Schlüsselwörter
Schwerhörigkeit - Screening - Fragebogen - Hausarzt - Hörgeräteversorgung - Sensitivität - Spezifität - Positiver Prädiktiver Wert - Epidemiologie
Key words
Hearing loss - screening - questionnaire - general practitioner - hearing aid fitting - epidemiology
Einleitung
Eine chronisch progrediente Schwerhörigkeit ist ein Symptom, das durch eine Vielzahl
von Erkrankungen verursacht werden kann [1]. Neben
chronischen Entzündungen, Lärmexposition, einer genetischen Disposition und Tumoren
im Bereich des Innenohres und inneren Gehörganges (Vestibularis-Schwannom) sowie
Gefäßerkrankungen wird hierfür ab dem 5. bzw. 6. Lebensjahrzehnt die physiologische
Alterung des Innenohres verantwortlich gemacht. Diesen Vorgang bezeichnet man als
Presbyakusis [1]. Diese Alterungsprozesse laufen
meist sehr langsam ab und werden von den Betroffenen erst spät bemerkt. Gesprochenes
wird beim Verstehen immer mehr geraten, das Verstehen dadurch verlernt. Die Folgen
einer nichtbehandelten Schwerhörigkeit in der zweiten Lebenshälfte erhöhen das
Risiko, einen kognitiven Leistungsverlust zu erleiden [2], eine Sturzkrankheit zu entwickeln [3], an einer Depression zu erkranken [4]
oder den Verlauf einer Demenz zu beschleunigen [5].
In der Regel wird eine Presbyakusis durch die Anpassung geeigneter Hörgeräte
ausgeglichen [6]. Weitere Behandlungsmöglichkeiten
sind implantierbare Hörsysteme wie aktive Mittelohrimplantate (AMEI),
Knochenleitungsimplantate oder Cochlea Implantate (CI) [7].
Nach der Global Burden Disease-Studie der WHO zählen Hörstörungen in den
Industrieländern zu den sechs häufigsten, die Lebensqualität beeinträchtigenden
Erkrankungen [8]. Weltweit wird für eine
behandlungsbedürftige Schwerhörigkeit eine Prävalenz von 5,3 % der Weltbevölkerung
bzw. ein Drittel aller Erwachsenen angegeben [9],
für Deutschland finden sich Angaben von 16,2 % bis 27 % der erwachsenen Bevölkerung
[10], [11],
[12], [13],
wobei das zu Grunde liegende Ausmaß des Hörverlustes der Schwerhörigkeit in den
genannten Studien unterschiedlich definiert wurde. Zum Vergleich sei an dieser
Stelle eine andere Volkskrankheit angeführt: Es gibt in Deutschland aktuell etwa 6,7
Millionen Diabetiker, die nahezu alle medikamentös oder mit Insulinpumpen versorgt
sind [14]. Angesichts des demographischen Wandels
ist in der Zukunft mit einer steigenden Prävalenz der Presbyakusis zu rechnen. Die
durch eine unbehandelte, chronische Schwerhörigkeit verursachten
volkswirtschaftlichen Kosten werden auf bis zu 2,65 Mrd. Euro pro Jahr in
Deutschland geschätzt [15].
Um die Behandlung schwerhörender Patienten zu verbessern, ist eine breite
Untersuchung der Bevölkerung hinsichtlich einer bisher nicht erkannten
Schwerhörigkeit erforderlich. Dieses könnte mit einer möglichst einfachen und
preiswerten Screeningmethode flächendeckend realisiert werden. Hierzu wurde z. B.
der Digit Triplet Test entwickelt, den es auch in einer deutschen Version gibt [16], und der im Rahmen der Untersuchung auf
Schwerhörigkeit zur Nationalen Kohorte verwendet wird [17]. Allerdings setzt dieser immer noch Assistenzpersonal in der
Anwendung voraus. Diesen Nachteil umgehen Fragebögen nicht. International wird
hierzu z. B. der HHIE-S verwendet (Hearing Handicap Inventory for the Elderly –
Screening Version, [18], [19]). Dieser ist zwar gut evaluiert, erfasst aber
erst eine relativ ausgeprägte Hörminderung von z. B. > 35 dB PTA-4
(durchschnittlicher Hörverlust von mindestens 35 dB in den vier Oktavfrequenzen 0,5,
1, 2 und 4 kHz in [19]).
Eine Früherkennung einer beginnenden Schwerhörigkeit, z. B. ab dem 50. Lebensjahr,
ist mit diesem Test kaum möglich. Zudem ermöglichen die gesetzlichen Krankenkassen
in Deutschland Schwerhörenden nach den Bestimmungen der Hilfsmittel-Richtlinie
bereits weit vor einem solch ausgeprägten Hörverlust Hörgeräte [6]. Ein auffälliges Screening mittels HHIE-S käme
also in diesem Fall hinsichtlich einer anzustrebenden frühen Hörrehabilitation in
der Regel zu spät. Wünschenswert wäre also ein einfaches Inventar, das bereits
geringgradige Hörverluste detektiert und durch Nicht-HNO-Ärzte, insbesondere
Hausärzte, eingesetzt werden kann. Auch die in den Niederlanden entwickelte,
online-basierte Screeningmethode erfüllt diese Forderung nicht [20].
Deswegen wurde vor einigen Jahren der Mini-Audio-Test (MAT) entwickelt [21]. Es handelt sich um einen Fragebogentest, der
aus sechs Fragen zum subjektiven Hörvermögen besteht, bei dem die Probanden für jede
Frage angeben, ob sie in der jeweiligen Hörsituation in ihrem Hörvermögen
beeinträchtigt sind ([
Abb. 1
]). Dieser Test
erfordert kein fachärztliches Wissen, benutzt Alltagssprache und vermeidet
Investitionen in aufwändige audiologische Messtechniken.
Abb. 1 Der Mini-Audio-Test (MAT), Fragebogen, wie er im Rahmen der
Studie verwendet wurde [21]
Zur Entwicklung des MAT wurden in der genannten Studie 1159 Probanden ohne relevante
Ohrenerkrankung untersucht. Aus ursprünglich 12 Fragen wurden die für die Detektion
eines Hörverlustes von mindestens 25 dB in mindestens einer der Oktavfrequenzen
zwischen 0,5 und 4 kHz am besten geeigneten Fragen ermittelt. Somit konnte die
Auswahl der finalen sechs Fragen des MAT als methodisch valide untersucht betrachtet
werden [21]. Als Schwellenwerte wurden 2 Punkte in
der Altersklasse bis zum 60. Lebensjahr und 3 Punkte ab dem 60. Lebensjahr
ermittelt.
Da die Primärstudie in HNO-Praxen durchgeführt wurde, war es grundsätzlich denkbar,
dass aufgrund des dort vertretenen, speziellen Patientenklientels (erhöhte
Morbidität der Schwerhörigkeit) die ermittelten Schwellenwerte mit einem
systematischen Bias behaftet sein könnten (Spectrum-Bias [22]). Bevor der MAT allgemein für einen breiten Einsatz in hausärztlichen
und fachärztlichen Praxen empfohlen werden konnte, musste deshalb eine Re-Evaluation
des Tests mit einer annähernden Normalkohorte durchgeführt werden.
Methoden
Zwischen Juni 2016 und August 2017 wurden an zwei HNO-Kliniken (Unfallkrankenhaus
Berlin und HNO-Klinik der Ruhr-Universität Bochum am St. Elisabeth-Hospital) 956
Patienten verschiedener Fachabteilungen ab dem 50. Lebensjahr ohne Ohrenerkrankungen
ohrmikroskopisch untersucht, der Hörverlust tonaudiometrisch für die Frequenzen 0,5
– 1,0 – 2,0 – und 4,0 kHz seitengetrennt erfasst und zuvor mit den sechs Fragen des
MAT befragt ([
Abb. 1
]). Die
Audiometristinnen waren gegenüber dem MAT-Ergebnis der Probanden verblindet. Zur
Beantwortung des MAT sollten die Probanden auf einer dreistufigen Skala angeben,
inwiefern sie sich bei den in den Fragen beschriebenen Alltagssituationen in ihrem
subjektiven Hörvermögen beeinträchtigt fühlen. Dabei standen drei
Antwortmöglichkeiten zur Auswahl, die nachfolgend Punktwerten zugeordnet wurden
(„stimmt“- 2, „stimmt teilweise“ – 1 oder „stimmt nicht“ – 0). Diese Punkte wurden
anschließend addiert. Die Antworten des MAT wurden papiergebunden erfasst und
pseudonymisiert mit den zugehörigen Tonaudiogrammen gesammelt und zusammen mit den
Angaben zu Alter und Geschlecht in eine Excel-Tabelle eingegeben.
Beide Studienstandorte wurden während des Erfassungszeitraumes zu Beginn, während und
nach Ende des Erfassungszeitraumes durch eine Study Nurse insgesamt fünf Mal
visitiert. Diese überprüfte die MAT-Werte, die tonaudiometrischen Angaben sowie die
weiteren erfassten Merkmale auf die korrekte Übertragung in die Excel-Tabellen, so
dass bei der Erfassung ein Vier-Augen-Prinzip realisiert werden konnte. Ferner wurde
überprüft, ob die Aufklärungs- und Einwilligungsbögen entsprechend des
Studienprotokolls ordnungsgemäß vorlagen. Über alle Besuche wurde ein
Fehlerprotokoll angefertigt und Übertragungsfehler anschließend korrigiert.
Schließlich wurde geprüft, ob die beiden Altersklassen untereinander und
hinsichtlich der Geschlechtsverteilung ausgewogen waren. Nach Abschluss der Studie
wurden die beiden Excel-Tabellen zusammengeführt und statistisch ausgewertet.
Hierbei wurden Sensitivität, Spezifität und prädiktive Werte als binomiale
Proportionen zusammen mit einem exaktem 95 % Konfidenzintervall (KI) bestimmt. Zur
Bestimmung dieser Größen wurde der MAT mit den Schwellenwerten von 2 Punkten (unter
60 Jahre) bzw. 3 Punkten (60 Jahre und älter) kategorisiert. Die prädiktive Güte des
Tests wurde mittels einer logistischen Regression bestimmt. Die Adjustierung
erfolgte über ein Regressionsmodell mit dem audiometrischen Testergebnis für den
Hörverlust als abhängige Variable und Alter, Geschlecht und Klinik als unabhängigen
Variablen. Als zugehörige Maßzahl wurde die Fläche unter der Kurve (Area under Curve
(AUC) der Receiver Operator Characteristic (ROC)-Kurve) genutzt. Bei der ROC-Analyse
wurde der MAT-Score variiert.
Die Studie und das zugehörige Protokoll wurden vor Beginn beim Deutschen Register für
Klinische Studien (DRKS) angemeldet (Registernummer: DRKS00009783) und vom Deutschen
Studienzentrum HNO (DSZ-HNO), Freiburg, fachlich unterstützt. Das DSZ-HNO wird
gemeinschaftlich von der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und
Halschirurgie und dem Deutschen Berufsverband der HNO-Ärzte getragen. Die Teilnahme
der Probanden an der Studie war freiwillig, für beide Standorte lag ein positives
Votum der jeweiligen Ethikkommission vor (Berlin: EA1/326/15, Bochum: 16–5740).
Ergebnisse
Innerhalb des Untersuchungszeitraumes wurden insgesamt 956 Probanden befragt. Von den
zugehörigen Datensätzen mussten 13 wegen eines zu geringen Lebensalters von der
weiteren Analyse ausgeschlossen werden. Die Verteilung der verbleibenden 943
Probanden zeigt [
Abb. 2
]. Die Daten für die
Altersklassen, Geschlechtsverteilungen und Kliniken zeigen die [
Tab. 1
] und [
Tab. 2
].
Abb. 2 Verteilung der Probanden auf die einzelnen Gruppen
(diagnostische Genauigkeit).
Tab. 1
Altersverteilung der untersuchten Gruppe in Jahren, gesamt sowie nach
Kliniken und Geschlecht.
Wert
|
Mittelwert
|
Standardabweichung
|
Median
|
Interquartilsabstand
|
gesamt
|
62,40
|
8,98
|
61,00
|
15,00
|
Berlin
|
62,61
|
8,78
|
61,00
|
14,00
|
Bochum
|
62,21
|
9,14
|
60,00
|
14,00
|
männlich
|
62,85
|
8,74
|
62,00
|
13,00
|
weiblich
|
61,91
|
9,21
|
60,00
|
15,00
|
Tab. 2
Verteilung von Geschlecht und Altersklassen.
|
Lebensalter
< 60 Jahre
|
Lebensalter
≥ 60 Jahre
|
|
Geschlecht
|
gesamt
|
gesamt
|
Summe
|
männlich
|
202 (21,4 %)
|
287 (30,4 %)
|
489 (51,7 %)
|
weiblich
|
219 (23,2 %)
|
235 (24,9 %)
|
454 (48,1 %)
|
Summe
|
421 (44,6 %)
|
522 (55,4 %)
|
943 (100 %)
|
Falsch positive und falsch negative Probanden und die Prävalenz von
Schwerhörigkeit in den Altersklassen
[
Abb. 2
] zeigt die absolute und relative
Einteilung der beiden Alterskohorten hinsichtlich ihres subjektiven und
objektiven Hörvermögens in Bezug auf die Gesamtzahl der Probanden. [
Tab. 3
] zeigt die zugehörige
Vierfeldertafel in Bezug auf die Gesamtzahl der beiden untersuchten
Altersgruppen. In der Altersgruppe der unter 60-jährigen schätzten sich 33,0 %
der Probanden mittels des MAT richtig als normalhörend (richtig negativ) und
15,9 % fälschlicherweise als normalhörend ein (falsch negativ). Von den
subjektiv Schwerhörenden dieser Altersgruppe waren 20,4 % tatsächlich normal
hörend (falsch positiv) und 30,6 % wiesen auch audiometrisch eine
Schwerhörigkeit (richtig positiv) im Sinne der Fragestellung auf ([
Tab. 3
]).
Tab. 3
Vierfeldertafeln, Angaben zur objektiven (tonaudiometrischen) und
subjektiven (MAT-Ergebnis) Schwerhörigkeit absolut und relativ in Bezug
auf die beiden untersuchten Altersklassen.
Altersgruppe
|
50–59 Jahre
|
60–75 Jahre
|
audiometrisch schwerhörend?
|
nein
|
ja
|
nein
|
ja
|
MAT negativ
|
139 (33,0 %)
|
67 (15,9 %)
|
93 (17,8 %)
|
215 (41,2 %)
|
MAT positiv
|
86 (20,4 %)
|
129 (30,6 %)
|
23 (4,4 %)
|
191 (36,6 %)
|
Anteil objektiv schwerhörend
|
225 (53,4 %)
|
196 (46,6 %)
|
116 (22,2 %)
|
406 (77,8 %)
|
Summe Altersgruppe
|
421 (100 %)
|
522 (100 %)
|
In der Altersgruppe ab dem vollendeten 60. Lebensjahr schätzten sich 17,8 % der
Probanden mittels des MAT richtig als normalhörend (richtig negativ) und 41,2 %
falsch als normalhörend ein (falsch negativ). Von den subjektiv Schwerhörenden
dieser Altersgruppe waren 4,4 % tatsächlich normal hörend (falsch positiv) und
36,6 % wiesen auch audiometrisch eine Schwerhörigkeit (richtig positiv) im Sinne
der Fragestellung auf ([
Tab. 3
]). Somit
war die Gruppe der falsch Negativen in der älteren Altersklasse deutlich größer
als in der jüngeren.
Insgesamt waren 53,4 % der Probanden unter 60 Lebensjahren im Sinne der
Fragestellung normalhörend und 46,6 % schwerhörend. Mit 22,2 % lag der Anteil
für ein normales Gehör nach der Definition dieser Studie in der älteren Gruppe
ab dem 60. Lebensjahr deutlich unter, mit 77,8 % für audiometrisch schwerhörende
deutlich über den Werten der jüngeren Probanden ([
Tab. 3
]). In der Voruntersuchung lag dieser Anteil in der
jüngeren Altersklasse bei 71,0 %, in der älteren bei 93,3 % [21].
Sensitivität, Spezifität, Prädiktiver Wert
Die bereits in der ersten Studie ermittelten Schwellenwerte zur Detektion eines
Hörverlustes von mindestens 25 dB in mindestens einer der vier Oktavfrequenzen
zwischen 0,5 und 4 kHz lagen für die Altersklasse 1 (50 bis 59 Jahre) bei 2, für
die Altersklasse 2 (ab dem 60. Lebensjahr) bei 3 Punkten im MAT [21]. Die mit den genannten Daten errechneten,
neuen Werte für die Sensitivität und Spezifität des MAT bezogen auf die beiden
Altersklassen finden sich in [
Tab. 3
],
ergänzt um die Daten der ersten Studie [21]. Im
Vergleich fällt auf, dass die Sensitivität des MAT im Rahmen der Re-Evaluation
insbesondere für die ältere Kohorte geringer als für die jüngere ausfiel (47,0 %
vs. 65,8 %). Nicht ganz so ausgeprägt findet sich dieses auch für die jüngere
Altersgruppe (65,8 % vs. 77,9 %). Die Werte für die Spezifität variieren
diesbezüglich nur geringgradig. [
Tab.
4
] zeigt die Ergebnisse im Vergleich.
Tab. 4
Vergleich der Testkriterien des MAT in der Erstevaluation 2013 [21] und nach der Re-Evaluation dieser
Studie.
Altersgruppe
|
< 60 Lebensjahre
|
≥ 60 Lebensjahre
|
Evaluationszeitraum
|
2013 [16]
|
2017
|
2013 [16]
|
2017
|
Sensitivität
|
77,9 %
|
65,8 %
|
69,4 %
|
47,0 %
|
95 % Konfidenzintervall
|
71,8 % 83,2 %
|
59,2 %
72,5 %
|
66,0 % 72,6 %
|
42,2 %
51,9 %
|
Spezifität
|
66,7 %
|
61,8 %
|
85,5 %
|
80,1 %
|
95 % Konfidenzintervall
|
55,9 % 76,3 %
|
55,4 %
68,1 %
|
73,3 % 93,5 %
|
72,9 %
87,3 %
|
positiver prädiktiver Wert
|
80,1 %
|
60,0 %
|
95,4 %
|
89,3 %
|
95 % Konfidenzintervall
|
74,6 % 85,0 %
|
53,5 %
66,6 %
|
93,6 % 96,8 %
|
85,1 %
93,4 %
|
negativer prädiktiver Wert
|
64,0 %
|
49,1 %
|
17,3 %
|
30,1 %
|
95 % Konfidenzintervall
|
51,0 % 75,7 %
|
44,4 %
53,8 %
|
11,3 % 24,8 %
|
25,1 %
35,3 %
|
Aus der aktuellen Untersuchung ergab sich für die jüngere Altersklasse ein
positiv prädiktiver Wert von 60,0 %, für die ältere von 89,3 %. Dieser gibt die
Wahrscheinlichkeit an, bei einem positiven Testergebnis tatsächlich krank zu
sein. Der negative prädiktive Wert lag für die Altersklasse unter dem 60.
Lebensjahr bei 49,1 %, ab dem 60. Lebensjahr bei 30,1 % ([
Tab. 4
]).
Bei der Analyse der ROC-Kurven ergab sich eine AUC von 0,67 (95 % KI 0,64; 0,71)
für den MAT insgesamt ([
Abb. 3a
]).
Adjustiert für Alter, Geschlecht und Klinik fand sich eine AUC von 0,79 ([
Abb. 3b
], 95 % KI 0,76; 0,82). Zum
Vergleich: In der Vorgängerstudie lag die AUC für den MAT bei 0.81 (95 % KI
0,77; 0,84) [21].
Abb. 3 a ROC-Kurve für den MAT insgesamt (AUC = 0,67, s. Text).
b ROC-Kurve für den MAT, adjustiert für Alter, Geschlecht und
Klinik (AUC = 0,79, s. Text). Die Adjustierung erfolgte über ein
Regressionsmodell mit dem audiometrischen Testergebnis für den
Hörverlust als abhängiger Variable und Alter, Geschlecht und Klinik als
unabhängigen Variablen.
Diskussion
In dieser Studie wurden die Sensitivität und Spezifität des MAT zur Detektion eines
Hörverlustes von mindestens 25 dB in mindestens einer der Oktavfrequenzen zwischen
0,5 und 4 kHz anhand einer Normalkohorte überprüft. Hierzu wurden 943 Probanden in
zwei Gruppen (erste Gruppe 50. bis 59., zweite Gruppe ab dem 60. Lebensjahr)
untersucht. Die Probandenanzahl war hinsichtlich der Verteilung auf die einzelnen
Altersklassen und des Geschlechts ausgewogen.
Die wichtigsten Ergebnisse der vorliegenden Studie weisen auf zwei entscheidende
Aspekte hin, die im Folgenden weiter diskutiert werden sollen. Zum einen
unterscheiden sich die ermittelten Parameter zur Sensitivität, Spezifität und der
prädiktiven Werte des MAT von denen der Voruntersuchung [21]. Zum anderen variiert die Sensitivität im Vergleich der beiden
untersuchten Altersklassen. Insgesamt ist die diagnostische Diskriminierung des MAT
in der Validierungsstichprobe, gemessen an der AUC, geringer als in der
Voruntersuchung. Im Folgenden diskutieren wir mögliche Ursachen.
Vergleich der jetzigen Untersuchungsergebnisse mit denen der Voruntersuchung
(Primärstudie)
Im Rahmen der hier vorliegenden Studie wurden Probanden untersucht, die sich in
verschiedenen Kliniken zweier repräsentativer deutscher Krankenhäuser
aufhielten, ohne an einer Erkrankung der Ohren zu leiden. In der Primärstudie
[21] rekrutierten sich die Probanden aus
HNO-Praxen. Vorbedingung war damals, dass diese keine akuten Erkrankungen der
Ohren aufwiesen. Deswegen wurde bereits damals diskutiert, dass es grundsätzlich
möglich war, dass Probanden untersucht wurden, die an einer seit längerem
bekannten Schwerhörigkeit litten, die HNO-Arztpraxis aktuell jedoch aus einem
anderen Grund konsultierten. Dieser hypothetische Spectrum-Bias [22] hätte zu einer erhöhten Prävalenz des
Merkmals Schwerhörigkeit in der erstuntersuchten Gruppe (der „Primärstudie“)
geführt.
Die jetzt vorliegenden Ergebnisse aus den Krankenhauskohorten scheinen diesen
erstmals hypothetisch angenommenen, aber jetzt bestätigten Spectrum-Bias [22] zu belegen.
Weitere Unterschiede zwischen den Altersklassen und Einordnung des MAT als
Screeningtest
Auffallend ist, dass insbesondere in der Altersklasse ab dem 60. Lebensjahr die
Sensitivität einen vergleichsweise geringeren Wert aufweist und gleichzeitig die
Prävalenz für das untersuchte Merkmal Schwerhörigkeit signifikant ansteigt. Es
muss also (mindestens) einen Grund geben, warum die älteren Probanden die
Schwerhörigkeit nicht in dem Umfang angeben, wie die jüngeren, obwohl sie
statistisch häufiger eine relevante Schwerhörigkeit aufweisen. Wenn man eine
kontinuierliche Zunahme der Schwerhörigkeit über das Lebensalter annimmt, dann
könnten eine wachsende Habituation an die Situation mit den oben beschriebenen
Kompensationsmechanismen oder ein zunehmendes Verdrängen dieses Umstandes
mögliche Erklärungsmodelle liefern. Denkbar ist auch, dass sich die beiden
Altersklassen grundsätzlich in ihrer Eigenwahrnehmung im Sinne eines
Generationenunterschiedes voneinander abgrenzen. Bekannt ist, dass eine
Veränderung der Selbstwahrnehmung einen Einfluss auf körperliche Funktionen hat
[23]. Im Unterschied zu Daten anderer
Autoren ist die Gruppe der subjektiv Schwerhörenden in der jüngeren Altersklasse
in unserer Studie größer als diejenige in der Älteren [12]. In der vorstehenden Untersuchung war die
Rate an Schwerhörenden in beiden Altersklassen absolut betrachtet geringer als
in unserer Studie, was aber an unterschiedlichen audiologischen
Bewertungskriterien zur Charakterisierung des Merkmals „Schwerhörigkeit“ liegen
könnte [12]. Dieses lässt sich auch für die
dort festgestellte, grundsätzlich geringere Quote an subjektiver Schwerhörigkeit
konstatieren, erklärbar durch die Verwendung eines anderen Frageninventars.
Denkbare Unterschiede zur Selbstwahrnehmung unterschiedlicher Generationen sind
wegen der multifaktoriellen Einflüsse kaum objektiv zu erfassen.
Der MAT wurde als Screeninginstrument entwickelt, um Kandidaten für eine
audiologische Diagnostik bei Vorliegen einer medizinisch relevanten
Schwerhörigkeit zu identifizieren. In unserer Studie ergab sich trotz der
geringeren Sensitivität des MAT in Folge der hohen Prävalenz von Schwerhörigkeit
ein positiver prädiktiver Wert von 60,0 % für die jüngere und von 89,3 % für die
ältere Altersgruppe.
Auch hier soll ein epidemiologischer Vergleich eingeführt werden: So hat das
Mammakarzinom in Deutschland eine Prävalenz von etwa 2 % ab dem 50. Lebensjahr
[24] und der prädiktive Wert des
Mammographiescreenings beträgt 9,2 % [25];
mittels kombinierter bildgebender Verfahren lässt sich eine Sensitivität von
90,77 % und Spezifität von 96,49 % erreichen [26]. Durch die niedrige Prävalenz der Erkrankung ergibt sich jedoch
selbst unter diesen Idealbedingungen nur ein positiver prädiktiver Wert von 34,5
%.
Da es sich bei den mit einer Schwerhörigkeit einhergehenden Erkrankungen – anders
als beim Brustkrebs – nur sehr selten um Malignome handelt, ist nach Ansicht der
Autoren der Einsatz des MAT als schnelles, kostengünstiges und einfach
umzusetzendes Screeninginstrument (ohne Nebenwirkungen) für Hausärzte und
Fachärzte ohne eigene Möglichkeit zur audiometrischen Untersuchung verlässlich
zu empfehlen. Sinnvollerweise sollte ein Erstscreening mittels MAT im 6.
Lebensjahrzehnt, also ab dem 50. Lebensjahr erfolgen, bevor Kompensations-,
Gewöhnungs- und Verdrängungsprozesse den Betroffenen wieder Normalhörigkeit
vorgaukeln.
Der MAT im Vergleich zu anderen Frageninventaren zur Schwerhörigkeit
Es gibt nur wenige Inventare, deren Sensitivität und Spezifität hinsichtlich
eines bestimmten Hörverlustes bekannt sind [27]. Zum Screening auf Schwerhörigkeit existiert in dieser Hinsicht
praktisch nur noch das HHIE-S [18]. Dieses
Inventar umfasst 10 Fragen und ist somit umfangreicher und aufwändiger als der
MAT. Zudem ist der HHIE-S in seiner deutschen Version nicht evaluiert. Seine
Sensitivität wurde hinsichtlich der Detektion eines durchschnittlichen
Hörverlustes von mindestens 25 dB in den drei Frequenzen zwischen 0,5 – 1,0 und
2,0 kHz ermittelt [18]; eine andere Studie hat
die Ergebnisse des HHIE-S erst mit einem durchschnittlichen Mindesthörverlust
von 35 dB in allen vier Oktavfrequenzen zwischen 0,5 und 4 kHz verglichen [19]; die Verwendung des HHIE-S ist also nicht
einheitlich. Insgesamt ist der korrelierte Mindesthörverlust beim HHIE-S
deutlich höher als in unserer Studie. Zudem wurden in der erstgenannten Studie
nur Probanden ab dem 60. Lebensjahr untersucht. Die Sensitivität des HHIE-S
liegt unter diesen Bedingungen bei 83,3 %, die Spezifität bei 63,4 %, der
positive prädiktive Wert bei 62,5 % und der negative prädiktive Wert bei 83,9 %
[28]. Interessanterweise sind dennoch die
Spezifität und der positiv prädiktive Wert des MAT trotz der geringeren
Sensitivität deutlich besser als die des HHIE-S. Darüber hinaus orientieren sich
die Werte des HHIE-S, anders als beim MAT, nicht an der Hilfsmittel-Richtlinie
[6]. Dieses ist aber für ein
deutschsprachiges Inventar wünschenswert, da die gesetzlichen Krankenkassen in
Deutschland Hörhilfen bereits ab den für den MAT gültigen Hörverlustkriterien
erstatten.
Das zweite gebräuchliche Inventar, dessen Sensitivität und Spezifität bekannt
ist, ist der 24 Fragen umfassende APHAB [29],
[30], [31], [32]. Die genannten Werte für
diesen Fragebogen liegen etwa im Bereich des HHIE-S und dienen ebenfalls zur
Detektion eines Hörverlustes in mindestens einer Oktavfrequenz von mindestens 25
dB [33]. Somit wäre der APHAB insgesamt ein
empfindlicheres Instrument als der HHIE-S bzw. MAT zum Nachweis einer relevanten
Schwerhörigkeit, wegen seines Umfanges und der Differenziertheit der
Einzelfragen ist er jedoch als Screeningmethode für Nicht-HNO-Ärzte ungeeignet.
Außerdem lag das zugrundeliegende Durchschnittsalter in der APHAB-Kohorte mit 58
Jahren deutlich höher, Altersklassen wurden in der genannten Studie nicht
gebildet [33]. Angesichts der relativ geringen
Sensitivität des MAT für die Altersgruppe ab dem 60. Lebensjahr wäre jedoch zu
erwägen, in dieser Kohorte, wenigstens durch HNO-Ärzte, den APHAB (oder HHIE-S)
einzusetzen.
Epidemiologische Abschätzungen und weitere Forschungsfragen
Die Prävalenz eines Hörverlustes von mindestens 25 dB in mindestens einer der
vier Oktavfrequenzen zwischen 0,5 und 4 kHz ist in unseren Kohorten
vergleichsweise hoch: 46,6 % in der jüngeren und 77,8 % in der älteren
Altersklasse. Zwar finden sich in der Literatur Daten über eine subjektiv
empfundene Hörbeeinträchtigung und Durchschnittsaudiogramme für verschiedene
Altersklassen [12], [34], da jedoch diese Publikationen unterschiedliche Kriterien zur
Definition einer Schwerhörigkeit und Fragebögen anwenden, ist ein direkter
Vergleich mit unseren Ergebnissen nicht unmittelbar möglich.
Perspektivisch erscheint die Frage bedeutsam, ob sich durch den Einsatz des MAT
die Anzahl von Patienten, die tatsächlich mit Hörgeräten versorgt werden, in den
hier untersuchten Altersgruppen erhöht. Wenn man davon ausgeht, dass tatsächlich
nur etwa 16 % aller versorgungsbedürftigen Patienten über Hörgeräte verfügen
[11], könnte eine signifikante Steigerung
in entsprechend ausgewählten Regionen innerhalb eines definierten Zeitraumes
nachweisbar sein.
Einsatz des MAT in der haus- und fachärztlichen Praxis
Angesichts der hohen Prävalenz von Schwerhörigkeit in der Bevölkerung [9], [10], [11], [12],
[13] eignet sich der MAT mit den gefundenen
Werten für die Sensitivität und Spezifität als Screeninginstrument zur Detektion
einer abklärungsbedürftigen Schwerhörigkeit in der hausärztlichen und anderen,
nicht-HNO-ärztlichen Praxis. Idealerweise sollte dies in der sechsten
Lebensdekade, zwischen dem 50. und 59. Lebensjahr erfolgen. Hierdurch kann auch
das Bewusstsein in der Bevölkerung geschärft werden, dass eine nichtbehandelte,
mit einer Schwerhörigkeit einhergehende Begleit- bzw. Folgeerkrankung keineswegs
eine banale Begleiterscheinung im höheren Lebensalter darstellt, sondern mit
erheblichen Risiken (kognitiver Leistungsverlust, Sturz, Depression, Demenz)
verbunden ist, die zumindest zum Teil durch eine Hörgeräteversorgung oder
operative Therapie aufgehalten werden können.
Hinsichtlich der hohen Rate schwerhörender Erwachsener ab dem 50. Lebensjahr
[9], [10],
[11], [12], [13] könnte ein strukturiertes
Vorgehen unter Einbeziehung des MAT zur Erfassung und dauerhaften Begleitung
chronisch schwerhörender Patienten entwickelt werden. Dieses sollte zum einen
die Zusammenarbeit zwischen der hausärztlichen bzw. fachärztlichen Ebene auf der
einen und der HNO-ärztlichen Ebene auf der anderen Seite regeln. Nur so lassen
sich die angesichts der Unterversorgung schwerhörender Patienten und aufgrund
des demographischen Wandels zu erwartenden Fallzahlen sinnvoll und auch für die
Kostenträger finanzierbar lenken und einer zielgerichteten Behandlung
zuführen.
Der MAT ist ein Screeningtool zur Detektion von Schwerhörigkeit, unabhängig von
deren Genese. Dabei können im Zuge der weiteren Abklärung auch andere als rein
sensorineural-bedingte Formen der Schwerhörigkeit zu Tage treten, die ggf. auch
einer operativen Behandlung bedürfen. Manche dieser Erkrankungen, z. B.
Cholesteatome oder Vestibularis-Schwannome, können unbehandelt lebensbedrohliche
Komplikationen nach sich ziehen, ohne zuvor weitere Symptome zu zeigen [35].
Schwerhörigkeit ist ein mögliches Symptom bei ganz unterschiedlichen
Erkrankungen.
Eine Schwerhörigkeit kann durch (z. B. alterungsbedingte)
Innenohrveränderungen aber auch durch potentiell lebensbedrohliche
Erkrankungen (z. B. Cholesteatome, Vestibularis-Schwannome) hervorgerufen
werden.
Die Prävalenz der Schwerhörigkeit steigt ab dem 50. Lebensjahr stark an.
Eine unbehandelte Schwerhörigkeit erhöht das Risiko für einen kognitiven
Leistungsverlust, für Stürze, für Depressionen und kann den Verlauf einer
Demenz beschleunigen.
Der MAT ist ein praktikabel durchzuführender, schneller Screeningtest auf
Schwerhörigkeit, der einfach und ohne großen Personalaufwand in jeder
ärztlichen Praxis durchgeführt werden kann.