DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2019; 17(03): 36-42
DOI: 10.1055/a-0875-2752
Spektrum
Salutogenese
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Körperarbeit als Zugang zum ganzen Menschen

Theodor Dierk Petzold
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Theodor Dierk Petzold
Barfüßerkloster 10
37581 Bad Gandersheim

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Publication Date:
01 July 2019 (online)

 

Angesichts der Zunahme langwieriger Erkrankungen, insbesondere im Zusammenhang mit Stress, wird die Frage danach, was nachhaltig heilt, immer wichtiger. Ein ganzheitliches Verstehen der gesunden Selbstregulation als Regulation in Kooperation, hier insbesondere in einer therapeutischen Kooperation, kann darauf Antworten liefern.


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Was heilt?

Ist es eine bestimmte, auf ein Symptom abgestimmte Intervention, die heilt, ein gezielt verabreichtes Medikament oder die liebevolle Zuwendung? Oder was heilt eigentlich? Angesichts steigender Zahlen chronischer Erkrankungen und teurer jahrelanger anatomischer, physiologischer und pharmakologischer Lernübungen scheint die Frage danach, was heilt, besonders folgenreich zu sein – für alle Menschen und v. a. für Therapeuten. Nicht nur Placebo-Wirkungen legen nahe, zwischen ganzheitlichen bzw. mehr oder weniger unspezifischen Ansätzen und Wirkungen und symptom- bzw. organbezogenen spezifischen zu unterscheiden, sondern diese Unterscheidung hilft auch, therapeutische Ansätze und Wirkungen differenzierter zu betrachten und zu verstehen.

Der ganzheitliche Ansatz geht davon aus, die Selbstregulation des Organismus anzuregen. Dabei kann dem Patienten Energie z. B. in Form von Wärme oder Nahrung zugeführt oder Information [1] mehr oder weniger stoffgebunden, z. B. als Beratung, Punktmassage oder in Form von homöopathischen oder anderen Arzneimitteln, vermittelt werden. Davon ausgehend, dass der Gesamtorganismus ein inneres Wissen und ein Streben nach Stimmigkeit in seiner Selbstregulation hat [2], sollen diese Impulse den Körper in die Lage versetzen, wieder gesund zu werden. Die gesunde Selbstregulation (Salutogenese) funktioniert nur im Zusammenwirken, also in Kooperation, mit der Umgebung, ggf. mit den Mitmenschen. Insbesondere während einer Erkrankung braucht ein Mensch eine Kooperation in Form von besonderer Energie und/oder Information, damit seine Selbstregulation wieder erfolgreicher verläuft und es ihm wieder besser geht. Zum Beispiel lernt ein Patient mit anhaltenden Rückenschmerzen bei starker Verspannung im unteren LWS-Bereich unter der Hand des Behandlers, den Spannungszustand seiner Muskulatur wahrzunehmen. Damit findet er wieder den Kontakt zu seinem Soll-Zustand von gelöster Muskulatur und von emotionaler Gelassenheit und kann sich während der Behandlung entspannen. Im nächsten Schritt kann er dann selbst durch achtsamere Bewegung und Loslassen immer wieder zu einer angenehm leichten Beweglichkeit kommen. Bei guter Ausbildung und Erfahrung kennt der Therapeut die dynamisch heilenden Zusammenhänge seiner Patienten und kann (relativ) gezielt die Selbstregulation anregen und fördern. Solange er diese im Blick hat, versteht er sein Handwerk ganzheitlich systemisch und salutogenetisch [3].

Bei organorientierten „spezifischen“ Interventionen hingegen hat der Therapeut nur das Symptom bzw. die Krankheit pathogenetisch im Blick, wie z. B. normalerweise ein Chirurg bei einer Operation oder ein Facharzt bei der Verordnung von Medikamenten zur Bekämpfung von Symptomen und Krankheiten.

Ein ganzheitlich systemischer Ansatz auf der Grundlage von Erkenntnissen der Chaosforschung, Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaften führt uns zu einem neuen Verständnis auch von A. T. Stills Anweisung für Osteopathen: „Der Arzt soll die Gesundheit finden, Krankheit kann jeder finden.“ [4] Gesundheit können wir dabei als attraktiven dynamischen und komplexen Soll-Zustand sehen – als Attraktor im Sinne der Chaos- und Komplexitätsforschung, die damit mehr oder weniger stabile End- oder Zwischenzustände (attraktive Ziele) von dynamischen Systemen bezeichnet.


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Gesunde Selbstregulation als übergeordnetes Regulationsprinzip

Wir unterscheiden z. B. Hitze und Kälte nach unserem inneren Maßstab, dem Soll-Zustand, einem Attraktor für unsere Temperaturregulation, ebenso einen Mangel oder ein Zuviel an Nahrung nach unserem Attraktor für unseren Stoffwechsel. Entsprechend gibt es Attraktoren als Maßstäbe für mitmenschliche Nähe, Gerechtigkeit und vieles andere. Das, was wir jeweils aktuell als Bedürfnis wahrnehmen, entspringt dem Abweichen des Ist-Zustands vom Attraktor, dem Soll-Zustand. Jeder Mensch muss also ein inneres Bild, ein implizites Wissen von seinen Attraktoren haben.

Der Begründer der Neuropsychotherapie Klaus Grawe [5] schreibt zu diesen regulierenden Maßstäben, dass das „oberste Regulationsprinzip“ der psychischen (und damit ganzheitlichen) Regulation die Stimmigkeit (Kohärenz) sei. In der Naturheilkunde wird gern von einem „inneren Arzt“ gesprochen, der wohl eine ähnliche Instanz meint ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Kooperative Selbst-/Kohärenzregulation. (© Theodor Dierk Petzold)

Diese inneren Attraktoren bestimmen maßgeblich, ob wir Umweltreize als aufbauend bzw. unbedeutend (neutral) oder bedrohlich erleben. Aus dieser Bewertung erfolgen die unterschiedlichen Aktivitäten wie Freude, Annäherung, Schreien, Abwehr, Anspannung der Muskulatur sowie die Aktivitäten der Hormondrüsen, des Verdauungstrakts, des Stoffwechsels usw. Die Informationen dieses inneren Attraktors [1] oder des „inneren Arztes“ wirken attraktiv wie imaginäre Magneten auf den Stoffwechsel und auf alle anderen Funktionen und sollen immer wieder Ganzheit, Integrität und Gesundsein herstellen. Der innere Attraktor ist auch verknüpft mit Soll-Erwartungen an die Umwelt. Wenn diese bedrohlich erscheint, springt unsere psychoneuroendokrine Stressregulation an.

Annäherung oder Abwendung

Je nachdem, ob die Umwelt als attraktiv bzw. aufbauend oder bedrohlich bewertet wird, wird das neuropsychische Annäherungs- bzw. das Abwendungs- oder Vermeidungssystem aktiviert [6], [7]. Aus der jeweils folgenden Motivation heraus entfalten wir

  • lustvolle, auf Annäherungsziele gerichtete Aktivitäten (dopamingesteuert, inneres Belohnungssystem) bzw.

  • angstgesteuerte Flucht-, Kampf- oder Schockreaktionen, wie Anspannung und Stress. Eine anhaltende Stressreaktion (z. B. auch nach einem Trauma bei einer posttraumatischen Belastungsstörung) ist ein wesentlicher Faktor für die Entstehung und den Verlauf von chronischen, auch psychischen Erkrankungen.

Laut Roth [8] war zu Beginn von Psychotherapien bei Gesundungsprozessen eine Zunahme von Botenstoffen sowie eine verstärkte Hirnaktivität zu beobachten, die dem neuro-motivationalen Annäherungssystem zugeordnet werden: Oxytocin, Endorphine, Dopamin, Serotonin sowie höhere Aktivitäten im Nucleus accumbens und im Frontalhirn. Durch diese Veränderungen werden auch die Schmerzempfindlichkeit und Ängste und insgesamt das Stresserleben vermindert.


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Unbewusste Bilanz oder bewusste Reflexion

Nach jeder Aktivität bilanzieren wir diese entweder unbewusst oder reflektieren bewusst:

  • Welche Antworten haben wir auf unser Verhalten bekommen?

  • Wie verlief die Interaktion?

Aus der Erfahrung können wir lernen. Körperwachstum sowie -symptome entstehen durch unsere Interaktionen, besonders auch des ZNS und der Gene (letztlich des impliziten Attraktors), mit der Umwelt ([Abb. 2]).

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Abb. 2 Dynamische Stressregulation. (© Theodor Dierk Petzold)

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Gesunde Selbstregulation in Kooperation

Die Entwicklung unseres Organismus und unserer Persönlichkeit vollzieht sich in einer Wechselbeziehung zwischen unserer Ganzheit und der Umwelt. Diese findet insbesondere in unserem ZNS und in unseren Genen funktionell und strukturell ihren Ausdruck [5], [8], [9]. So entscheiden v. a. unsere ganzheitlichen Weltbeziehungen und die Antworten des ZNS und letztendlich auch der Gene über unsere gesunde Entwicklung und Erkrankung. Die Gene z. B. antworten mit ihrer Aktivität auf Umwelteinflüsse (Epigenetik) – bereits während der Schwangerschaft. Deshalb scheint es angebracht zu sein, die Art und Weise der gesund aufbauenden „salutogenen“ Kooperationen von den krank machenden „pathogenen“ zu unterscheiden. Dabei spielen Distresserfahrungen in unserer Umwelt eine besondere Rolle.

In der Gebärmutter, bei der Geburt und in den ersten Lebensmonaten ist der kommunikative Zugang des Kindes zu seiner Umwelt überwiegend körperlicher Natur. Das bleibt auch noch die ganze Säuglingszeit so, wobei das Kind ab dem 3. Monat langsam den sozialen Kontakt zusätzlich über visuelle und akustische Reize auch auf eine Distanz hin ohne direkten Körperkontakt herstellen kann. Später lernt es, auch über Worte Beziehungen kooperativ zu gestalten [8].

Während der Schwangerschaft und Geburt sowie in den ersten Monaten werden tief greifende psychoneuroendokrino-epigenetische Kommunikations- und Verarbeitungsmuster ausgebildet, insbesondere für die Körperfunktionen. Die Selbstregulation des Kindes erwartet und erhofft, dass es durch die Bezugspersonen in seinem Streben nach Ganzheit, Heil-Sein, Wachsen, Entwicklung und Kohärenz unterstützt wird, wenn es die Dinge nicht bewältigt. Dabei handelt es sich anscheinend um angeborene Potenziale und Regeln zur Kooperation, die Michael Tomasello am Max-Planck-Institut für Entwicklungspsychologie in Leipzig erforscht hat [10], [11]. In seiner zusammenfassenden Definition einer menschlich-partnerschaftlichen Kooperation finden wir die wesentlichen Aspekte von aufbauender Beziehung überhaupt:

  • Kooperative Beziehung bedeutet ein gegenseitiges Eingehen aufeinander.

  • Sie dient einem gemeinsamen Zweck (Ziel, Sinn, einem Attraktor). Die Verbindung (Kohärenz) erfolgt durch eine gemeinsame Intentionalität (ein Teilen des Attraktors, auch durch Mitgefühl und Mitwissen – Mitwissen, Gewissen und Bewusstsein [Descartes] sind interessanterweise Übersetzungen des lateinischen Wortes „conscentia“ und bezeichnen womöglich unterschiedliche Aspekte von Mitwissen an Übersystemen).

  • In einer Beziehung haben die Beziehungspartner unterschiedliche Rollen (Aufgaben), die sie miteinander abstimmen.

  • Wenn einer der Kooperationspartner seine Rolle bzw. Aufgabe nicht hinreichend erfüllen kann, hilft der andere ihm dabei nach Kräften.


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Bedeutung für die therapeutische Praxis

Für Therapien mit ganzheitlichem Ansatz gehen wir davon aus, dass der Patient eine heilsame Erfahrung [12] sucht und dass diese der Attraktor jeder therapeutischen Sitzung ist bzw. sein sollte. Das bedeutet im Wesentlichen, auf das tiefe Bedürfnis nach Gesundheit und Stimmigkeit einzugehen, denn dies ist unser übergeordneter Attraktor [2], [3], [4], [5]. Daraus ergibt sich die gemeinsame Intentionalität, die Motivation für unsere Kooperation mit dem Patienten. Die tiefen Bedürfnisse unserer Patienten geben uns den Behandlungsauftrag – soweit wir diesen im Sinne von Stimmigkeit zustimmen sowie folgen wollen und können.

Merke

Heilende Erfahrung Der Attraktor für jede therapeutische Sitzung sollte nach John Scott eine „Healing Experience“ sein [12].

Schutzwälle statt Stimmigkeit

Häufig allerdings sind die tiefen Bedürfnisse, die Stimmigkeit des Patienten, hinter Schutzwällen wie Symptomen verborgen, die er im Laufe seines Lebens aufgebaut hat, um sich, seine Integrität und Ganzheit zu schützen. Diese Schutzwälle sind als Antworten auf erlebte Bedrohungen, also als Verletzungsfolgen, zu verstehen. Neuropsychologisch sind sie mit dem Abwendungssystem verknüpft. Sie verkörpern häufig eine Ambivalenz zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit/Überleben (einem Gefühl, sich schützen zu müssen im Abwendungs-/Stressmodus) und dem Bedürfnis nach Freude und Lust am Leben (Annäherungsmodus). Der gebildete Schutzwall schützt die Ganzheit des Lebens und behindert gleichzeitig die Bedürfniskommunikation. Als Behandler sind wir häufig mit diesem Problem doppelter Botschaften konfrontiert.

Ein Fallbeispiel: Ein 52 Jahre alter Lehrer kam mit einem anhaltenden und jetzt akut zum Schiefhals verschlimmerten HWS-Syndrom, Bluthochdruck und Wortfindungsstörungen in die Sprechstunde und wollte, dass ich seine Symptome „wegmache“. Im Verlauf wiederkehrender Konsultationen berichtete er, dass sich seine Eltern getrennt hätten, als er 4 Jahre alt war, und sein Vater seit dieser Zeit nichts mehr von ihm wissen wolle. Außer diesem Verlust hat der Patient ein Stück Mannrolle für die Mutter übernommen und diese in ihrem Leid getröstet. Diese Rolle als Mann und Helfer der Mutter in der Not war für ihn ein stressiges Kooperationsmuster. Später als Lehrer hat er aus dieser Rolle einen zwanghaften Perfektionismus entwickelt, zu dem ein ständiger Hartspann der Schulter- und Nackenmuskulatur ebenso gehörte wie die ebenso zwanghafte wie vergebliche Suche nach bestimmten Wörtern und der Bluthochdruck als Ausdruck inneren Stresses. Nachdem er dieses Beziehungsmuster reflektiert und körperbezogene Therapie erhalten hatte und die stressende Rolle als Mannersatz und Mutter-Retter loslassen konnte, verschwand der Bluthochdruck. Das HWS-Syndrom hat er bis jetzt weit über die Pension hinaus als Warnsignal für Stress gut im Griff.


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Eingehen auf den Patienten

Eingehen auf den Patienten bedeutet, dass wir seine Leiden („Blockaden“, innere „Schutzwälle“) wertschätzen als Versuch, eine Bedrohung abzuwenden und sich zu schützen (möglicherweise viele Jahre vor der Behandlung, wie z. B. bei Stress in der Familie, oder im Zeitraum der Symptomentstehung). Zudem ist es häufig hilfreich, den Patienten nach seinen Emotionen und Bedürfnissen zur Zeit des Krankheitsbeginns und kurz davor zu fragen, ebenso nach Bedürfnissen und Anliegen, die er damals oder auch jetzt nicht erfolgreich mitteilen konnte [2], [3]. Auf seine Bedürfnisse und Wünsche hin angesprochen, kann der Patient leichter wieder in seinen Annäherungsmodus an Stimmigkeit und Gesundheit kommen und seine Selbstregulation kann ihn wieder leichter zu seinem attraktiven Wohlbefinden führen. Ein solches Eingehen auf die Bedürfnisse des Patienten muss nicht immer verbal sein. Auch differenzierte körperliche Interventionen können bei Patienten als Kooperation auf einer impliziten, tief wirksamen Regulationsebene verstanden werden [14].


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Aufbauende heilsame Kooperation

Im Rahmen einer ganzheitlichen Vorgehensweise nähern wir uns hiermit schon einer spezifischeren Therapie an, weil wir differenziert an der Stelle der alten stressenden Kooperationsmuster, die zur Entstehung der Erkrankung geführt oder beigetragen haben, jetzt eine aufbauende heilsame Kooperation ermöglichen. Dieses Vorgehen wird noch spezifischer, wenn wir auch körperliche Symptome und Erkrankungen als Ausdruck von Bedürfnissen verstehen – letztendlich als Bedürfnis nach Stimmigkeit. Deshalb ist es für die Therapie so wichtig, „Gesundheit zu finden“, wie Still schon gesagt hat.

Wenn der Patient bei einem Therapeuten das Gefühl hat, dass dieser auf seine Bedürfnisse (die sich hinter einem Symptom verbergen) eingeht, ist dies der erste und womöglich schon wichtigste Schritt für eine gelingende Kooperation, für eine heilsame Erfahrung und damit für den Erfolg der Intervention. Hardliner der Schulmedizin mögen dann gern von einer Placebo-Wirkung sprechen, wie sie z. B. besonders stark bei einer Knie-OP auftreten. Doch meines Erachtens bringt die geschilderte Vorgehensweise eine klar begründete ganzheitliche therapeutische Wirkung, die viel mehr kultiviert werden sollte, weil damit eine wirklich gesunde Entwicklung der Menschen ohne erneute Verletzung vorangebracht wird.

Merke

Attraktor Der gemeinsame Attraktor von Patient und Therapeut ist die Gesundung des Patienten.


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Rollenaufteilung zwischen Patient und Therapeut

Die Rollen sind durch das therapeutische Setting bereits im Groben vorgegeben: Der Patient hat seine individuelle Eigenkompetenz (letztlich der autonomen Selbstregulation) und der Therapeut seine professionelle von der Kultur gestützte Fachkompetenz. Diese soll dabei der Gesundheit bzw. Stimmigkeit des Patienten, also dessen höchstem Attraktor, dienen ([Abb. 3]).

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Abb. 3 Bei einem gemeinsamen Attraktor kann ein kreativ-kooperativer Dialog entstehen. (© Theodor Dierk Petzold)

So erkennen wir bei genauer Betrachtung der Therapeut-Patient-Kooperation viele z. T. auch bedeutsame Unterschiede bezogen sowohl auf die Rollenverteilungen in verschiedenen Behandlungsmethoden als auch in der jeweils konkreten, ganz individuell einmaligen Kooperation. Wir können Unterschiede ausmachen, die z. B. hierarchische Aspekte betreffen (top-down oder horizontal-partnerschaftlich) oder die Prozessqualität der Kooperation (dialogisch-kokreativ, manipulativ u. a.) oder die Kommunikationskanäle (wie körperlich, emotional bzw. verbal-kognitiv) und die Rollenverteilung (Mutter, Vater, Kind, Lehrer sowie aktiv, passiv).

Da viele Erkrankungen ihren Ursprung im Familiensystem haben, ist eine Rollenverteilung im Sinne von Therapeut und geduldig-passivem Patienten insofern gelegentlich angebracht, da ein Patient mit einer passiven Rolle ggf. auf einer früh gelernten Beziehungsebene in die Kooperation einsteigt und damit offen für eine heilsame Erfahrung auf der Erlebensdimension wird, in der er ein pathogenes Kooperationsmuster gelernt hat. So bergen Therapiemethoden, die den Patienten relativ passiv halten, einerseits eine große Chance, dass der Betroffene auf einer tiefen frühkindlichen Beziehungsebene erreicht werden und dieser damit dort eine neue heilsame Erfahrung machen kann. Andererseits besteht die Gefahr, dass er in seinem alten passiven, heute dysfunktionalen Kooperationsmuster bestätigt wird, ohne eine Anregung und Unterstützung der weiteren Entfaltung seiner Autonomie zu bekommen.

Bei Patienten mit chronischen Erkrankungen ist es häufig angebracht, gewohnte Kommunikations- bzw. Kooperationsmuster zu unterbrechen und neue anzubieten, um die gesunde Selbstregulation anzuregen. Regulationsstarre bei „chronischen“ Erkrankungen ist als Folge von eingefahrenen Kooperationsmustern zu verstehen, die heute dysfunktional sind. Oft können erst dann eine dialogische kokreative Kommunikation und eine heilsame Erfahrung entstehen, wenn der Patient die Vorteile einer bedürfnisgerechten Aktivität in neuen Kommunikations- und Kooperationsmustern erfährt und lernt. Dazu sind der gemeinsame Blick auf die gemeinsame Intentionalität und ein Dialog, der sich von diesem Attraktor leiten lässt, förderlich [6], [7], [13].


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Heilsame Erfahrung als gelungene Kooperation

Es ist die Aufgabe des Therapeuten, mit dem Patienten in eine derart kooperative Beziehung zu kommen, dass sich dieser wieder seinem Kohärenz-Attraktor, dem „inneren Arzt“, annähern kann. Davon ausgehend, dass sich die basale, für die Körperfunktionen entscheidende Kommunikation der Kinder in den ersten Lebensmonaten über den Körperkontakt vollzog, kann später eine körperliche Kommunikation hilfreich sein, um dann dem erwachsenen Menschen die heilsame Erfahrung zu ermöglichen. Die körperliche Kommunikation erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Selbstregulation des Menschen an der Stelle berührt wird, an der das Stresserleben begonnen hat, wo Krankheiten bzw. vulnerable Muster entstanden sind, die durch spätere Stresserfahrungen getriggert werden konnten.

Bei der heilsam-kooperativen Erfahrung des Patienten durch Berührung [14] kommt es nicht nur auf die Technik und den Ort der Intervention an, sondern auch und ganz besonders auf die Einstellung des Behandlers: Wie weit kann er den Weg zum Attraktor, dem „inneren Arzt“ des Patienten bahnen – auch neurophysiologisch? Dabei ist von der Resonanz des Patienten auf den Behandler auszugehen: Ist dieser in einem angespannten, gestressten Zustand, erlebt der Patient (wie auch schon ein Säugling) das körperlich. Deshalb ist es wichtig – auch und gerade bei jeder Form von berührender Körperarbeit –, dass der Behandler in einer positiv gestimmten kooperativen Haltung ist und somit möglichst den inneren Weg zum Attraktor seines Patienten bahnen kann.


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Ganzheitlich kooperieren

Die Beziehungsmuster, welche die körperlichen Funktionen betreffen, sind auch häufig mit Emotionen und anderen Gefühlen und/oder Bildern und Gedanken verknüpft. Denn alle Beziehungserfahrungen werden in der individuellen Ganzheit vollzogen, auch wenn sie jeweils nur über einen Zugang wie z. B. den Körper, die Stimme oder über Worte kommuniziert wurden. Je früher stark bedrohliche (störende, stressige) Beziehungserfahrungen gemacht wurden, desto größer ist die Gefahr, dass sie im Laufe des Lebens zu körperlichen Reaktionen führen. Und je mehr diese Beziehung in der distanzierteren, verbal-mentalen Dimension erfahren wird, desto eher bleiben auch die Auswirkungen im Bereich des Denkens. Trotzdem erreichen auch Worte die Ganzheit des Individuums.

Aus diesem Verstehen heraus, das sowohl mit den Erkenntnissen der Neurowissenschaften als auch der Systemtheorie übereinstimmt, scheint es zutreffend und sinnvoll zu sein, die Ganzheit und ihre Kohärenz als Seele/Psyche zu bezeichnen. Die Information des Attraktors wäre dann als eine imaginäre Information der Psyche zu sehen, als der heilende Aspekt der Seele („innere Arzt“), der immer wieder bemüht ist, die Ganzheit und ihre stimmige Verbundenheit in einem dynamischen Prozess herzustellen.

Der Blick auf den „inneren Arzt“/Attraktor regt das übergeordnete Kohärenzstreben des Gehirns an, wahrscheinlich besonders im präfrontalen Kortex. Er wird v. a. durch ein Ansprechen und Aktivieren von rundum stimmigen Zielen angeregt, z. B. auch durch Imagination einer Wunschlösung, oder die Frage, wie der Patient sich fühlt und was er tun möchte, wenn er wieder gesund und das Symptom weg sei. Durch diese Interventionen wird die innere Verknüpfung mit dem Attraktor wieder gefördert oder sogar hergestellt. Dies ist die Grundlage für das Funktionieren der Selbstregulation und Selbstheilung.


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Fazit für eine therapeutische Kooperation

  1. Wir schenken dem Patienten grundsätzlich das Vertrauen und die Hoffnung, dass seine Selbstregulationsfähigkeit (geleitet von seinem „innerem Arzt“/Attraktor) ein großes Heilungspotenzial hat, und wollen ihm bei seiner Selbstregulation helfen, gesünder zu werden und sich wohlerzufühlen. Hierin besteht die gemeinsame Intentionalität.

  2. Wir gehen auf seine Beschwerden, Symptome, Emotionen und Nöte und noch mehr auf die dahinter verborgenen gesunden Bedürfnisse und Anliegen ein und nehmen diese mitfühlend ernst.

  3. Die Rollen beider Kooperationen miteinander sind klar oder wir klären diese: Was ist die Aufgabe des Patienten (einschließlich seiner Zusammenarbeit mit seinem „inneren Arzt“, seinem Fühlen von Stimmigkeit usw.)? Was ist die Rolle des Therapeuten, z. B. für Sicherheit sorgen, den Körper oder das Bewusstsein an seine Heilungsfähigkeit, Attraktoren, Bedürfnisse und seine Ressourcen zu erinnern, innere Verknüpfungen zur Entspannung anregen, die dem Organismus im Stresserleben abhandengekommen sind?


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Autorinnen/Autoren

Theodor Dierk Petzold

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ist Allgemeinarzt mit Schwerpunkt Naturheilverfahren, Coach und Supervisor, Lehrbeauftragter an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), zudem Entwickler und Ausbilder der Salutogenen Kommunikation SalKom® und des zertifizierten Stressmanagementtrainings TSF, Referent zu Kommunikation und Salutogenese sowie Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen.

  • Literatur

  • 1 Petzold TD. Schöpferische Kommunikation. Bad Gandersheim: Gesunde Entwicklung; 2017
  • 2 Petzold TD. Gesundheit ist ansteckend – Praxisbuch Salutogenese. München: Irisiana; 2013
  • 3 Petzold TD. Salutogene Kommunikation und Selbstregulation. Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation 2013; 2 (92) 131-145
  • 4 Hartmann C. Das große Still-Kompendium. Pähl: Jolandos; 2002: 179
  • 5 Grawe K. Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe; 2004
  • 6 Petzold TD. Für eine gute Arzt-Patient-Kooperation ist die gemeinsame Intentionalität entscheidend. ZFA Z Allg Med 2015; 10: 6-10
  • 7 Petzold TD. Arzt-Patienten-Kooperation aus Sicht der Salutogenese – Fokus auf die Genesung – nicht auf die Erkrankung!. Der Allgemeinarzt 2017; 11: 64-68
  • 8 Roth G. Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Stuttgart: Klett-Cotta; 2007
  • 9 Fuchs T. Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Stuttgart: Kohlhammer; 2010
  • 10 Tomasello M. Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp; 2010
  • 11 Tomasello M, Hamann K. Kooperation bei Kleinkindern. Max-Planck-Gesellschaft Jahrbuch 2011/2012.
  • 12 Scott JG. Complexities of the consultation. In: Sturmberg JP, Martin CM. Handbook of systems and complexity in health. New York: Springer; 2013: 257-277
  • 13 Petzold TD. Stimmigkeit im therapeutischen Resonanzraum. Der Mensch 2013; 47: 48-51
  • 14 Petzold TD. Berührungsräume. Der Mensch 2013; 47: 16-22

Korrespondenzadresse

Theodor Dierk Petzold
Barfüßerkloster 10
37581 Bad Gandersheim

  • Literatur

  • 1 Petzold TD. Schöpferische Kommunikation. Bad Gandersheim: Gesunde Entwicklung; 2017
  • 2 Petzold TD. Gesundheit ist ansteckend – Praxisbuch Salutogenese. München: Irisiana; 2013
  • 3 Petzold TD. Salutogene Kommunikation und Selbstregulation. Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation 2013; 2 (92) 131-145
  • 4 Hartmann C. Das große Still-Kompendium. Pähl: Jolandos; 2002: 179
  • 5 Grawe K. Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe; 2004
  • 6 Petzold TD. Für eine gute Arzt-Patient-Kooperation ist die gemeinsame Intentionalität entscheidend. ZFA Z Allg Med 2015; 10: 6-10
  • 7 Petzold TD. Arzt-Patienten-Kooperation aus Sicht der Salutogenese – Fokus auf die Genesung – nicht auf die Erkrankung!. Der Allgemeinarzt 2017; 11: 64-68
  • 8 Roth G. Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Stuttgart: Klett-Cotta; 2007
  • 9 Fuchs T. Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Stuttgart: Kohlhammer; 2010
  • 10 Tomasello M. Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp; 2010
  • 11 Tomasello M, Hamann K. Kooperation bei Kleinkindern. Max-Planck-Gesellschaft Jahrbuch 2011/2012.
  • 12 Scott JG. Complexities of the consultation. In: Sturmberg JP, Martin CM. Handbook of systems and complexity in health. New York: Springer; 2013: 257-277
  • 13 Petzold TD. Stimmigkeit im therapeutischen Resonanzraum. Der Mensch 2013; 47: 48-51
  • 14 Petzold TD. Berührungsräume. Der Mensch 2013; 47: 16-22

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Abb. 1 Kooperative Selbst-/Kohärenzregulation. (© Theodor Dierk Petzold)
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Abb. 2 Dynamische Stressregulation. (© Theodor Dierk Petzold)
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Abb. 3 Bei einem gemeinsamen Attraktor kann ein kreativ-kooperativer Dialog entstehen. (© Theodor Dierk Petzold)