Keywords
komplexes regionales Schmerzsyndrom - CRPS - Trauma - Entzündung - Ödeme - Extremitäten
Abb. 1 Anut21ngphoto / Adobe Stock; Symbolbild
In einigen Fällen tritt nach einem Trauma einer Extremität das komplexe regionale
Schmerzsyndrom auf – Eine erfolgreiche Therapie motiviert die Patienten zum Selbstmanagement
Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS) ist eine seltene Schmerzerkrankung einer
Extremität. Sie entsteht nach einer Verletzung und ist in ihrer akuten Form durch
entzündliche Symptome gekennzeichnet. Die Inzidenz liegt zwischen 5,5 [[1]] und 26,22 [[2]] pro 100 000 Fälle im Jahr. Etwa 2 % aller Menschen entwickeln nach einem Trauma
ein CRPS. Bei 11 % davon ist eine distale Radiusfraktur die damit häufigste Ursache,
bei Nervenläsion in bis zu 5 % der Fälle [[2]]. Erwachsene Patienten mit komplizierten Frakturen, einer rheumatologischen Vorerkrankung
oder starken Akutschmerzen (> 5 auf einer 11-Punkte-NRS) bis zu einer Woche nach dem
Trauma haben ein erhöhtes Risiko, ein CRPS zu entwickeln [[3]].
Die Prognose ist im Ganzen positiv. 70 % der Betroffenen erfahren in den ersten 12
Monaten eine signifikante Verbesserung des Schmerzes, der entzündlichen Symptome und
der Funktion der Extremität. Allerdings sind nur 5 % innerhalb von einem Jahr komplett
beschwerdefrei und nur wenige erholen sich vollständig [[4]].
Klinische Manifestation
Das Leitsymptom des CRPS ist der posttraumatische Schmerz. Die Patienten beschreiben
ihn meistens als dauerhaft mit Intensitätsveränderungen. In der Akutphase wird er
oft als tiefer Gewebeschmerz empfunden. Er verstärkt sich bei Bewegung, Temperaturveränderung
(Wärme oder Kälte) sowie bei physiologischer oder psychologischer Belastung. Markante
Symptome der entzündlichen Reaktion sind Ödem, Überwärmung und Schwitzen der betroffenen
Extremität ([
Abb. 2
]). Sichtbar sind weiterhin trophische Veränderungen der Nägel, Behaarung und Haut
(zum Beispiel Geschwüre in chronischen Stadien). Vorwiegend als Akutsymptom zeigt
sich eine Hautfarbenveränderung, entweder rötlich oder blau-livide. Passend dazu ist
die Hauttemperatur entweder wärmer oder kälter verglichen mit der Gegenseite.
Abb. 2 Die Kernsymptome eines CRPS. © Dimova/Birklein
Das Ödem wird von Patienten mit chronischem CRPS stärker empfunden als es objektiv
ist. Oft haben sich dann aber eine Allodynie und ein Funktionsverlust der Extremität
entwickelt. Ausnahmslos bei allen Patienten liegen Kraftminderung und Minderbewegung
vor, was die Entwicklung von Gelenkkontrakturen zur Folge hat. Seltener sind motorische
Symptome wie Tremor, Myoklonien oder Dystonien [[5]]. Trotz Schmerz und Hyperalgesie sind Hypästhesie und Thermhypästhesie nachweisbar
[[6]], die einem Handschuh- oder Socken-förmigen Muster folgen. Die Patienten empfinden
ihre betroffene Extremität nicht mehr als dem eigenen Körper zugehörig. [
Abb. 2
] zeigt die Kernsymptome eines CRPS.
Diagnosestellung
Die Diagnose CRPS wird derzeit klinisch anhand der von der International Association
for the Study of Pain (IASP) anerkannten „Budapest-Kriterien“ [[7]] gestellt (s. Kasten). Ohne das Vorliegen einer mindestens bewegungsabhängigen Schmerzsymptomatik kann
CRPS nicht diagnostiziert werden. Ein CRPS kann in Typ I ohne und Typ II mit nachweisbarer
Nervenläsion klassifiziert werden. Zusätzlich kann zwischen einem „primär warmem"
oder „primär kaltem“ Subtyp unterschieden werden, wenn Patienten retrospektiv entweder
über eine initial erhöhte oder erniedrigte Hauttemperatur der Extremität berichten.
Der „primär kalte“ Subtyp ist seltener. Eine sorgfältige differenzialdiagnostische
Klärung ist äußerst relevant, insbesondere bei spontan auftretenden CRPS-Erkrankungen,
die sehr selten vorkommen. Bei diagnostischer Unsicherheit sind folgende apparative
Untersuchungen besonders hilfreich:
-
3-Phasen-Knochenszintigrafie: Der typische Befund ist ein erhöhter Knochenstoffwechsel
in der späten Mineralisationsphase in den distalen Gelenken.
-
MRT-Untersuchung der Extremitäten: Ausschluss rheumatischer Erkrankungen oder Infektionen.
Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS) ist eine seltene Schmerzerkrankung einer
Extremität, die nach einer Verletzung entsteht. Etwa 2% aller Menschen entwickeln
nach einem Trauma ein CRPS. Die Prognose der Erkrankung ist positiv – auch wenn sich
die meisten Patienten nicht vollständig erholen, so ist doch eine wesentliche Besserung
der Symptome bei frühzeitiger adäquater Behandlung zu erreichen.
Der Refresher gibt ein Update zu Pathophysiologie, Diagnostik, klinischer Manifestation,
Chronifizierungsfaktoren und Therapie.
Pathophysiologie
Eine eindeutige genetische Disposition ist bis dato nicht nachgewiesen. Die posttraumatische
Entzündung ist der pathophysiologische Mechanismus des akuten CRPS. Durch die vom
Trauma induzierte Immunreaktion werden Entzündungsmediatoren freigesetzt, die eine
Proliferation von Bindegewebszellen auslösen und zu den typischen Kontrakturen führen,
periphere Nozizeptoren sensibilisieren und Schmerz sowie Hyperalgesie auslösen. Sie
erhöhen außerdem die Freisetzung von Neuropeptiden wie Calcitonin Gene-Related Peptide
(CGRP) und Substanz P (SP), was Rötung, Überwärmung, Ödeme, Haarwachstum und Schwitzen
verursacht [[8]].
Zeitgleich wird die Extremität geschont. Das verschafft zwar kurzfristig eine Symptomlinderung,
langfristig fördert es jedoch Funktionsstörungen. Parallel beginnen maladaptive zentralnervöse
plastische Prozesse, die das klinische Bild im weiteren Verlauf prägen:
-
Bewegungsstörungen entstehen durch erlernte schmerzassoziierte Vermeidung.
-
Flexionsdystonien entstehen durch eine unphysiologische Kraft-Rückkopplungsregulation
ausgehend von Golgi-Sehnenorganen via spinale Reflexbögen.
-
Körperrepräsentationsstörungen wie Entfremdungsgefühle der Extremität oder Überschätzung
von deren Größe manifestieren sich [[9]].
-
Eine Allodynie wird ein häufiges Symptom.
Chronifizierungsfaktoren
Psychologische Faktoren und maladaptives Lernen stehen im Herzen der CRPS-Chronifizierung.
Die Schmerzangst beschreibt eine ängstliche Einstellung einer Person gegenüber Schmerzen,
die sich zum Beispiel in der Befürchtung schlimmer Konsequenzen durch den Schmerz
äußert. Die Schmerzangst beeinflusst den CRPS-Krankheitsverlauf nachweislich negativ
[[10]]. Je stärker die Angst vor Schmerzen bei einem CRPS-Patienten ist, desto schneller
manifestiert sich ein schmerzassoziiertes Vermeidungsverhalten. Die Bewegung der betroffenen
Extremität wird reduziert oder komplett ausgelassen, um die bewegungsabhängige Verstärkung
der Schmerzen zu vermeiden.
Im Verlauf entsteht oder verstärkt sich eine depressive Verstimmung. Eine klinisch
relevante psychologische Traumatisierung in der Vorgeschichte berichten 38 % der CRPS-Patienten,
nur 10 % der Patienten mit anderen Extremitätenschmerzen und 4 % der Gesunden [[11]]. Es ist wahrscheinlich, dass dies die psychologische Bewältigung der CRPS-Schmerzerkrankung
erschwert.
Die klinischen „Budapest-Kriterien“ zur Diagnosestellung eines CRPS nach Harden et
al. [[7]] weisen eine Sensitivität von 99% und eine Spezifität von 68 % zur Differenzierung
gegen neuropathische Schmerzerkrankungen auf.
Kriterium I: Anhaltender Schmerz
Kriterium II: Anamnestisch berichtet der Patient über jeweils mindestens 1 Symptom
aus 3 der 4 folgenden Kategorien:
-
Hyperalgesie (Überempfindlichkeit für Schmerzreize); Hyperästhesie/Allodynie (Überempfindlichkeit
für Berührung)
-
Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe
-
Asymmetrie des lokalen Schwitzens; Ödem
-
Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, „Paresen“ (i. S. von Schwäche); Veränderungen
von Haar- oder Nagelwachstum
Kriterium III: Zum Zeitpunkt der Untersuchung liegt beim Patienten jeweils mindestens
1 Symptom aus 2 der 4 folgenden Kategorien vor:
-
Hyperalgesie auf spitze Reize (z. B. Zahnstocher); Allodynie; Schmerz bei Druck auf
Gelenke/Knochen/Muskeln
-
Asymmetrie der Hauttemperatur durch Palpation; Veränderung der Hautfarbe
-
Asymmetrie des lokalen Schwitzens; Ödem
-
Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, „Paresen“ (i. S. von Schwäche); Veränderungen
von Haar- oder Nagelwachstum
Kriterium IV: Eine andere Erkrankung erklärt die Symptomatik nicht hinreichend.
Therapie
Die CRPS-Behandlung ist idealerweise multimodal. Interventionelle Behandlungsformen
können dabei als Add-on-Therapeutika in besonderen Fällen, aber grundsätzlich nicht
in der Routinetherapie eingesetzt werden. Die wichtigsten Therapieziele für die Patienten
sind es, Schmerzen zu reduzieren und Funktionen wiederzuerlangen. Vom Beginn der Behandlung
an gilt das Prinzip vom „Management zum Selbstmanagement“: Die Patienten sollten motiviert
werden, passive Rollen zu verlassen und sich aktiv an der Krankheitsbehandlung zu
beteiligen. Sie werden aufgefordert, die betroffene Extremität zu benutzen, auch wenn
dies zu einer vorübergehenden Zunahme der Schmerzen und anderer Symptome führt.
Der Behandlungserfolg hängt wesentlich von der Motivation und der selbstverantwortlichen
aktiven Mitbeteiligung des Patienten zur Funktionsverbesserung der betroffenen Extremität
ab.
Basierend auf der S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Diagnose
und Therapie des CRPS [[12]] schlagen wir folgenden Therapiealgorithmus vor:
Standardtherapie
Medikamentöse und nicht-medikamentöse Schmerztherapie (akute und chronische Phase),
welche allerdings nicht speziell für CRPS untersucht wurde:
-
Gabapentin (1200–2400 (3600) mg/Tag) hat einen Effekt vor allem bei Allodynie [[13]]. Trizyklische Antidepressiva sind bei begleitenden Schlafstörungen hilfreich.
-
Bei Opioidgabe muss eine Schmerzreduktion > 50 % innerhalb von 2 Wochen erreicht werden.
CAVE: Opioid-insensitive Schmerzen sind bei CRPS eher die Regel als die Ausnahme.
-
Eine epidurale Rückenmarkstimulation bzw. die Stimulation abhängiger Hinterwurzelganglien
ist bei CRPS der unteren Extremität geeignet, wenn die nicht-invasive Schmerztherapie
versagt hat. Wir verweisen auf die S3 Leitlinie zur Epiduralen Rückenmarkstimulation
[[14]].
Physiotherapie, Ergotherapie und Trainingstherapie in der akuten und chronischen Phase:
-
Die physikalische Therapie sollte mindestens 3 Tage pro Woche stattfinden, um den
Patienten nicht zu überfordern, aber zum Selbstmanagement anzuleiten.
-
Ziel ist die Besserung bzw. Prävention von Kontrakturen und passiven Bewegungseinschränkungen
oder Bewegungsvermeidung.
-
Etablierte und wirksame Therapien sind Spiegeltherapie [[15]], „Graded Motor Imagery (GMI)“-Therapie [[16]], Graded Exposure in vivo (GEXP, siehe unten).
Antientzündliche Therapie (akute Phase bis ungefähr 6 Monate):
-
Die Entzündung kann mit Steroiden, Bisphosphonaten und Dimethylsulfoxid-Creme (DMSO,
50 % in fetthaltiger Basiscreme, 3-mal täglich) behandelt werden. Es gelten die typischen
Kontraindikationen.
-
Die Autoren empfehlen in der Akutphase die Steroidtherapie. Wir stützen uns dabei
auf Interventionsstudien und eigene positive Erfahrungen mit der Verabreichung mittelhoher
Dosen (100 mg Prednisolon/Tag oral, Reduktion um 25 mg alle 4 Tage).
Weiterführende Therapie
Psychotherapie, spezifisch Therapie schmerzbezogener Ängste und Bewegungsvermeidung:
-
In der Regel standardisierte kognitiv-behaviorale Schmerzpsychotherapie
-
Spezifisch effektiv für das Bewegungsvermeidungsverhalten ist eine multidisziplinäre
Form der schrittweisen Exposition in vivo mit physiotherapeutischen Elementen, Graded
Exposure Therapy (GEXP) [[17]].
Sympathikusblockaden sind nicht Therapie der ersten Wahl bei CRPS:
Therapie der Dystonie in spezialisierten Zentren:
Das Wichtigste für die klinische Praxis
Das Wichtigste für die klinische Praxis
Ein CRPS kann ab circa 6 Wochen nach Extremitätentrauma bei typischen Symptomen an
den distalen Gliedmaßen diagnostiziert werden. Die Diagnose wird anhand standardisierter
klinischer Kriterien nach sorgfältiger differentialdiagnostischer Abklärung gestellt.
Psychologische Risikofaktoren fördern im Krankheitsverlauf Schmerzpersistenz und Funktionsverlust
der betroffenen Extremität.
Die akute Entzündung sollte möglichst frühzeitig behandelt werden. Die Schmerztherapie
erfolgt mit Analgetika gegen akute und neuropathische Schmerzen. Regelmäßige Physio-
und Ergotherapie sind unabdingbare Bestandteile der CRPS-Therapie.
Der Behandlungserfolg hängt wesentlich von der Motivation und der selbstverantwortlichen
aktiven Mitbeteiligung des Patienten zur Funktionsverbesserung der betroffenen Extremität
ab.
Interessenkonflikt:
Die Autoren erklären, dass keine wirtschaftlichen oder persönlichen Verbindungen bestehen
Danksagung:
Die Autoren werden durch Mittel der Berufsgenossenschaft für das Gesundheitswesen
(BGW) Mainz unterstützt.
Online zu finden unter
http://dx.doi.org/10.1055/a-0857-5724