retten! 2019; 8(05): 372-375
DOI: 10.1055/a-0893-2251
Mein Einsatz
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Einsatz beim Amoklauf in Winnenden

Nina Drexelius
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Publication Date:
05 December 2019 (online)

Der Tag, an dem ein Amokläufer in Winnenden 15 Menschen und später sich selbst tötete, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis einer ganzen Nation eingebrannt. Für die Angehörigen der Todesopfer, die Verletzten und die Einsatzkräfte, die an diesem Tag Dienst leisteten, geht seine Bedeutung über das allgemeine Entsetzen hinaus. Steffen Schweiker hat in Winnenden die Notfallseelsorge am Einsatzort koordiniert.

Kommentar

von Rico Kuhnke, Schulleiter der DRK-Landesschule Baden-Württemberg in Pfalzgrafenweiler, Notfallsanitäter und Mitherausgeber von retten!

Bereits 1871 wird in Saarbrücken von einem Amoklauf an einer Schule berichtet. Während bei diesem ersten Amoklauf an einer Schule „nur“ 2 Verletzte zu beklagen waren, stieg die Dramatik in der neueren Zeit mit dem Amoklauf 2002 am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt und den tragischen Ereignissen in Winnenden.

Die Schilderungen Steffen Schweikers von seinen Erlebnissen berühren und geben einen Einblick in die Situation an der Albertville-Realschule beim Amoklauf am 11. März 2009. Der Tag für den Rettungsdienstleiter beginnt unspektakulär – was sich innerhalb von wenigen Stunden ändert. Sehr eindrücklich beschreibt er diesen Bruch und die Situation am Einsatzort: das Interesse der Medien, die Unmengen von Menschen – Schüler, Angehörige, Freunde, Nachbarn, aber auch Einsatzkräfte der Polizei und des Rettungsdienstes. Es ist kaum möglich, einen ruhigen Raum für das Überbringen der Todesnachrichten und für die Betreuung der Betroffenen zu finden.

Schweiker beschreibt die Problemstellungen aus der Sicht der Notfallseelsorge und schildert, wie das Team gemeinsam den Ausnahmeeinsatz bewältigt hat. Damit leistet er einen wertvollen Beitrag zur kritischen Reflexion des Umgangs mit belastenden Einsätzen. Im Kontrast zu anderen Mein-Einsatz-Berichten, die sich in erster Linie mit medizinischen oder einsatztaktischen Fragestellungen beschäftigen, liegt hier der Fokus auf der bedrückenden Lage vor Ort, den damit verbundenen Schicksalen und der eigenen Betroffenheit, für die im Einsatz kaum Zeit bleibt.

Nach dem Einsatz bleibt ein unwirkliches Gefühl zurück. Schweiker sucht das Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen. Als er erste unklare Symptome bei sich entdeckt, holt er sich professionelle Unterstützung. Er stellt fest, dass er nicht traumatisiert ist, und findet für sich einen Weg bzw. ein Ritual, den Erlebnissen einen Platz in seinem Leben einzuräumen.

Leider ist dieser achtsame Umgang mit sich selbst bei Einsatzkräften noch nicht die Regel. Es gilt häufig noch als Schwäche, wenn einen Einsatzerlebnisse beschäftigen oder gar belasten. Erste Belastungsreaktionen werden dann schnell verdrängt. Dieses Verhalten unterstützt die Manifestation einer anfangs normalen Reaktion auf ein belastendes Ereignis und fördert das Ausbilden einer pathologischen PTBS (Posttraumatischen Belastungsstörung). Es bleibt zu wünschen, dass Einsatzkräfte in der Zukunft achtsamer mit sich und den Kolleginnen und Kollegen umgehen. Dieser Bericht macht Mut dazu.

Literatur

[1] „Expertenkreis AMOK – Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen am 11. März 2009“, Landesregierung Baden-Württemberg

[2] „Elf Tage im März – Als Einsatzleiter in Winnenden“, Johannes Stocker, SCM Hänssler Verlag ISBN 978-3-7751-5404-8