Kontraindikation
Die Kipptischuntersuchung sollte nicht bei schweren zerebro- bzw. kardiovaskulären Erkrankungen durchgeführt werden, bei denen es zu zerebraler bzw. myokardialer Ischämie kommen kann. Im Zweifelsfall sollte eine kardiologische bzw. neurologische Evaluation vorher eingeholt werden, insbesondere bei pharmakologischer Provokation. Analog wird zur Untersuchung von schwangeren Frauen abgeraten, da eine auftretende Hypotonie möglicherweise den Fetus schädigen kann.
Komplikationen
Insgesamt gilt die Kipptischuntersuchung als sehr sicher. Es gibt keine Berichte über Todesfälle durch die Untersuchung. Das Auftreten einer Synkope wird als positives Testergebnis und nicht als Komplikation gewertet, wobei es – abhängig von der Art der Dysregulation – zu einem starken Abfall des Blutdrucks und der Herzfrequenz bis hin zur selbstlimitierenden Asystolie kommen kann. Unter pharmakologischer Provokation kann es in seltenen Fällen zu weiteren kardiovaskulären Nebenwirkungen kommen.
Merke
Die Kipptischuntersuchung sollte bei neurologischer Indikation nicht als Einzeltest durchgeführt werden, sondern im Rahmen einer vollständigen autonomen Funktionsdiagnostik, die Anamnese, körperliche Untersuchung sowie andere autonome Funktionstests wie z. B. metronomische Atmung, Valsalva-Manöver oder pressorische Tests mit einschließt [1].
Schritt 1 Aufklärung
Der Arzt klärt den Patienten über die Indikation, den Nutzen und die Risiken einer Kipptischuntersuchung, die Alternativen sowie das Vorgehen bei dieser Prozedur auf. Der Patient stimmt der Durchführung der Kipptischuntersuchung schriftlich zu. Bei nicht einwilligungsfähigen Patienten klärt der Arzt den Bevollmächtigten, gesetzlichen Betreuer oder Erziehungsberechtigten auf und holt das schriftliche Einverständnis ein.
Schritt 2 Vorbereitung
Die Patienten sollten vor der Testung nicht mehr als eine leichte Mahlzeit zu sich nehmen, sogar mindestens 2 Stunden vor dem Test nüchtern sein, nur klare Flüssigkeiten einnehmen und auf Nikotin, Alkohol oder Koffein verzichten. Abhängig von der jeweiligen klinischen Fragestellung sollten Patienten ihre Medikation weiter einnehmen oder gegebenenfalls pausieren. Dabei sind aber insbesondere Absetzphänomene bei z. B. α- bzw. β-Adrenozeptor-Agonisten, Clonidin, Benzodiazepinen oder Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern zu beachten [6].
Die Kipptischuntersuchung sollte in einem ruhigen, möglichst klimatisierten Raum mit angenehmer Temperatur (22 – 24 °C) und minimaler Ablenkung für den Patienten (Entspannung, entleerte Blase) durchgeführt werden. Von der Tageszeit der Testung her ist eine ausgeprägtere Symptomatik bei der OH und dem POTS sowie Synkopenneigung in den Morgenstunden zu erwarten. Sollten eine Medikamentengabe oder Blutabnahmen erfolgen, sollte vor dem Eingriff ein intravenöser Katheter angelegt werden. Der Patient wird auf einen motorisch betriebenen Kipptisch mit Fußbrett und Sicherheitsgurten gestellt, der einen schnellen Kippvorgang (< 10 s) zum Aufrichten und zur Rücklagerung ermöglicht.
Der Kipptisch muss strukturell stark genug sein, um das Gewicht des Patienten sicher zu tragen. Am Ende des Tisches befindet sich normalerweise eine Fußplatte, auf der die Füße des Patienten während der Kippphase ruhen. Dies hilft dem Patienten, kann aber die Muskelpumpe in den Beinen aktivieren, was die Ergebnisse beeinträchtigen könnte. Verstellbare Gurte sollten zum Sichern des Patienten verwendet werden. Ein Kissen unter dem Kopf ist für den Patienten sehr angenehm.
Merke
Die Untersuchung sollte von erfahrenem Fachpersonal durchgeführt werden mit einem erfahrenen Arzt in Rufweite.
Schritt 3 Kontinuierliches kardiovaskuläres Monitoring
Während der gesamten Untersuchung sollten kontinuierlich Elektrokardiogramm (EKG) und Blutdruck monitoriert und aufgezeichnet werden. Das EKG wird mit 3 oder 6 Ableitungen durchgeführt, meistens mit herkömmlichen Extremitätenableitungen. Auch die Blutdruckmessung sollte kontinuierlich „Beat to Beat“ zur schnellen Erkennung von Trends und Oszillationen erfolgen. Dabei kommen tonometrische Messverfahren über der A. radialis ([Abb. 3]) bzw. fingerplethysmografische Messverfahren ([Abb. 4]) in Kombination mit einer brachialen Blutdruckmessung mittels Armmanschette zwecks Kalibration zum Einsatz, die nicht invasiv sind und die die intraarterielle Blutdruckmessung weitgehend verdrängt haben. Die Blutdruckmessung am Arm liefert genauere Blutdruckwerte, obwohl der systolische Blutdruck möglicherweise bei hoher Gefäßsteifigkeit überschätzt wird. Bei Vasokonstriktion im Fingerbereich (kalte Hände) kann der Fingerblutdruck unter dem Armblutdruck liegen oder sogar nicht mehr registrierbar sein, sodass die Hand vorher passiv erwärmt werden sollte. In jedem Fall sind immer potenzielle Artefakte der Blutdruckmessung zu berücksichtigen.
Abb. 3 Kontinuierliche Beat-to-Beat-Blutdruckmessung mithilfe des fingerplethysmografischen Messverfahrens nach Finapres (hier: Finometer).
Abb. 4 Kontinuierliche Beat-to-Beat-Blutdruckmessung mithilfe des tonometrischen Messverfahrens der A. radialis (hier: COLIN).
Schritt 4 Steady-State-Baseline im Liegen
Vor der Orthostasebelastung wird der Patient – möglichst ruhig und entspannt – mindestens 5 – 10 Minuten lang bzw. gegebenenfalls länger in Rückenlage monitoriert, bis ein kardiovaskulärer Steady-State-Ruhezustand erreicht ist. Nach einer eventuellen arteriellen oder venösen Kanülierung wird eine längere Liegezeit von mindestens 20 Minuten empfohlen. Gegebenenfalls auftretende Blutdruckerhöhungen durch z. B. Schmerzen, Angstzustände und Medikamente oder keine ausreichende Ruhezeit zur Erreichung der Baselinewerte können zu einer falsch positiven Diagnose einer OH führen.
Wenn ein Blutdruckmesssystem ohne Höhenkorrektureinheit verwendet wird, sollte eine einstellbare Armlehne in vertikaler Höhe des Herzens für alle Körperhaltungen verwendet werden, um den Arm vollständig zu entlasten ([Abb. 3] und [Abb. 4]). Wenn sich der Arm absenken darf im Verhältnis zur Herzebene, führt der hydrostatische Gradient zu einem falsch erhöhten Blutdruck von 0,8 mmHg pro cm vertikaler Verschiebung.
Abb. 5 Für das durchführende Personal gut erkennbares Monitoring der kardiovaskulären Parameter in der Ruhephase vor der Kippbelastung zum Erreichen eines Steady States.
Schritt 5 Kippvorgang
Nach Erreichen des Steady States im Liegen wird der Kipptisch langsam aus der horizontalen Ebene angehoben. Unterschiedliche motorisierte Kipptische haben unterschiedliche Neigungswinkeländerungsraten, diese sind aber bislang nicht systematisch untersucht: Eine langsamere Kippgeschwindigkeit führt zu einer geringeren Aktivierung der sympathischen Nervenaktivität und verringerten Verspannung der Antigravitationsmuskulatur. Bei der Auswahl des Neigungswinkels sucht man einen Kompromiss zwischen einer ausreichenden Schwerkraftbelastung und Minimierung der Aktivierung der Beinmuskelpumpe. Ein vernünftiger Kompromiss besteht darin, den Patienten in einen Winkel zwischen 60 und 80° zu kippen. Ein nach unserer Erfahrung optimaler Winkel beträgt 70° ([Abb. 6 a – e]). Winkel von 60, 70 und 80° setzen den Patienten 87, 94 und 98% der Gravitationsbelastung eines 90°-Winkels aus. Ein Winkel von 90° wäre äquivalent zu aktivem Stehen, was sich, wie oben diskutiert, physiologisch unterscheidet.
Abb. 6 a – e Langsames Aufrichten als Kippbelastung mithilfe des motorisierten Kipptisches in einen Kippwinkel von 70°.
Schritt 6 Orthostasebelastung
Die Dauer der Kippbelastung hängt von der zu beantwortenden klinischen Fragestellung ab: von 5 Minuten bei einem Patienten, bei dem eine OH-Diagnostik durchgeführt wird, bis zu 45 Minuten bei einem Patienten, bei dem eine Synkope abgeklärt werden soll. Beobachtet werden während der Kippphase die kardiovaskulären Parameter sowie etwaige Symptome des Patienten.
Mögliche klinische Outcomes der passiven Kippphase sind eine Auslösung einer Reflexsynkope respektive psychogenen Pseudosynkope, Symptome einer OH oder eines POTS. Bei der Synkopenabklärung kehrt der Patient in die Rückenlage zurück, wenn nach 20 Minuten keine Symptome aufgetreten sind. Die Entscheidung, eine verlängerte passive Orthostasebelastung bis zu 45 Minuten oder eine Arzneimittelprovokation durchzuführen, liegt im Ermessen des Klinikers.
Faktenbox
VASIS-Klassifikation der Synkopen
1992 führten Sutton et al. erstmals eine Subklassifikation der neurokardiogenen Synkopen im Rahmen der Vasovagal Syncope International Study (VASIS) ein, die 2000 von Brignole et al. überarbeitet wurde [7].
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Typ 1 beschreibt den gemischten vasodepressorischen und kardioinhibitorischen Typ, d. h., zuerst fällt präsynkopal der Blutdruck, dann die Herzfrequenz. Diese fällt entweder nicht unter 40/min oder dieses nicht länger als 10 Sekunden, gegebenenfalls auch verbunden mit einer Asystolie von weniger als 3 Sekunden.
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Typ 2A beschreibt den kardioinhibitorischen Typ ohne längere Asystolie. Zuerst entwickelt sich ein Blutdruckabfall, dann fällt die Herzfrequenz anhaltend unter 40/min, aber ohne Asystolie von länger als 3 Sekunden.
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Typ 2B beschreibt den kardioinhibitorischen Typ mit Asystolie über 3 Sekunden Dauer. Hier sollen Herzfrequenz und Blutdruck gleichzeitig fallen oder der Herzfrequenzabfall dem Blutdruckabfall sogar vorausgehen. Es kommt zu einer Asystolie von mehr als 3 Sekunden.
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Typ 3 erfasst den vasodepressorischen Typ. Der Blutdruck fällt drastisch ab, die Herzfrequenz dabei aber nicht mehr als 10% unter den Wert der Maximalfrequenz.
Schritt 7 Gegebenenfalls pharmakologische Provokation
Die Verwendung von pharmakologischen Wirkstoffen wie z. B. Isoproterenol oder Nitroglyzerin zur Provokation einer Synkope ist problematisch, da doch relativ hohe falsch positive Testresultate provoziert werden [8], [9]. Isoproterenol wird als intravenöser Bolus von 2 – 8 µg bzw. kontinuierliche Infusion in Dosen von 1 – 5 µg/min verabreicht, ist allerdings nicht ohne potenzielle Risiken, insbesondere bei Patienten mit struktureller Herzerkrankung gerade im Hinblick auf ausgelöste supraventrikuläre Arrhythmien, Angina-pectoris-Zustände und Kammerflimmern. Sublinguales Nitroglyzerin als Provokationsmittel hat insbesondere bei Kindern den Vorteil, dass die Notwendigkeit einer intravenösen Katheterisierung vermieden wird. Nach unserer Meinung sollte die pharmakologische Provokation wegen der hohen Falsch-positiv-Raten nicht in routinemäßigen diagnostischen Kipptischuntersuchungen zur Anwendung kommen.
Schritt 8 Rückkippen
Die Verwendung des Kipptisches für die Diagnose der OH ist normalerweise unkompliziert und erfordert zumeist nur 5 Minuten, ehe zurückgekippt werden kann ([Abb. 7]). Die Diagnose erfordert keine Symptome; nach Orthostasebelastung fällt der Blutdruck typischerweise schnell ab, bleibt im Vergleich zur Baseline niedrig und erholt sich nicht, bis die horizontale Haltung wiederhergestellt wird.
Abb. 7 Beispiel einer orthostatischen Hypotonie mit Absinken des systolischen und diastolischen Blutdrucks (blaue Kurven) während passiver Orthostasebelastung (zwischen beiden vertikalen Linien). Keine deutliche Herzfrequenzsteigerung kompensatorisch. Langsame Erholung der Blutdruckabsenkung nach Rücklagerung.
Die Verwendung des Kipptisches zur COI/POTS-Diagnose stellt sich komplexer dar: Patienten können Symptome wie z. B. Schwindel, Schwäche, Wärme, Dyspnoe, Übelkeit oder Kopfschmerzen entwickeln. POTS wird durch einen anhaltenden Anstieg der Herzfrequenz von ≥ 30 bpm/min (≥ 40 bpm für Patienten < 20 Jahre) innerhalb von 10 Minuten definiert ([Abb. 8]).
Abb. 8 Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (POTS) mit deutlichem Anstieg der Herzfrequenz bei passiver Orthostase um 40–50 BpM. Nach Rücklagerung Normalisierung. Keine deutlichen Blutdruckveränderungen.
Normalerweise wird der Kipptischtest hinsichtlich der Synkopendiagnose als positiv angesehen, wenn die synkopalen Symptome reproduziert werden im Rahmen einer neurokardiogen ausgelösten Hypotonie und/oder Bradykardie ([Abb. 9]). Der Test kann ebenfalls als positiv definiert werden, wenn die kardiovaskulären Veränderungen auftreten, ohne dass der Patient eine Reproduktion der Symptome angibt. Bei Bewusstlosigkeit sollte der Kipptisch umgehend zurückgekippt werden in die horizontale Position.
Abb. 9 Neurokardiogene Synkope nach passiver Orthostase und Nitroglyzerinbelastung. Absinken des Blutdrucks und plötzliches Absinken der Herzfrequenz. Nach Rücklagerung Erholung der Kreislaufparameter. 10 s Bewusstlosigkeit im Rahmen der Synkope.
Schritt 9 Interpretation
Nicht alle kardiovaskulären Veränderungen während des Kipptischtests müssen generell pathologisch sein; daher muss die Kipptischprovokation unter kontrollierten Bedingungen durchgeführt und von einem erfahrenen Kliniker interpretiert werden. Eine Diagnose der OH erfordert beispielsweise valide kardiovaskuläre Baselinewerte als Ausgangspunkt für die Beurteilung der Orthostaseprovokation. Mechanische Eigenschaften von Arterien, die bei höheren Drücken steifer werden, wirken sich ebenfalls auf die Genauigkeit der Blutdruckmessung aus. Artefakte der Blutdruckmessung können auftreten bei schlechter Biosignalqualität des Finger- bzw. Handgelenkssensors.
Fazit
Die Kipptischuntersuchung ist ein entscheidender Funktionstest zur Beurteilung des kardiovaskulären autonomen Nervensystems, besonders, wenn es Hinweise auf Funktionsstörungen bei Orthostase gibt. Wichtige Erkrankungen wie die OH, das POTS und die Synkope können diagnostiziert und gegebenenfalls dann eine entsprechende Therapie eingeleitet werden.