Die S2e-Leitlinie zur Rehabilitation der Mobilität nach Schlaganfall, kurz ReMoS,
gibt es seit knapp vier Jahren. Wie jeder Leitlinie liegen ihr viel Arbeit und ein
großes Engagement der Autoren zugrunde. Es existiert eine 144-seitige Lang- und eine
sechsseitige Kurzfassung, die die wichtigsten Empfehlungen in übersichtlicher Tabellenform
zusammenfasst (INTERNET). Leider sind beide Versionen unter Therapeuten bis heute
kaum bekannt. Das ist möglicherweise dem Verbreitungsweg von Leitlinien, ihrem Umfang
und den knappen Ressourcen der Therapeuten geschuldet. Haben sie sich jedoch einmal
damit befasst, hilft ihnen ReMoS, jeden Patienten nach Schlaganfall evidenzbasiert
zu behandeln.
Setting kann über Wahl der Intervention entscheiden
Bei der Leitlinienerstellung orientierten sich die Autoren Christian Dohle, Reina
Tholen, Heike Wittenberg, Susanne Saal, Jochen Quintern und Klaus Martin Stephan an
wichtigen Zielkriterien für die Mobilität. Sie stellten sich zum Beispiel die Frage:
„Wenn ich bei einem Patienten die Gehfähigkeit erreichen will, welche Intervention
muss ich dann anwenden?“ Um schnell zur richtigen Empfehlung zu finden, ermöglicht
die Leitlinie zwei Herangehensweisen: Entweder der Leser sucht für ein bestimmtes
Zielkriterium (z. B. Verbesserung der Gehgeschwindigkeit) die dafür empfohlenen Therapieformen,
oder er sucht nach Empfehlungen für eine bestimmte Intervention (z. B. intensives
aerobes Ausdauertraining).
Wir haben in unseren Tabellen ebenfalls beide Varianten berücksichtigt, weil wir von
vielen Therapeuten die Rückmeldung bekamen, dass beide Vorgehensweisen in ihren Clinical-Reasoning-Prozessen
vorkommen (VON REMOS EMPFOHLEN INTERVENTIONEN S. 32–34). Therapeutin Eva* arbeitet
beispielsweise in einer modern ausgestatteten Rehaklinik. Sie hat die ReMoS-Leitline
schon vor einiger Zeit für sich entdeckt. Als sie Frau Dehner* zugewiesen bekommt,
deren Schlaganfall fünf Wochen zurückliegt und die noch im Rollstuhl sitzt, zieht
Eva die Leitlinie zurate. Frau Dehner befindet sich in der subakuten Phase. Ihr primäres
Ziel ist es, wieder gehen zu können. Eva schaut auf die Tabellen und sieht, dass für
initial nicht gehfähige Patienten ein intensives Gangtraining gemacht werden sollte,
empfohlen mit Endeffektorgerät (VON REMOS EMPFOHLENE INTERVENTIONEN>„Verbesserung
der Gehfähigkeit“, S. 34). Eva hat Glück, die Einrichtung hat kürzlich ein solches
Gerät angeschafft. Ihre Freundin Lisa* arbeitet dagegen in einer Reha ohne Endeffektorgerät.
Aber auch sie kann Patienten wie Frau Dehner leitliniengerecht behandeln. Die Freundinnen
lesen in der Leitlinie, dass das Endeffektortraining einem konventionellen aufgabenorientierten
Training nicht unbedingt überlegen sein muss. Entscheidend ist vor allem, dass Patienten
in der Frühphase intensiv üben. Mit 500–800 Schritten pro Tag soll das Gehen geübt
werden, sagt die Leitlinie. Zudem stellen die Therapeutinnen fest, dass Elemente der
Bewegungsvorstellung die Therapie zusätzlich unterstützen können. Sie überlegen, wie
sie das noch in ihre Behandlung integrieren.
Auch Physiotherapeut Christian* nutzt die ReMoS-Leitlinie, um Frau Eisenkraut* bestmöglich
zu behandeln. Die alte Dame hatte vor acht Monaten einen Schlaganfall. Von Beginn
an erhielt sie evidenzbasierte Physiotherapie und ist mittlerweile ohne therapeutische
Hilfe mit Rollator gehfähig. Im Gespräch erzählt sie Christian, es sei ihr nicht so
wichtig, ohne Rollator zu gehen. Sie möchte schneller und länger gehen können, um
ihrem Ziel „alleine einkaufen“ näher zu kommen. Christian fragt sich, welche Maßnahmen
er zusätzlich zum intensiven progressiven Gangtraining auf dem Laufband noch in seine
Einzeltherapie und/oder als Hausaufgabenprogramm integrieren könnte. Nach dem Blick
in die Tabelle (VON REMOS EMPFOHLENE INTERVENTIONEN > „Konventionelles Gehtraining“,
S. 32) beschließt er, zusätzlich mentales Training als Eigentraining anzuleiten und
mit Frau Eisenkraut das Rückwärtsgehen in der Einzeltherapie zu erarbeiten.
Damit jeder Therapeut in seinem Setting die für seine Patienten bestmöglichen Therapien
schnell findet, haben wir aus der ReMoS-Leitlinie Tabellen extrahiert. Sie zeigen
übersichtlich, welche Interventionen, abhängig von Schweregrad, Rehabilitationsphase,
Zielkriterium und Geräteausstattung für verschiedene Einrichtungen empfohlen werden.
1. Schritt: in Rehaphase einteilen
Zu Beginn muss der Therapeut überlegen, ob sich sein Patient in der subakuten oder
chronischen Phase nach dem Schlaganfall befindet. Abhängig davon unterscheiden sich
die Empfehlungen teilweise.
In der Leitlinie weisen die Autoren auf die Problematik der Phaseneinteilung in der
neurologischen Rehabilitation hin, die international und selbst national nicht einheitlich
definiert sind. Für die Leitlinie haben sie sich dann wie folgt festgelegt:
2. Schritt: Mobilitätsgrad bestimmen
Im nächsten Schritt ordnet der Therapeut die Gehfähigkeit seines Patienten einer von
drei Kategorien zu:
3. Schritt: Zielkriterien gewichten
Der Therapeut gewichtet gemeinsam mit seinem Patienten die Ziele und notiert diese.
Dabei berücksichtigt er folgende vier Zielkriterien:
4. Schritt: Empfehlungsstärke in Tabelle suchen
Die Empfehlungsstärke geben die Autoren in der Leitlinie mit A (soll), B (sollte)
oder 0 (kann) durchgeführt werden an. Daran kann sich der Therapeut gut orientieren.
In unserer Tabelle arbeiten wir diesbezüglich mit den Symbolen ☺☺☺, ☺☺ und ☺.
Der Übersichtlichkeit halber enthalten unsere Tabellen keine Hinweise, was nicht gemacht
werden sollte. Hier empfehlen wir Therapeuten, in der Langfassung nachzulesen, was
sie zugunsten empfohlener Interventionen aus ihrem therapeutischen Werkzeugkoffer
herausnehmen sollten. Beispielsweise steht dort: „Es kann keine Empfehlung gegeben
werden, Bobath gegenüber einer spezifischen Therapie bei chronischen Patienten vorzuziehen,
um die Gehgeschwindigkeit zu verbessern“, und „Es kann keine Empfehlung gegeben werden,
Bobath zur Verbesserung der Gehfähigkeit gegenüber einer spezifischen Therapie bei
subakuten Patienten vorzuziehen“.
Mit Kurzversionen schneller handlungsfähig
Es ist schwierig, Leitlinien bekannt, zugänglich und nutzbar zu machen. Damit Therapeuten
Leitlinien leichter nutzen können, sollten die Empfehlungen künftig in kondensierter
und überschaubarer Kurzversion für Therapeuten z. B. in „Kitteltaschenversionen“ zugänglich
gemacht werden. Eine andere Möglichkeit bietet eine App-basierte Version. Erste Bemühungen
gehen bereits in diese Richtung.
Aus unserer Sicht scheint es sinnvoll, Übersichten immer an Zielkriterien und nach
Rehaphase und Mobilitätsgrad auszurichten. Denn dies entspricht einem am Patientenziel
orientierten Ansatz und adressiert nicht primär das Portfolio der zur Verfügung stehenden
Techniken und Methoden.
Internet – ReMoS-Leitlinie zum Download