchat
als Teenager ausgibt und Treffen mit Minderjährigen verabredet. Wenn diese zum
Treffen erscheinen, macht er ihnen vor laufender Kamera Vorwürfe wegen ihres
Leichtsinns, schließlich hätten sie an einen Missbrauchstäter geraten können. Andere
Videos versuchen, „Pädophile“ in die Falle zu locken oder inszenieren Entführungen.
SKK ist ein YouTuber aus Deutschland (1.1 Mio. Kanal-Abos), der sich offenkundig an
US-Vorbildern orientiert und in seinem Video „Mädchen wird entführt!“ (1.3 Mio.
Aufrufe) mit mehreren männlichen Bekannten die Entführung seiner anscheinend
ahnungslosen Freundin als Prank bzw. soziales Experiment inszeniert. Die
Darstellung, wie das verzweifelt schreiende Mädchen gefesselt, sexuell aggressiv
beschimpft und in den Kofferraum eines Autos gestoßen wird, während der Freund in
die Kamera grinst, ist hinsichtlich seines Aufklärungswertes fragwürdig. In den
Videokommentaren wird Kritik geäußert („Ich finde das ist kein Prank mehr! Hast du
eigentlich nen Gehirnschaden!? An Janas Stelle hätte ich dich angezeigt!“; „Die
Message ist misslungen“). Doch das Video hat 65 000 Likes und nur 5 000
Dislikes.
Da bekannte YouTuber_innen von ihren jungen Fans als Stars angesehen und bewundert
werden, besteht die Gefahr des Machtmissbrauchs. Tatsächlich wurde bereits eine
Reihe von YouTube-Stars beschuldigt, minderjährige Fans sexuell belästigt und
missbraucht zu haben. Insbesondere im Jahr 2014 wurden mehrere solcher Fälle in
Großbritannien diskutiert. Zu dem sog. „YouTube Sexual Abuse Scandal“ [
4
] gibt es diverse YouTube-Videos.
Besonders bekannt ist das Video „Sam Pepper Exposed“ (mehr als 5 Mio. Videoaufrufe)
der Sexualaufklärerin Lacy Green, in dem sie dem bekannten YouTuber Sam Pepper nicht
nur seine sexuell belästigenden Pranks (z. B. „Ass Pinching Prank“), sondern auch
sexuellen Missbrauch mehrerer Fans vorwirft, die sich bei ihr gemeldet hätten.
SKM-bezogene Videoinhalte von anderen Videoproduzierenden
SKM-bezogene Videoinhalte von anderen Videoproduzierenden
Als fünfte und letzte Gruppe bleibt die der „anderen Videoproduzierenden“ zu
beschreiben, von denen immerhin 19 % der SKM-bezogenen Videos im Sample stammen
(Forschungsfrage 1; [
Tab. 2
]). Rückschlüsse
auf die Videoproduzierenden sind anhand der Videos selbst (z. B. Vorspann oder
Abspann), der Videobeschreibungen, der Kanalnamen (sofern die Videoproduzierenden
ihr Material auf eigenen YouTube-Kanälen hochladen) und der jeweiligen Kanalinfo
möglich. Diese Hintergrundinformationen sind jedoch vor allem in der hier
betrachteten Gruppe von Videoproduzierenden mit vielen Unschärfen verbunden. Aus den
vorhandenen Informationen lässt sich dennoch schließen, dass es sich überwiegend um
Einzelpersonen oder Organisationen handelt, die SKM-bezogene Videos in vier
zentralen Formaten produzieren (Forschungsfrage 2): Videos im Werbeformat werben für
illegale Download-Portale, auf denen man u. a. SKM-bezogene Fachliteratur bekommt
(13 % der 56 Videos in der Gruppe der „anderen Videoproduzierenden“). Videos im
Kunstformat bieten eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema SKM (z. B.
über Kurzfilme, Songs; 14 %). Videos im Informationsformat wollen über SKM
informieren und bereiten das Thema in unterschiedlicher Weise auf (über Statistiken,
Interviews, Gesprächsrunden, Kommentare, Science-Slam-Vorträge; 30 %). Videos
im Ideologieformat bilden die größte Untergruppe und behandeln das Thema SKM im
Kontext einer Weltanschauung oder Ideologie (43 %).
Betrachtet man insbesondere die ideologischen Videos genauer, so zeigt sich, dass
diese SKM anführen, um eine anti-islamische, anti-christliche oder neurechte
Ideologie zu untermauern. Derartige Videos sind teilweise im Stil von
Nachrichtensendungen gestaltet, welche das Ziel haben, von den „Mainstream-Medien“
angeblich verschwiegene Wahrheiten ans Licht zu bringen. Ein solcher neurechter
Kanal ist „klagemauerTV“ (über 44 000 Kanal-Abos), der im Video „Dramatische Folgen
von Kindesmissbrauch“ (2017, 2 Min.) im Format einer Nachrichtensendung behauptet,
dass der „Genderismus“ eine „möglichst frühzeitige Sexualisierung von Kindern“
fordere, die mit schädlichem Kindesmissbrauch gleichgesetzt wird. Der Kanal „Al
Hayat TV Net“ (knapp 9 000 Kanal-Abos) besteht laut Kanalbeschreibung als „private
Initiative und wurde von orientalischen Christen und Ex-Muslimen in Deutschland ins
Leben gerufen“ mit dem Ziel der „Islam-Aufklärung“. Im Video „Sexueller Missbrauch
im Islam“ (2016, 6 Min.) wird wiederum in der Aufmachung einer Nachrichtensendung
argumentiert, „der Islam ist und bleibt ohne jeglichen Zweifel ein Förderer des
Kindesmissbrauchs“.
Hinsichtlich der Qualitätsbewertung (Forschungsfrage 3) ist einerseits festzustellen,
dass z. B. die ideologisch gefärbten Videos teilweise eine recht hohe
Produktionsqualität aufweisen und auf den ersten Blick mit seriösen
Nachrichtensendungen verwechselt werden könnten. Hinsichtlich der Inhaltsqualität
wäre noch genauer zu analysieren, in welchem Maß die Videos zum einen falsche
Behauptungen über SKM und zum anderen feindselige Positionen gegenüber
unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen verbreiten.
Bezüglich Zuschauendenengagement (Forschungsfrage 4; [
Tab. 3
]) zeigen sich große quantitative Unterschiede. So hat
das oben genannte Video vom Kanal „klagemauerTV“ knapp 3 000 Aufrufe und 23
Kommentare (z. B. „Dieser Genderscheiß ist so schädlich für die kleine Kinderseele.
Und der Schritt zur Pädophilie ist winzig.“). Das Video von „Al Hayat TV Net“
verzeichnet dagegen über 44 000 Aufrufe und 263 Kommentare (z. B. „Islam ist eine
maßgeschneiderte Ideologie für Sadisten, Psychopathen & Menschenschlächter. Je
mehr man diese ‚Brüder‘ hätschelt, ihnen Moscheen & Koranschulen hinklotzt,
desto mehr Gewalt & Hass erntet man!“). Insgesamt weisen die Videos dieser
Gruppe jedoch im Vergleich zu den anderen vier Anbietendentypen die geringste
Resonanz auf ([
Tab. 3
]). Die Beobachtung,
dass das Missbrauchsproblem in öffentlichen Debatten teilweise ideologisch
instrumentalisiert wird ([Görgen und Fangerau
2017]), trifft offenbar auch auf YouTube zu, wobei hier Extrempositionen
besonders drastisch geäußert werden, und zwar sowohl in den Videos als auch den
Videokommentaren.
Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis
Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis
Wer auf YouTube nach „sexuellem Kindesmissbrauch“ oder nach „Child Sexual Abuse“
sucht, findet mehr als 17 000 deutschsprachige und 3.6 Millionen englischsprachige
Videos (Stand: Mai 2018). Die vorliegende Pilotstudie hat Hinweise auf die
Beschaffenheit der Videos geliefert, die unter den ersten 300 deutschsprachigen
Suchtreffern auftauchen.
Die Aussagekraft der vorliegenden Studie unterliegt einigen Limitationen: Die
Stichprobengröße der Videos ist begrenzt, die Analyse der Videos auf einzelne
Aspekte beschränkt, und die Videokommentare wurden nur kursorisch betrachtet.
Anschlussstudien könnten größere Stichproben von Videos bilden, bei der Videoauswahl
heterogenere Suchbegriffe und bei der Videoauswertung ein breiteres Spektrum an
Merkmalen qualitativ und/oder quantitativ untersuchen. Zudem sind Fragen der Nutzung
und subjektiven Wirkung SKM-bezogener YouTube-Videos auch durch Befragungsstudien
(Interview, Fragebogen) zu klären. Nicht zuletzt wären experimentelle Studien
nützlich, die differentielle Effekte unterschiedlicher Videos messen. Weiterhin
könnten Methoden und Befunde der Forschung über Social-Media-Kommunikation zu
Vergewaltigungen ([Stubbs-Richardson et al. 2018];
[Zaleski et al. 2016]) fruchtbar gemacht
werden.
Für die journalistische, beraterische und pädagogische Praxis lassen sich folgende
Handlungsempfehlungen ableiten: Der Umstand, dass Mitschnitte massenmedialer Inhalte
auf YouTube von den Nutzenden teilweise selbst hochgeladen und vergleichsweise oft
angeklickt werden, kann Medienunternehmen und Journalist_innen ermutigen, ihre
Beiträge gezielter auch über YouTube auszuspielen. Weiterhin wäre es wichtig,
populäre SKM-bezogene Themen und Argumentationsmuster aus der YouTube- und sonstigen
Online-Kommunikation journalistisch aufzugreifen. Ein Beispiel wäre das Thema
ritueller bzw. organisierter sexueller Missbrauch (engl. Ritual Abuse;
Organized Abuse), da es sich hier um Missbrauchsformen handelt, zu denen
zwar Betroffenenberichte (z. B. zu rituellem Missbrauch in einer satanischen Sekte:
[Fröhlich 2015]) und vereinzelte
Interviewstudien mit Betroffenen existieren ([Salter
2012]), aber insgesamt sehr große Forschungslücken beklagt werden. Das
Thema ritueller Missbrauch lässt sich leicht skandalisieren, politisch
instrumentalisieren und spielt im Kontext aktueller Verschwörungstheorien eine große
Rolle: Insbesondere „höchste Regierungskreise“ werden pauschal verdächtigt,
„elitären Pädophilenringen“ anzugehören und rituellen oder organisierten Missbrauch
zu begehen (z. B. Pizzagate, eine seit 2016 verbreitete Verschwörungstheorie,
dergemäß die ehemalige US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton im Keller einer
Washingtoner Pizzeria einen „Kinderpornoring“ betreibt, der rituellen Missbrauch und
rituelle Morde begeht; vgl. [Kline 2017]). Auf
YouTube kursieren Tausende von deutsch- und englischsprachigen Videos, die diese
Verschwörungstheorie verbreiten (z. B. Hagen Grell: „Pizzagate – die pädophilen
Eliten haben Angst“, 2016, 5 Min., 170 000 Aufrufe). Andererseits wurde das Thema
ritueller bzw. organisierter Missbrauch in der öffentlichen Debatte oft pauschal
negiert und als Hexenjagd oder Moralpanik abgetan ([Salter 2017]). Somit wäre eine faktenbezogene mediale Aufklärung über
rituelle und organisierte Missbrauchsformen – jenseits von alarmistischen
Verschwörungstheorien einerseits und pauschaler Verleugnung andererseits – besonders
wichtig.
Fachberatungsstellen sind bereits vereinzelt mit SKM-bezogenem Content auf YouTube
vertreten. Hier wäre ein größeres Engagement wünschenswert. Die Hürden bestehen
jedoch bislang darin, dass Fachberatungsstellen personell und finanziell meist nicht
auf regelmäßige Öffentlichkeitsarbeit in Sozialen Medien eingestellt sind.
Perspektivisch muss hier aber ein Wandel stattfinden, insbesondere um jüngere
Zielgruppen zu erreichen.
YouTube fügt dem bisherigen öffentlichen Diskurs über sexuellen Kindesmissbrauch
einen neuen Kommunikationsraum mit reduzierten Zugangshürden hinzu. Das betrifft die
Produktion und Verbreitung von Videos sowie die Teilnahme am Diskurs über
Videokommentare. Die Effekte sind zum jetzigen Zeitpunkt am besten mit der Metapher
des „zweischneidigen Schwerts“ zu beschreiben: Einerseits sind potenziell nützliche
Inhalte zu verzeichnen (z. B. hochwertige Dokumentationen aus dem
öffentlich-rechtlichen Fernsehen; authentische und Mut machende Beiträge von
Betroffenen samt unterstützenden Videokommentaren), andererseits auch
hochproblematische Videos und Kommentare. Im Rahmen pädagogischer Arbeit ist es
deswegen sinnvoll, nicht nur besser über sexuellen Missbrauch an Kindern und
Jugendlichen aufzuklären, sondern auch über den konstruktiven Umgang mit
SKM-bezogenen YouTube-Videos und sonstigen Social-Media-Inhalten zu sprechen.