Soll, sollte, kann, sollte nicht, soll nicht – das sind die Empfehlungen der NVL.
Im Herbst 2018 veröffentlichten die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung
und die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
(AWMF) die 3. Auflage der Nationalen VersorgungsLeitlinie Asthma [1]. Sie ist einsehbar unter: www.leitlinien.de/nvl/asthma.
Asthma gehört zu den häufigsten Krankheiten weltweit. Die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) geht von circa 235 Millionen erkrankten Menschen aus. Sie betont, dass Asthma
unterdiagnostiziert und dadurch „untertherapiert“ ist, obwohl die Krankheit belastend
für Patienten sein kann und deren Aktivitäten einschränkt [2], [3]. Im Rahmen der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell 2014“ befragte das Robert-Koch-Institut
knapp 24.000 Menschen zu ihrem Gesundheitsverhalten und -zustand.
Dabei gaben 6,2 % der Teilnehmer an, dass bei ihnen in den letzten 12 Monaten Asthma
bestand. Frauen sind mit 7,1 % häufiger betroffen als Männer mit 5,1 % [4].
Die Autoren und Herausgeber der NVL Asthma möchten dazu beitragen, folgende Ziele
zu erreichen [1]:
-
Asthma präziser zu definieren und die Diagnostik zu aktualisieren
-
die bestmögliche Lebensqualität und soziale Teilhabe für Menschen mit Asthma zu sichern
-
Selbstmanagement- und strukturierte Schulungsprogramme zur Förderung der Krankheitsbewältigung
bei Patienten mit Asthma zu implementieren
-
eine koordinierte Versorgung in Notfallsituationen und eine koordinierte Langzeitversorgung
der Patienten zu optimieren
Laut NVL soll Patienten Atemphysiotherapie angeboten werden.
Wie bei allen Nationalen VersorgungsLeitlinien handelt es sich bei der NVL Asthma
um eine „systematisch entwickelte Entscheidungshilfe über die angemessene ärztliche
Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen im Rahmen der strukturierten
medizinischen Versorgung und damit um eine Orientierungshilfe im Sinne von ‚Handlungs-
und Entscheidungsvorschlägen‘, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann
oder sogar muss [5]“. Ob Physiotherapeuten und Ärzte einer Leitlinienempfehlung folgen oder nicht, hängt
immer auch von den individuellen Gegebenheiten und Präferenzen der Patienten und von
den verfügbaren Ressourcen ab [5].
Explizit richtet sich die NVL Asthma auch an nicht ärztliche Fachberufe, wie Physiotherapeuten,
Apotheker und natürlich die Kostenträger. Vertreter von Physio Deutschland (ZVK),
der Deutschen Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie der
Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften beteiligten sich ebenso an
der Leitlinienaktualisierung wie Vertreter der Dachverbände der Selbsthilfeorganisationen.
Für die Patienten entwickelte die Arbeitsgruppe schon für die Vorauflage der NVL Asthma
eine spezielle Patientenleitlinie, die derzeit überarbeitet wird und zahlreiche Informationen
enthält, die im Internet frei verfügbar sind [6] (LEITLINIENBASIERTE PATIENTENINFORMATIONEN).
Internet – Leitlinienbasierte Patienteninformationen
Folgende im Rahmen der NVL Asthma entwickelte Informationen sind abrufbar unter:
www.leitlinien.de/nvl/asthma
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Patientenleitlinie „Asthma“
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Kurzinformation „Asthma – wenn Atmen schwerfällt“
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Patientenblatt „Allergisches Asthma und Tierallergie – Muss ich das Haustier weggeben?“
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Patientenblatt „Inhaliergeräte bei Asthma – Spray, Pulver oder Vernebler – Welche
Unterschiede gibt es?“
-
Patientenblatt „Langzeitbehandlung bei Asthma – Warum Kortison-Spray wichtig ist“
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Patientenblatt „Warum es hilft, aufs Rauchen zu verzichten“
-
Patientenblatt „Wechsel des Inhaliergerätes – Was tun, wenn ich ein Inhaliergerät
bekomme, das ich nicht kenne?“
Physiotherapie in der NVL Asthma
Insgesamt empfiehlt die neue Leitlinie körperliches Training und Atemphysiotherapie
häufiger als die Vorgängerversion. Darum geht es im Abschnitt „Nicht-medikamentöse
Therapie“. Das Kapitel beginnt mit zwei generellen Statements mit starker positiver
Empfehlung, erkennbar am „soll“:
-
„Die medikamentöse Therapie des Asthmas soll regelmäßig durch nicht-medikamentöse
Therapiemaßnahmen ergänzt werden.“
-
„Selbsthilfetechniken bei Atemnot sollen allen Patienten mit Asthma im Rahmen von
Schulungen, Lungensport, physiotherapeutischen oder rehabilitativen Interventionen
vermittelt werden.“
Die NVL stellt besonders durch das zweite Statement das Selbstmanagement der Patienten
in den Vordergrund. Therapeuten können und sollten hier in meinen Augen eine wesentliche
Rolle übernehmen: Bei entsprechender Ausbildung können sie Patienten organisiert schulen,
diese zu körperlicher Aktivität und Selbstmanagement motivieren, mit der Lizenz „Übungsleiter
Rehabilitationssport – Profil Innere Medizin“ Lungensportgruppen leiten [7] und auf das Angebot der Selbsthilfegruppen hinweisen (ANSPRECHPARTNER FÜR PATIENTEN,
S.14).
Die NVL unterscheidet zwischen Soll- und Sollte-Empfehlungen.
Die Leitliniengruppe legt Wert darauf, dass Patienten Selbsthilfetechniken bei Atemnot,
wie atemerleichternde Körperstellungen oder die dosierte Lippenbremse, beherrschen
[1]. Physiotherapeuten sind auch dafür die richtigen Ansprechpartner. Die NVL nennt
explizit die Physiotherapie jedoch nur in den Kapiteln Atemphysiotherapie und Rehabilitation
[1]. Die Soll- und Sollte Empfehlungen der NVL sind im Folgenden zusammengefasst.
Schulung (soll)
Die NVL empfiehlt jedem Patienten mit Asthma und der Indikation zu einer medikamentösen
Langzeittherapie die Teilnahme an einem strukturierten, evaluierten, zielgruppenspezifischen,
zertifizierten und fortlaufend qualitätsgesicherten Schulungsprogramm. Um Schulungen
für Patienten zu geben, müssen Physiotherapeuten ein Trainerzertifikat für Asthma
und COPD erwerben. Die Deutsche Atemwegsliga e. V. und andere Anbieter bieten Train-the-Trainer-Seminare
an, die Physiotherapeuten absolvieren können, um dieses Zertifikat zu erwerben [8].
Körperliches Training (soll)
Der behandelnde Arzt soll die Patienten regelmäßig zu körperlichem Training motivieren,
um ihre Belastbarkeit und Lebensqualität zu verbessern und die Morbidität zu verringern.
In die Empfehlung flossen Studien zu allgemeinem körperlichem Training, Yoga, Wassergymnastik
und Schwimmen ein. Die Form des körperlichen Trainings lässt sich laut NVL nicht eingrenzen.
Wichtig sei es, die Patienten in ein normales sportliches Umfeld zu integrieren und
ihnen die Teilnahme an Sportgruppen anzubieten. Lungensportgruppen könnten vor allem
für ältere und/oder schwerer erkrankte Patienten eine Option sein. Voraussetzung für
sportliche Aktivität sei immer eine gut eingestellte medikamentöse Therapie [1].
Wie schon bei der Besprechung der NVL unspezifischer Kreuzschmerz hervorgehoben (PHYSIOPRAXIS
4/18, S. 14) wäre es meiner Meinung nach erstrebenswert, wenn auch Leitlinien verdeutlichen,
dass Physiotherapeuten die optimalen Ansprechpartner für Beratung und Motivation zu
körperlichem Training sind. Denn sie sind prädestiniert dafür, diese Aufgabe zu übernehmen.
Sie könnten das schmale Zeitkontingent der Ärzte entlasten und in 1–2 Einheiten die
Patienten adäquat in Bezug auf körperliches Training beraten. Die NVL geht in meinen
Augen auf diesen Aspekt leider nicht ein, die Beratung und das motivierende Gespräch
obliegen den Ärzten. Im Sinne einer optimalen Patientenversorgung und einer interdisziplinären
Zusammenarbeit wäre es eine sinnvolle Zukunftsvision, wenn die Leistung „Beratung
durch Physiotherapeuten“ als Chance für alle begriffen werden würde.
Atemphysiotherapie (soll/sollte)
Die Leitlinie empfiehlt die Atemphysiotherapie (AT) mit bestimmten Einschränkungen.
Das liegt an der nicht eindeutigen Evidenzlage und an der niedrigen Datenqualität.
Patienten, die neben Asthma eine dysfunktionale Atmung im Sinne einer Abweichung des
physiologischen Atemmusters aufweisen, haben laut NVL ein erhöhtes Morbiditätsrisiko
und können daher möglicherweise besonders von physiotherapeutischen Maßnahmen profitieren.
Für Patienten, bei denen Angst eine Rolle spielt, wird AT ebenfalls empfohlen, allerdings
nur mit einer „Sollte-Empfehlung“. Sie reagieren zum Beispiel auffällig ängstlich
bei Atemnot oder vermeiden aus Angst vor Atemnot bestimmte Situationen. Die „Sollte-Empfehlung“
für AT gilt auch für Patienten, die zähen Schleim produzieren (Dyskrinie) oder/und
das Sekret schlecht abhusten können.
Psychosoziale Aspekte (soll)
Psychosoziale Beeinträchtigungen im privaten und beruflichen Bereich können laut NVL
den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen. Daher rät die NVL, die psychische Situation
und das soziale Umfeld der Patienten in die Therapie miteinzubeziehen.
Das heißt für Physiotherapeuten: In der Therapie sollten sie Umweltfaktoren, personenbezogene
Faktoren und Einschränkungen oder Ziele auf Partizipationsebene konsequent in der
Anamnese ansprechen und entsprechend adressieren.
Kontrolle des Körpergewichts (soll)
Laut NVL können Patienten die Asthmakontrolle verbessern, indem sie gegebenenfalls
gewichtsreduzierende Maßnahmen durchführen. Physiotherapeuten könnten hier eine unterstützende
Rolle für die Patienten spielen, indem sie diese im Sinne einer nachhaltigen Gewichtsreduktion
zu körperlicher Aktivität motivieren und mit ihnen individuelle, patientenzentrierte
Trainingspläne erstellen.
Rehabilitation (soll)
Ärzte sollen Patienten mit Asthma eine pneumologische Rehabilitation anbieten, wenn
trotz adäquater ambulanter ärztlicher Betreuung beeinträchtigende körperliche, soziale
oder psychische Krankheitsfolgen bestehen und diese die Teilhabe am normalen beruflichen
und privaten Leben behindern. Das ist laut NVL auch dann der Fall, wenn notwendige
nichtmedikamentöse Therapieverfahren (Schulung, Atemphysiotherapie, Physiotherapie)
ambulant nicht im erforderlichen Ausmaß erfolgen können. Meiner Ansicht nach könnte
der momentan bestehende Fachkräftemangel dieses Defizit an ambulanter Versorgung durchaus
verschärfen.
Fazit
Schön ist, dass die NVL Asthma die Physiotherapie in ihre Empfehlungen bereits als
unverzichtbar miteinbindet. Wünschenswert wäre, dass die beratende Funktion von Physiotherapeuten
in Zukunft noch stärker in der Versorgung von Patienten wertgeschätzt wird. Dorothea
Pfeiffer-Kascha, Physiotherapeutin und Vorsitzende der AG AT des ZVK, die an der Erstellung
der NVL beteiligt war, sieht einen immens hohen Bedarf an Physiotherapeuten, die Atemphysiotherapie
anbieten. Von Ärzten werde sie immer wieder gefragt, wo insbesondere ambulant tätige
Physiotherapeuten mit speziellem Wissen in der AT zu finden seien. Die Fortbildungsreihe
„Atemphysiotherapie“ von Physio Deutschland werde zwar durchaus in hohem Maße nachgefragt,
die qualifizierten Therapeuten können jedoch den zunehmenden Bedarf bereits jetzt
schon nicht decken.
Die beratende Funktion von Therapeuten sollte gestärkt werden.
Patientenverbände – Ansprechpartner für Patienten