Erscheinungsformen der Vernachlässigung
Zusatzinfo
Anmerkung der Autoren
Neben „andauernden“ und „wiederholten“ Ereignissen können durchaus auch einmalige extreme Situationen auftreten, bei denen z. B. aufgrund mangelnder Aufsicht ein Kind ertrinken oder aus dem Fenster fallen kann oder im Sommer im heißen Auto „vergessen“ wird, was dann sofort zu einer akuten Vernachlässigung mit unter Umständen Todesfolge führen kann.
Überblick
Erscheinungsformen von Vernachlässigung
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körperliche Vernachlässigung
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medizinische Vernachlässigung
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erzieherische Vernachlässigung
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emotionale/seelische Vernachlässigung
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Vernachlässigung der Aufsichtspflicht
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Aussetzung in eine gewalttätige Umgebung
Die Einteilung der Vernachlässigungsformen ist zunächst eine akademische. Sie hilft den Akteuren, die eine Vernachlässigung wahrnehmen, bei der Einordnung und Sortierung der eigenen Gedanken zum Geschehen und kann dazu beitragen, dass die Schwere der Auswirkungen auf die weitere Entwicklung klarer wird.
In der Realität treffen wir selten reine Formen an, viel häufiger liegen Vernachlässigungen in mehreren Bereichen vor. Das muss dann auch so in die nachfolgende Einschätzung einfließen, damit man zu einer Handlungsoption und zu einem Sicherheitskonzept kommen kann.
Körperliche Vernachlässigung
Unter dem Oberbegriff der körperlichen Vernachlässigung finden wir das Verhalten der Sorgeberechtigten, das die Bedürfnisse eines Kindes nach altersentsprechender Nahrung, nach Obdach, einem Schlafplatz, nach körperlicher Unversehrtheit und Schmerzfreiheit, aber auch nach witterungsangemessener Kleidung und nach Hygiene nicht erfüllt [4].
Die Hinweiszeichen auf eine Vernachlässigung in diesem Bereich können sehr vielfältig sein.
Zunächst wird die körperliche Gesamtsituation inkl. der somatischen Daten (Größe, Gewicht, BMI und Kopfumfang) zu beurteilen sein. Gibt es dabei in den Perzentilen auffällige Perzentilensprünge, die nicht durch eine organische Erkrankung erklärt werden können, muss man sich auch über Vernachlässigung Gedanken machen.
Dabei sollte man nicht nur an die Unterernährung oder ausgeprägte Fehlernährung mit den dazu gehörigen Mangelerscheinungen (klassische Eisenmangelanämie bei reiner Milchernährung von Kleinkindern, Vitamin-D-Mangel-Rachitis, Mangelerscheinungen bei rein veganer Ernährung ohne Ausgleich der essenziellen Nährstoffe) denken, auch eine Adipositas per magna, eventuell ebenfalls einhergehend mit einer Fehlernährung, kann ein Zeichen für eine Vernachlässigung sein.
Des Weiteren kann die Beobachtung des Essverhaltens wichtige Aufschlüsse in Bezug auf einen Vernachlässigungsverdacht geben. Wenn Kinder alles Essbare, was sie bekommen können, an sich reißen und in sich hineinschlingen, so ist dies sicherlich auffällig und sollte hinterfragt werden.
Immer wieder kann beobachtet werden, dass Kinder keine saisonal angepasste Kleidung oder zu kleine Schuhe tragen, was dann zu vermehrten Infekten bzw. zu Druck- und Scheuerstellen an den Füßen führen kann. Ungepflegte, abgerissene Fingernägel und eine starke Milchzahnkaries bei Kindern können auf eine Vernachlässigung hindeuten. Aber ein kariöses Milchzahngebiss oder eine schnullerbedingte Kieferfehlstellung alleine reichen noch nicht aus, um die Diagnose Vernachlässigung zu stellen, sie können lediglich Hinweiszeichen sein.
Merke
Es kommt immer darauf an, möglichst viele Bereiche des körperlichen Zustands eines Kindes zusammen mit dem jeweiligen Kontext genau wahrzunehmen und zu beschreiben, um dann bei einer Häufung von Auffälligkeiten eine Vernachlässigung als Ursache in Betracht zu ziehen.
Alte Schmutzreste in den Hautfalten oder im Nabel, stark riechende Kleidung (z. B. nach Rauch oder Schweiß) bei Sorgeberechtigten und Kind sollten genauso wahrgenommen werden wie gehäufte Luftwegsinfekte (nicht gerade im ersten Kitajahr) oder immer wiederkehrende, schlecht abheilende Mund- und Windelsoorerkrankungen.
Es können stark verschmutzte oder verschlissene Funktionsutensilien auffallen, z. B. bei den Schulsachen in Form von nicht benutzbaren Buntstiften, dem Fehlen eines Federmäppchens oder ähnlichem, im klinischen Bereich im Fehlen von Zahnbürste oder Kamm/Bürste.
Der 4 Monate alte Alexander wurde aufgrund von Trinkschwierigkeiten und stagnierender Gewichtszunahme von der Kinder- und Jugendärztin mit seiner Mutter in unsere Baby-Sprechzeit ins Sozialpädiatrische Zentrum geschickt. Die u. a. mit dem Messen und Wiegen des Jungen betrauten Kinderkrankenschwestern berichteten bereits, dass der Junge in einem schlechten Pflegezustand sei, insbesondere sei der strenge Geruch beim Ausziehen der vollen (nur mit Urin gefüllten) Windel aufgefallen. In unserer Sprechstunde berichtete dann die Mutter (mit dem Jungen auf dem Arm), dass die Kinder- und Jugendärztin unbedingt die Kontrolle wollte, sie selbst hätte eigentlich keine Probleme mit Alexander.
Im Rahmen der von der Psychologin vorgeschlagenen Spielsituation legte die Mutter ein Spielzeug mit den Worten „Komm Alexander, spiel mal“ vor ihren (auf der Matte in Bauchlage befindlichen) Sohn und schaute sich im Untersuchungszimmer um. Alexander wiederum schaute an der Mutter vorbei zur Psychologin und nahm Blickkontakt mit ihr auf. Als diese den Jungen daraufhin ansprach, lautierte und lächelte Alexander.
Medizinische Vernachlässigung
Im Bereich der medizinischen Vernachlässigung finden wir häufig eine Vernachlässigung der Gesundheitsfürsorge, die sich bei Durchsicht von Früherkennungsheft und eventuell auch von Mutterpass und Impfbuch leicht nachweisen lässt. Hinweiszeichen können sein, dass häufiger die durchführenden Kinderärzte/-ärztinnen gewechselt haben, ohne dass ein Wohnortwechsel stattgefunden hat (Kinderärztehopping). Fehlende Vorsorgeuntersuchungen können einen Hinweis darauf geben, dass in der fälligen Zeit andere familiäre Belastungen die Durchführung der Untersuchung verhindert haben, obwohl diese gesetzlich verpflichtend ist. Das kann zum Anlass genommen werden, nach Belastungen zu fragen und über Hilfen nachzudenken, ohne dass den Betroffenen gleich ein Vorwurf gemacht werden muss.
Wenn Kinder, die zunächst geimpft wurden, dann keine weiteren Impfungen oder Auffrischungen erhalten haben, sollte nach den Gründen gefragt werden.
Bei Kindern mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung ist die Anforderung an die Sorgeberechtigten unter Umständen durch die zusätzliche Pflege oder Verantwortung so groß, dass sie dieser nicht mehr adäquat nachkommen können.
Vernachlässigungen aus Erschöpfungssituationen heraus sind nicht selten und müssen aufmerksam wahrgenommen und begleitet werden.
Wenn Sorgeberechtigte eine bereits gestellte Diagnose verweigern und nicht annehmen können, kann auch daraus eine Vernachlässigung des medizinisch Notwendigen erfolgen.
Spätestens in der Pubertät kommt bei vielen chronisch erkrankten Jugendlichen der Zeitpunkt, an dem sie sich gegen die Erkrankung, die notwendigen Therapien und eventuellen Einschränkungen des Lebensstils auflehnen. Dann wird es für die betreuenden Sorgeberechtigten und Ärzte schwierig, die Jugendlichen „bei der Stange zu halten“ und zur Fortsetzung der Therapien zu bewegen. Es muss geklärt werden, wer in der Familie die Verantwortung für die Therapien übernimmt und trägt. Dies hängt sehr stark von der emotionalen Reife der betroffenen Jugendlichen ab (s. [Fallbeispiel 3]).
Wenn bei Kindern Entwicklungsverzögerungen oder Entwicklungsstörungen festgestellt werden, so müssen die Eltern davon überzeugt werden, dass dies dann auch Therapien notwendig machen kann. Werden diese Therapien (Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie u. a.) nicht durchgeführt, ist von einer medizinischen Vernachlässigung zu sprechen, wenn dadurch dem Kind verweigert wird, das Entwicklungspotenzial, das in ihm steckt, zu wecken und zur Entfaltung zu bringen.
Auch ein „Vergessen“ der Sorgeberechtigten, ihr Kind beim Augenarzt oder HNO-Arzt vorzustellen, bei berechtigtem Verdacht auf eine Seh- oder Hörstörung, ist eine Form von medizinischer Vernachlässigung.
Zunehmend kommt auch in das Bewusstsein, dass ein adäquater Sonnenschutz für Kinder wichtig und Nachlässigkeiten nicht tolerabel sind.
In allen Bundesländern gibt es eine Schuleingangs- oder Einschulungsuntersuchung, welche die Sorgeberechtigten mit ihren Kindern wahrnehmen müssen. Es ist je nach Bundesland unterschiedlich geregelt, in welchem Abstand zur Einschulung diese stattfindet und welche Konsequenzen bei der Verweigerung der Untersuchung entstehen. Ein Hinweiszeichen auf Vernachlässigung kann das Fehlen dieser Untersuchung ebenfalls sein.
Kognitive und erzieherische Vernachlässigung
Um auf das „eigentliche“ Problem einzugehen, wurde sodann die Trinksituation (die Mutter fütterte den Jungen mit einem Milchpräparat) beobachtet. Auf dem Arm/Schoß der Mutter konnte Alexander unter der Beobachtung der Mutter den Sauger gut annehmen und trank zügig. Die Mutter versuchte, ein Gespräch mit der Psychologin zu beginnen. Als Alexander hustete, sprach sie weiter, schaukelte ihn kurz nebenbei (ohne zu schauen, was los ist und ihm eine Pause zu ermöglichen). Erst als Alexander zu weinen begann und versuchte, sich aus seiner Position heraus wegzudrehen, reagierte sie und legte ihn in den Kinderwagen mit dem Kommentar „Jetzt mag er nicht mehr, die andere Hälfte der Flasche mache ich ihm später nochmal warm …“.
Hier zeigen sich Hinweise auf eine körperliche Vernachlässigung (Körpergeruch, übervolle Windel), eine emotionale Vernachlässigung (Auffälligkeiten in der Mutter-Kind-Interaktion, mangelndes feinfühliges Verhalten der Mutter in Bezug auf die Bedürfnisse des Kindes in diesem Alter (ohne adäquate Unterstützung im Spiel, keine altersentsprechender unterstützender Rahmen in der Füttersituation).
Als weitere Schritte wurde eine Familienhilfe und eine entwicklungspsychologische Beratung zur Verbesserung der Mutter-Kind-Interaktion in den verschiedenen Alltagsbereichen über das Jugendamt installiert und engmaschigere Verlaufskontrollen beim Kinder- und Jugendarzt vereinbart.
Unter kognitiver und erzieherischer Vernachlässigung wird beispielsweise ein Mangel an Konversation, Spiel und anregenden Erfahrungen, fehlende erzieherische Einflussnahme auf einen unregelmäßigen Schulbesuch, Delinquenz oder Suchtmittelgebrauch des Kindes oder Jugendlichen, fehlende Beachtung eines besonderen und erheblichen Erziehungs- oder Förderbedarfs verstanden.
Hinweise dafür sind auch, wenn es in Familien keine geregelten Strukturen gibt. Alarmierend ist, wenn morgens die Kinder nicht geweckt werden, um in Kita oder Schule zu gehen, wenn es keine geregelten Mahlzeiten oder auch keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr gibt.
Auch sollten in der Tagesstruktur nicht nur die Mahlzeiten, sondern auch die Spiel-, Lern- und Arbeitszeiten geregelt sein, ebenso wie die Zu-Bett-Geh- und Schlafenszeiten.
Eltern müssen sich bewusst sein, dass sie für ihre Kinder eine wichtige Vorbildfunktion haben und diese auch ausfüllen müssen. Das bedeutet beispielsweise, dass sie ihren Kindern Angebote zum Sprechen durch eine ausreichende Kommunikation geben müssen, um eine normale Sprachentwicklung zu ermöglichen. Altersentsprechende Angebote zum Spielen und zur Bewegung sind essenziell für die gesunde Entwicklung. Auffälligkeiten in diesen Bereichen ergeben zahlreiche Hinweise für Vernachlässigung.
Fallbeispiel 2
Kleinkind (3,6 Jahre)
Der dreieinhalbjährige Samuel wird in der Notaufnahme zur körperlichen Untersuchung vorgestellt, nachdem eine Nachbarin eine Meldung beim Jugendamt gemacht hat, dass aus der Wohnung, in der Samuel mit seinen Eltern lebt, immer wieder Schreie und Schläge zu hören seien, und dass der Junge auch immer wieder alleine auf dem Balkon wohl ausgesperrt werde.
Samuel kommt in Begleitung seines Vaters und zweier Mitarbeiterinnen des Jugendamts in die Klinik. Das Verhalten von Samuel ist im Erstkontakt mit der untersuchenden Ärztin insofern auffällig, dass er durch die Zimmertür auf sie zustürzt und erst einmal auf ihren Schoß will. Der Vater kommt hinterher und holt den Jungen vom Schoß der Ärztin ab. Die körperliche Untersuchung lässt Samuel ohne große Gegenwehr über sich ergehen. Auf verbale Kommunikationsangebote der Ärztin geht er nicht ein. In der Kommunikation mit dem Vater fällt dann auf, dass die Sprache sehr einfach in extrem kurzen Sätzen ist und dass Samuel offensichtlich nicht alles versteht, was der Vater sagt. Das körperliche Erscheinungsbild ist wenig auffällig, die Haare wirken allerdings matt und ungepflegt, die Kleidung ist nicht sauber, Größe und Gewicht sind im unteren Normbereich. Eine starke motorische Unruhe fällt auf, die den Jungen dazu treibt, alles im Untersuchungszimmer anzufassen, auszuräumen und
teilweise zu zerstören. Der Vater gebietet ihm dabei keinerlei Einhalt. Außer einer kleinen Anzahl unspezifisch geformter Hämatome an den Armen und Schienbeinen können keine weiteren pathologischen Befunde erhoben werden.
Emotionale Vernachlässigung
Emotionale Vernachlässigung (Kinderschutzleitlinie 2019, [5]), in Anlehnung an WHO und Maltreatment Classification Systems [6].
Bei der emotionalen Vernachlässigung handelt es sich um eine andauernde oder extreme Vernachlässigung der psychischen Bedürfnisse eines Kindes.
Es werden dabei folgende Bereiche erfasst:
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Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit: das Bedürfnis nach einem Familienumfeld, das frei von Feindseligkeit und Gewalt ist, sowie das Bedürfnis nach einer konstant verfügbaren und stabilen Bezugsperson.
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Bedürfnis nach Akzeptanz und Selbstwertgefühl: das Bedürfnis nach wohlwollender Aufmerksamkeit und der Abwesenheit von extrem negativer und unrealistischer Bewertung.
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Bedürfnis nach altersgemäßer Autonomie und Selbstständigkeit: das Bedürfnis des Kindes, seine Umwelt und außerfamiliäre Beziehungen zu erkunden, das Bedürfnis, sich innerhalb der elterlichen Grenzen und Regeln individuell zu entwickeln, sowie das Bedürfnis des Kindes, keine unangemessenen Verantwortlichkeiten zu tragen oder Beschränkungen auferlegt zu bekommen.
Dazu müssen die Bezugspersonen die besonderen Bedürfnisse eines Kindes oder Jugendlichen in der entsprechenden Altersklasse kennen und in der Lage sein, diese auch zeitnah zu erfüllen. Je jünger ein Kind ist, desto rascher bedarf es einer Erfüllung seiner Bedürfnisse. Außerdem müssen Bezugspersonen fähig sein, ihre eigenen Bedürfnisse zu diesem Zeitpunkt zurückzustellen. Eltern mit einer psychischen Erkrankung oder einer Suchtproblematik haben genau in diesem Bereich eher Schwierigkeiten. Auch sehr junge, noch nicht so reife Eltern tun sich manchmal schwer, ihre eigenen Bedürfnisse für die des Kindes hintanzustellen [7]. Dabei ist es wichtig, einzuordnen, in welchem Ausmaß allen Bezugspersonen die Erfüllung dieser Bedürfnisse gelingt.
Merke
Eine emotionale Vernachlässigung geht häufig auch mit einer emotionalen Misshandlung einher.
Vernachlässigung der Aufsichtspflicht
Bei der Vernachlässigung der Aufsichtspflicht denken wir zunächst daran, dass Eltern nach bestem Wissen Unfälle im häuslichen Bereich verhindern sollen. Dazu sollten sie ein gewisses Gefahrenbewusstsein entwickeln, damit sie ihren Säugling nicht alleine auf dem Wickeltisch oder Bett/Sofa liegen lassen, damit sie alle scharfkantigen Möbel abpolstern, die Steckdosen sichern, Fenster verschließen und verhindern, dass Kleinkinder Stühle benutzen, um hoch zu klettern und aus dem Fenster oder über die Balkonbrüstung schauen zu können [8].
Das sichere Wegräumen und Verwahren von Medikamenten, Putzmitteln, Zigaretten und Feuerzeugen gehört ebenfalls zur Aufsichtspflicht.
Verbrühungen und Verbrennungen durch Wasserkocher, heiße Herdplatten, offene Kaminfeuer oder beim Grillen kommen immer wieder unfallbedingt vor.
Eine gute Verkehrserziehung gehört ebenso zur Aufsichtspflicht wie das von Eltern begleitete Erlernen des Umgangs mit Computer und Handy. Sorgeberechtigte müssen dem Alter des Kindes angepasst Regeln erstellen, wann und wie lange Medien genutzt werden und welche Internetzugänge gewährt werden. Es ist nötig zu wissen, womit sich Kinder im Netz beschäftigen, zumindest bei jüngeren Kindern.
Zusatzinfo
Zehn Empfehlungen für die Mediennutzung im Familienalltag der BZgA [9]
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den eigenen Umgang mit Medien kritisch überprüfen
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Vereinbarungen treffen
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über Medien reden
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Kinder beim Medienkonsum begleiten
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persönliche Regeln finden
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kreativ mit Medien sein
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für Ausgleich zum Medienkonsum sorgen
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Fernseher und Computer „draußen lassen“
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Dauerberieselung vermeiden
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Kinder ins Internet begleiten
Aussetzen in eine gewalttätige Umgebung
Das Aussetzen in eine gewalttätige Umgebung ist eine eigene Form der Vernachlässigung. Darunter fällt das Miterleben von häuslicher Gewalt, auch wenn sich diese nicht speziell gegen das Kind richtet. Außerdem ist diese Form gegeben, wenn junge Kinder zu gewalttätigen Veranstaltungen (z. B. im Sport) mitgenommen werden oder wenn sie gezwungen werden, entsprechende Filme mit anzuschauen, z. B. Darstellungen in Medien, die brutale Gewalt zeigen. Auch das Anschauen von pornografischem Material kann unter diesen Gewaltbegriff gefasst werden. In der Folge kann es zu langanhaltenden Verunsicherungen der Kinder kommen und zu einer verzerrten Wahrnehmung und Unterscheidung von gewaltsamem zu sozial verträglichem, „normalem“ Verhalten.
Fallbeispiel 2
Kleinkind (3,6 Jahre)
Die begleitenden Jugendamtsmitarbeiterinnen berichten von ihrem Hausbesuch, den sie auf die Meldung hin am selben Tag unternommen haben, dass sie eine sehr unaufgeräumte und verschmutzte Wohnung vorgefunden hätten, mit Samuel auf dem Balkon, der nicht kindersicher war, und mit seiner Mutter, die aber durch Drogen oder Alkohol nicht wirklich ansprechbar gewesen sei. Es habe in der Wohnung keine adäquaten Spielsachen gegeben und auch wenig essbare Nahrungsmittel, im Kühlschrank sei verschimmeltes Brot gewesen. Eine Kommunikation zwischen Mutter und Sohn habe nicht stattgefunden, zur Untersuchung in der Klinik sei deshalb der Vater bei der Arbeit informiert worden, welcher direkt in die Klinik mitkam.
Bei diesem Kind finden sich aus den Beobachtungen im klinischen Setting und durch die Beobachtungen der Jugendamtsmitarbeiterinnen gleich mehrere Anhaltspunkte für verschiedene Vernachlässigungsformen:
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Es besteht der Verdacht auf eine emotionale Vernachlässigung bei nicht altersadäquater Interaktion mit den Eltern (Sprung auf den Schoß der fremden Ärztin und fehlende Kommunikation mit der Mutter zu Hause).
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Es zeigen sich Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung im kognitiv-erzieherischen Bereich (Sprachentwicklungsverzögerung, keine altersentsprechenden Spielsachen, auf Nachfrage wird berichtet, dass Samuel keine Kita besucht, keine Tagesstruktur mit geregelten Mahlzeiten, der Junge wurde durch den Vater nicht an seinem planlos-aktiv zerstörerischen Verhalten im Untersuchungszimmer gehindert).
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Auch Zeichen für eine Vernachlässigung im körperlichen Bereich können festgestellt werden (schmutzige Kleidung, wenig essbare Nahrungsmittel, verschimmeltes Brot).
Bei der gemeinsamen Beratung über die Befunde kommen die Mitarbeiterinnen des Jugendamts zu der Einschätzung, dass die verschiedenen Vernachlässigungsformen ein solches Ausmaß haben, dass dieser Junge zunächst nicht wieder in das häusliche Umfeld entlassen werden kann. Dies besprechen sie mit dem Vater, der daraufhin einer vorübergehenden Unterbringung des Jungen in einer Bereitschaftspflegefamilie zustimmt. Parallel dazu wird das Jugendamt sondieren, inwieweit eine Zusammenarbeit mit der Mutter und dem Vater gelingen kann unter Einbeziehung von Familienhilfe und einer Kita sowie (abhängig von einer genaueren Diagnostik der Entwicklungsrückstände bei Samuel) von unterstützenden therapeutischen Maßnahmen.
Welche Merkmale können auf eine emotionale Misshandlung oder Vernachlässigung hinweisen?
Im Bereich der Eltern-Kind-Interaktion zeigen sich allgemein Beziehungsstörungen und negative Interaktionen mit der primären Bezugsperson .
Im Sozialverhalten fallen Jugendliche durch aggressives und/oder delinquentes Verhalten auf, Kinder und Jugendliche können Schwierigkeiten bekommen, stabile und gesunde Beziehungen aufzunehmen und zu erhalten. Dadurch und durch ein wenig regelkonformes, aggressives und destruktives Verhalten haben diese Kinder häufig wenig gleichaltrige Freunde und Schwierigkeiten, sich im sozialen Kontext (Familie, Kindergarten, Schule) anzupassen. Eine emotionale Erstarrung, „freezing“ genannt, ist ein Alarmzeichen, ebenso ein undifferenziertes, übermäßig freundliches Zugehen auf Fremde.
Psychische Auffälligkeiten und/oder Störungen können sich durch nach außen oder nach innen gerichtetes Verhalten äußern oder wenn kein belastbares Selbstwertgefühl entwickelt wird. Angstzustände, Distanzlosigkeit gegenüber Fremden, aufmerksamkeitssuchendes Verhalten, selbstverletzendes Verhalten, Depressionen, Essstörungen und psychosomatische Beschwerden können ihren Ursprung in emotionaler Vernachlässigung haben [10].
Im Bereich der Kognition können Lern- und Leistungseinschränkungen auftreten.
Die produktiven und rezeptiven sprachliche Fertigkeiten können eingeschränkt sein.
Weitere Verhaltensauffälligkeiten können auftreten mit z. B. stereotypen Bewegungsmustern und unangemessenen Gewohnheiten wie Daumenlutschen, Nägel knabbern oder Schaukeln.
Häufigkeit der verschiedenen Erscheinungsformen von Vernachlässigung in den unterschiedlichen Altersbereichen
Wir beziehen in unsere Überlegungen Kinder und Jugendliche von 0 – 18 Jahren ein und differenzieren folgende 3 Altersbereiche ([Abb. 1]):
Abb. 1 Die Entwicklung und das Verhalten von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen werden wesentlich von der Beziehung zu den Eltern oder den nahen Bezugspersonen beeinflusst. Dabei gibt es jeweils positive und negative Einflüsse. Die Intensität nimmt im Laufe der Jahre ab, verschwindet aber nie ganz, auch wenn die Interaktionen und deren Auswirkungen immer weniger offensichtlich sind.
Säuglinge und Kleinkinder
Bei Säuglingen und Kleinkindern ist an körperliche und emotionale Vernachlässigung zu denken, die nicht adäquate Gesundheitsfürsorge, die schon während der Schwangerschaft auftreten kann, postpartal an die problematische Beziehung/Bindung zu den engsten Betreuungspersonen. Dabei sind Faktoren, die vom Kind oder von der Umgebung ausgehen können, zu differenzieren.
Kinder
Bei Kindern zeigen sich Vernachlässigungen im Rahmen einer nicht altersentsprechend adäquaten und förderlichen Gesundheits- und Erziehungsfürsorge. In dieser Altersgruppe spielen begleitende Maßnahmen wie Förderungen durch Spielgruppen, Musik- oder Sportvereine und öffentliche Jugendgruppen eine modifizierende Rolle. Der Einfluss aus Kindergarten und Schule, aber auch durch das gesamte soziale Umfeld ist nicht zu unterschätzen. Ungünstige sozioökonomische Rahmenbedingungen wie Isolationen kommen bei dieser Gruppe zum Tragen.
Pubertierende und Jugendliche
Pubertierende und Jugendliche erfahren emotionale Vernachlässigung durch empfundenes oder reales Unverständnis und mangelndes Interesse ihrer nächsten Umgebung. Die Peergroup kann dabei einen sowohl stabilisierenden als auch destabilisierenden Einfluss nehmen, letzterer verstärkt durch Drogen, inkl. Nikotin und Alkohol, Cybermobbing und Cybergrooming. Kontaktanbahnungen im Internet mit dem Ziel sexueller Kontakte spielen zunehmend eine größere Rolle. In dieser Altersgruppe treten als Auswirkung verschiedener Vernachlässigungsformen Verhaltensmuster mit Delinquenz, Aggressivität, Drogenabusus und selbstverletzendem Verhalten auf. Auch eine vergleichsweise erhöhte Suizidalitätsrate ist bemerkenswert.
Fallbeispiel 3
12-jähriges Mädchen
Die 12-jährige Anna kommt zur stationären Aufnahme mit dem RTW, weil sie auf dem Schulweg gestürzt sei und sich eine Radiusfraktur und Schürfungen zugezogen hat.
Bei der genaueren Anamnese stellt sich heraus, dass die Ursache für den Sturz wohl ein atonischer Krampfanfall gewesen ist. Das Krampfleiden ist bei Anna schon seit vielen Jahren bekannt und sie ist medikamentös eingestellt.
Bei Durchsicht der früheren Arztbriefe der Klinik fällt auf, dass mehrfach die Blutspiegelkontrollen ihres Medikaments sehr niedrig waren.
Sie wird stationär aufgenommen, um genauer zu klären, warum es trotz Therapie zu weiteren Anfällen kommt. Die Medikamente werden im klinischen Setting regelmäßig gegeben und von Anna auch eingenommen, der Medikamentenspiegel steigt wie erwartet.
Alternative Systematik der Vernachlässigungsformen
Es erfolgt die Einteilung in eine aktive und passive Form.
Aktive Vernachlässigung
Aktive Vernachlässigung ist die wissentliche Verweigerung von altersgemäßer Fürsorge und Beaufsichtigung.
Mögliche Hintergründe dafür sind Haltungen der Sorgeberechtigten aufgrund von Traditionen, extremen Überzeugungen (z. B. fundamentalistische Einstellungen in verschiedenen Religionen) oder alternativen Lebenskonzepten.
Auch Überforderungen der Sorgeberechtigten, beispielsweise durch schwere oder chronische Erkrankungen des Kindes mit einem deutlich erhöhten Betreuungsbedarf oder eigene psychische Probleme, können Ursachen für eine aktive Vernachlässigung sein.
Merke
Zentral: Unterlassungen bei der täglichen Versorgung und Pflege und das Nichtwahrnehmen altersentsprechender kindlicher Bedürfnisse.
Aktive Vernachlässigung Jugendlicher kann sich äußern in zu früher Übertragung elterlicher Aufgaben auf Jugendliche. Dabei müssen die Jugendlichen beispielsweise die Verantwortung für das Funktionieren des Haushalts oder die Versorgung der Geschwister übernehmen. Oder sie werden als „Partnerersatz“ nach Trennungs- und Verlustsituationen benutzt. Eine zu frühe Einschätzung „als alt genug“, für sich selbst zu sorgen, kann besonders bei Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen oder kognitiver Beeinträchtigung zu schwerwiegenden Vernachlässigungen führen, wenn diese noch nicht reif dafür sind (s. [Fallbeispiel 3]). Fehlendes Interesse und Verständnis für die Lebenswelt und das Lebensumfeld der Jugendlichen sind eine immer wieder beobachtete Form emotionaler Vernachlässigkung.
Fallbeispiel 3
12-jähriges Mädchen
Im Gespräch mit dem Vater stellt sich heraus, dass Anna morgens ihre Medikamente komplett alleine richten und einnehmen muss. Der Vater arbeitet in der Frühschicht und ist schon aus dem Haus, wenn das Mädchen aufstehen muss. Die Mutter arbeite in der Nachtschicht und müsse morgens schlafen, könne sich also auch nicht um die Medikamente kümmern. Überhaupt sei Anna ja schon alt genug, um diese Verantwortung zu übernehmen. Das könne man ja als Eltern erwarten.
Während des stationären Aufenthalts fällt auf, dass Anna noch sehr kindlich ist und sich sichtlich schwertut, Zusammenhänge zu begreifen und sich zu merken. Auf diese Diskrepanz zwischen chronologischem Alter und Entwicklungsreife angesprochen reagiert der Vater ziemlich abwehrend. Dann müsse sich halt die sonderpädagogische Schule um die Medikamenteneinnahme kümmern, er habe andere Aufgaben.
Es wird klar, dass mit Erklären und Hinweisen auf die elterliche Pflicht, sich um die Gesundheit des Kindes zu kümmern, wenn dieses dazu noch nicht in der Lage ist, keine sichere Medikamenteneinnahme gewährleistet werden kann.
In der Rücksprache mit der insoweit erfahrenen Fachkraft im Kinderschutz wird der Fall so eingeschätzt, dass eine Vernachlässigung im erzieherischen und besonders im medizinischen Bereich vorliegt, die bereits akut zu einer Schädigung geführt hat und die in Zukunft zu weiteren Beeinträchtigungen führen wird.
Von der Klinik aus wird das Jugendamt über diese Einschätzung informiert. Dieses erarbeitet mit den Eltern einen Plan zur Sicherung der Medikamenteneinnahme und kontrolliert auch die Umsetzung des Plans.
Passive Vernachlässigung
Passive Vernachlässigung ist geprägt durch Nichtwissen über die jeweils dem Entwicklungsstand angepassten Erfordernisse der Kinder. Auch mangelnde Einsicht und/oder eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten der Sorgeberechtigten führen zu passiven Vernachlässigungen. Die Versorgung eines Kindes tritt dann gegenüber vermeintlich wichtigeren Dingen in den Hintergrund.
Passive Vernachlässigung Jugendlicher hat zur Folge, dass diese in weiten Strecken sich selbst überlassen sind, dass es keine gemeinsamen Abläufe in der Familie oder bei Mahlzeiten gibt, dass keine „Familienzeit“ und keine gegenseitige Teilhabe am Alltag des jeweils Anderen oder eine empathische Kommunikation mehr stattfindet.
Merke
Bei der Bewertung der erhobenen Beobachtungen und Befunde spielen Faktoren aus dem familiären und sozialen Umfeld eine große Rolle. Diese Faktoren werden als Risikofaktoren und als Schutzfaktoren bezeichnet.