OP-Journal 2019; 35(03): 330-337
DOI: 10.1055/a-0898-4198
Fachwissen
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tibiapseudarthrosen

Nonunion of the Tibia
Martin Henri Hessmann
,
Katharina Körblein
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Korrespondenzadresse

Martin Henri Hessmann
Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie
Klinikum Fulda
Pacelliallee 4
36043 Fulda
Phone: 06 61/84 58 41   
Fax: 06 61/84 58 33   

Publication History

Publication Date:
19 November 2019 (online)

 

Zusammenfassung

Pseudarthrosen gehören zu den häufigsten Komplikationen nach Tibiaschaftfrakturen. Hypertrophe Pseudarthrosen erfordern eine Verbesserung der biomechanischen Stabilitätseigenschaften der Osteosynthese. Der Verfahrenswechsel mit Umnagelung und die augmentierende Plattenosteosynthese bieten verlässlich gute Ausheilungsergebnisse. Bei der atrophen Pseudarthrose sind zusätzliche Maßnahmen zur Verbesserung der Biologie erforderlich. Infektpseudarthrosen sind besonders anspruchsvoll und erfordern die Therapie sowohl des Infektes als auch der Frakturheilungsstörung. Die sorgfältige Analyse der Ausgangssituation und der Ursachen der Frakturheilungsstörung sowie die konsequente Therapie führen zu hohen Ausheilungsraten.


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Abstract

Nonunion is a common complication after tibia shaft fractures. Hypertrophic nonunion requires an improvement of biomechanical stability. Exchange nailing and augmenting plate fixation leads to reliably good fracture healing results. Atrophic nonunion requires additional measures in order to improve local biology. Infection nonunion represents a challenging situation that requires the treatment of both the infection and the fracture healing problem. Careful analysis of the ethiology of the fracture healing disturbance and a consequent treatment regimen leads to reliably high healing rates.


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Einleitung

Tibiafrakturen sind oftmals das Ergebnis eines hochenergetischen Traumas. Anatomisch ist das Schienbein ventral und medial langstreckig vom Knie bis zum Sprunggelenk direkt unter der Haut gelegen. Die Weichteildeckung ist spärlich. Schwere begleitende Weichteilschäden und offene Frakturen sind daher am Unterschenkel häufig.

Demzufolge werden Frakturheilungsstörungen an der Tibia verhältnismäßig häufig beobachtet: Pseudarthrosen treten in bis zu 14% der Fälle auf. Risikofaktoren sind die Frakturlokalisation im proximalen und distalen Drittel, ein offener Weichteilschaden und ein hochenergetischer Unfallmechanismus. Distanzosteosynthesen mit verbliebener Spaltbildung nach durchgeführter Nagelung begünstigen insbesondere bei den Quer- und kurzen Schrägfrakturen gleichfalls das Auftreten von Frakturheilungsstörungen [1]. Adipositas und mangelnde Kooperationsbereitschaft während der Nachbehandlung sind patientenbedingte Risikofaktoren [2].

Fehlheilungen sind in bis zu 15% der Fälle beschrieben. Tiefe Infektionen sind bei geschlossenen sowie erst- und zweitgradig offenen Frakturen eher selten (1%); bei drittgradig offenen Frakturen liegt die tiefe Infektionsrate jedoch zwischen 10 und 40%. Pseudarthrosen können kombiniert mit Fehlstellungen, Implantatversagen und tiefen Infektionen einhergehen. Dementsprechend anspruchsvoll, teilweise langwierig und komplex gestaltet sich die Behandlung.

Für den Patienten geht die Frakturheilungsstörung mit Schmerzen, funktionellen Beeinträchtigungen und ggf. einem Instabilitätsgefühl einher. Fehlstellungen begünstigen aufgrund der exzentrischen Belastung das Auftreten einer Arthrose.


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Prävention

Eine adäquate primäre Frakturversorgung trägt wesentlich dazu bei, dass Frakturheilungsstörungen im weiteren Verlauf vermieden werden können. Zu den primären vorbeugenden Maßnahmen gehören das konsequente Weichteilmanagement und die achs- und rotationsgerechte Frakturreposition unter Verwendung ausreichend stabiler Implantate. Im diaphysären Bereich erfolgt die Frakturstabilisierung nach indirekter Reposition in minimalinvasiver Technik unter Beachtung der Prinzipien der relativen Stabilität. Heute kommen für die Osteosynthese überwiegend Verriegelungsnägel und (seltener) winkelstabile Platten zur Anwendung.

Distanzosteosynthesen, instabile Osteosynthesen und die Verwendung von zu dünnen, zu kurzen oder nicht adäquat verriegelten Marknägeln begünstigen das Auftreten von Frakturheilungsverzögerungen und Pseudarthrosen [3] ([Abb. 1]). Knochendefekte > 1 cm über > 50% der Zirkumferenz erfordern für die Frakturheilung in über 50% der Fälle zusätzliche chirurgische Maßnahmen [4]. Mehrere Studien weisen darauf hin, dass gebohrte Marknägel mit weniger Komplikationen und einem geringeren Pseudarthrosenrisiko einhergehen als ungebohrte Marknägel [5], [6], [7].

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Abb. 1a Erstgradig offene Unterschenkelfraktur bei einem 68-jährigen Mann nach Treppensturz. b, c Primärer Wundverschluss nach Débridement und Osteosynthese mit einem statisch verriegelten ungebohrten Marknagel. d, e Schmerzhafte hypertrophe Pseudarthrose mit Bolzenbruch nach 10 Monaten. f, g CT-Schnittbildgebung zeigt eindeutig die fehlende Durchbauung bei überschießender Kallusbildung als typisches Merkmal der hypertrophen Pseudarthrose. h, i Verfahrenswechsel auf einen dickeren, stabileren aufgebohrten Verriegelungsnagel. j, k Vollständige Frakturheilung 6 Monate später. Metallentfernung 1 Jahr nach Umnagelung auf ausdrücklichen Patientenwunsch.

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Diagnostische Abklärung

Eine essenzielle Voraussetzung für die erfolgreiche Behandlung einer Tibiapseudarthrose ist die Analyse der Faktoren und Mechanismen, die zum Auftreten der Frakturheilungsstörung geführt haben. Hierzu gehören eine sorgfältige Anamneseerhebung und eine gründliche klinische Untersuchung auch der umliegenden Weichteile. Fistelbildungen mit Sekretion weisen auf einen unterliegenden Infekt hin.

Die klinische Untersuchung wird ergänzt durch eine bildgebende konventionelle radiologische Diagnostik und eine Laboruntersuchung mit Bestimmung der Infektionsparameter. Die Schnittbildgebung mittels CT ermöglicht eine detailliertere Analyse der Lokalsituation, z. B. zur Detektion von möglichen Sequestern, knöchernen Defektsituationen und einem möglichen partiellen Durchbau der Fraktur. Insbesondere beim Verdacht auf eine Infektpseudarthrose sind MRT, SPECT-CT (SPECT: Einzelphotonen-Emissionscomputertomografie) und Szintigrafie indiziert. Strahlenartefakte durch die einliegenden Implantate schränken jedoch die Beurteilbarkeit des MRTs ein.

Die hypertrophe Frakturheilungsstörung muss differenzialdiagnostisch von der hypo- und atrophen Pseudarthrose abgegrenzt werden. Hypertrophe Pseudarthrosen sind Folge einer nicht ausreichenden Stabilität. Bei der hypotrophen und atrophen Pseudarthrose liegt zudem eine gestörte Biologie vor. Entgegen der ursprünglichen Einschätzung sind atrophe Pseudarthrosen jedoch nicht avaskulär [8], [9].


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Therapie

Moderne Behandlungskonzepte der Tibiapseudarthrose erfordern eine umfassende Betrachtung der Gesamtproblematik [10]. In Anbetracht der Tatsache, dass die Frakturheilung einen komplexen biologischen und biomechanischen Prozess darstellt, schlagen Giannoudis et al. eine ganzheitliche Therapie nach dem sog. „diamond concept“ vor [11]. Gemäß diesem Konzept benötigt eine Tibiafraktur zum Erreichen einer stabilen Durchbauung eine stabile mechanische Umgebung, eine ausreichende Vaskularisation, osteogene Zellen, ein osteogenes Gerüst sowie Wachstumsfaktoren. Daher darf das Konzept der Pseudarthrosenbehandlung nicht nur auf rein mechanische Faktoren fokussiert sein. Mit dem „diamond concept“ sind Frakturheilungsraten von annähernd 100% beschrieben [12].

Kritische Weichteile müssen ggf. vor einem knöchernen Eingriff adressiert werden. Dies erfordert in bestimmten Fällen plastisch-rekonstruktive Maßnahmen. Osteomyelitiden und Infekte erfordern zusätzliche operative Maßnahmen sowie ergänzend eine gezielte antibiotische Behandlung (siehe unten).

Operative Therapien

Sekundäre Dynamisierung

Die sekundäre Dynamisierung eines Verriegelungsnagels führt dazu, dass sich unter der axialen Belastung während der Mobilisation ein vorhandener Frakturspalt verschließt und die Frakturflächen unter Kompression gebracht werden. Der bessere Knochenkontakt zwischen den Hauptfrakturflächen und die axiale Kompression tragen zum Durchbau der Fraktur bei [3]. Die Dynamisierung ist als sekundäres Verfahren bei verzögerter oder ausbleibender Frakturheilung im Vergleich zum Nagelwechsel minimalinvasiv und zudem besonders kostengünstig, da lediglich ein Verriegelungsbolzen aus dem Gleitloch des Nagels entfernt werden muss.

Die Indikation zur sekundären Marknageldynamisierung muss jedoch immer individuell kritisch geprüft werden, da die (Teil-)Entriegelung des Nagels zu einer erhöhten Instabilität in der Fraktur führen kann. Im metaphysären Bereich können aufgrund der reduzierten Stabilität sekundäre Achsfehlstellungen auftreten. Insbesondere bei C-Verletzungen nach der AO-Klassifikation sollte auf keiner Seite der Fraktur eine vollständige Entriegelung des Nagels erfolgten, da dies zu einem Zusammenstauchen der Fraktur und zu einer sekundären Beinverkürzung führen kann.

Die Erfolgsrate der Dynamisierung weist eine große Spannbreite auf und liegt zwischen 19 und 82% [13]. Somit ist die sekundäre Teilentriegelung des Nagels bei ausbleibender Frakturheilung kein Allheilmittel. Die besten Erfolgsaussichten lassen sich bei den hypertrophen Pseudarthrosen mit einer geringen Dehiszenz zwischen den Hauptfragmenten erreichen. Der einliegende Nagel sollte einen adäquaten Durchmesser im Verhältnis zur Markhöhle aufweisen und er sollte sich langstreckig in den Hauptfragmenten verankern.

Sofern die Dynamisierung zur Beschleunigung der knöchernen Durchbauung indiziert ist, sollte diese Maßnahme ca. 6 – 12 Wochen nach Primärversorgung erfolgen, da nach unserer Erfahrung und in Übereinstimmung mit der Literatur die frühe Dynamisierung die besten Erfolgsaussichten bietet [14], [15]. Somit ist die sekundäre Dynamisierung eher zur Behandlung einer verzögerten Frakturheilung als zur Therapie der etablierten Pseudarthrose indiziert.


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Augmentierende lokale Plattenosteosynthese

Verriegelungsnägel bieten im Vergleich zur Plattenosteosynthese eine hohe axiale und Biegestabilität, aber eine geringe Rotationsstabilität. Bei den meta- und diaphysären Pseudarthrosen stellt die augmentierende Plattenosteosynthese eine elegante und minimalinvasive Möglichkeit dar, die Stabilität des Gesamtkonstruktes unter Erhalt des einliegenden Verriegelungsnagels zu erhöhen. Insbesondere hypertrophe Pseudarthrosen können aufgrund der höheren Stabilität des Knochen-Implantat-Konstruktes durch die zusätzliche Plattenosteosynthese zuverlässig zur Ausheilung gebracht werden ([Abb. 2]). Die Platte kann dabei rein zur Verbesserung der (Rotations-)Stabilität eingebracht oder aber auch im Sinne einer Kompressionsplattenosteosynthese angewandt werden. In der letztgenannten Situation sollte der Verriegelungsnagel vor der Verplattung dynamisiert werden, denn nur auf diese Weise kann die Platte in der Pseudarthrose einen Kompressionseffekt erzeugen.

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Abb. 2a Zweitgradig offene Unterschenkelsegmentfraktur bei einem 35-jährigen polytraumatisierten Patienten nach Motorradunfall. Ipsilaterale Femur- und Unterarmfraktur. Milzruptur. b Primäre Frakturstabilisierung mit Fixateur externe nach Wunddébridement und -verschluss. c, d Frühsekundärer Verfahrenswechsel auf einen aufgebohrten 10-mm-Verriegelungsnagel mit zusätzlichen Pollerschrauben nach 6 Tagen. e, f Ausbleibende Frakturheilung mit schmerzhafter Minderbelastbarkeit nach 4 Monaten. g, h Augmentierende laterale Plattenosteosynthese mit Optimierung der Frakturreposition zeigt eine voranschreitende Frakturheilung 5 Monate später. Das Bein war zu dem Zeitpunkt ohne Schmerzen voll belastbar.

Mit der augmentierenden Kompressionsplattenosteosynthese konnten Ateschrang et al. in 96% der Fälle nach durchschnittlich 15 Wochen eine Frakturheilung erreichen [16]. Im metaphysären Bereich kann die adjuvante Plattenosteosynthese zusätzlich zu einer Optimierung des Repositionsergebnisses beitragen.

Die Augmentation der Nagelosteosynthese durch einen Fixateur externe ist gleichfalls möglich [17]; das Verfahren wird – obwohl minimalinvasiv – jedoch selten angewandt. Nachteile des Fixateurs sind der geringe Tragekomfort für den Patienten sowie das Pininfektionsrisiko mit der Gefahr der fortgeleiteten sekundären Nagelinfektion und der Markraumphlegmone.


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Verfahrenswechsel

Jede Pseudarthrose erfordert bei der Therapieplanung eine sorgfältige Analyse der möglichen Ursachen. Insbesondere bei den hypertrophen Frakturheilungsstörungen liegt ursächlich eine nicht ausreichende Frakturstabilität vor. Sofern die Dynamisierung als einfachste Behandlungsmethode nicht indiziert ist oder nicht erfolgversprechend erscheint, ist der Verfahrenswechsel auf eine stabilere Osteosyntheseform die Methode der Wahl. Der Verfahrenswechsel auf ein Konstrukt mit besseren biomechanischen Eigenschaften reicht zum Erreichen der knöchernen Durchbauung bei den hypertrophen Pseudarthrosen meist aus.

Bei den hypotrophen und atrophen Pseudarthrosen kann ein Verfahrenswechsel gleichfalls erforderlich sein. Meist sind hier dann jedoch zusätzliche Maßnahmen zur Verbesserung der Biologie erforderlich (siehe weiter unten; [Abb. 3]).

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Abb. 3a Drittgradig offene Unterschenkelfraktur bei einem 17-jährigen Quadfahrer nach Anprall gegen Baum. Begleitende erstgradig offene ipsilaterale Femurfraktur. Primäre Frakturstabilisierung mit Fixateur externe. Kompartmentspaltung, Débridement und Anlage einer Vakuumversiegelung. b, c Verfahrenswechsel auf einen aufgebohrten 8-mm-Nagel nach 1 Woche. d, e Ausbleibende Frakturheilung nach 8 Monaten mit distalem Bolzenbruch. f, g Verfahrenswechsel auf einen 2 mm dickeren Nagel nach Aufbohren der Markhöhle. Zusätzliche autogene Spongiosaplastik. h, i Metallentfernung 1 Jahr später bei vollständigem Durchbau der Fraktur.

Ein Verfahrenswechsel ist immer dann indiziert, wenn die Pseudarthrose oder die verzögerte Frakturheilung mit einem Implantatversagen einhergeht. In diesem Fall muss das gebrochene Implantat vor dem Verfahrenswechsel zunächst entfernt werden. Wenn Verdacht auf eine infizierte Pseudarthrose besteht, muss der Verfahrenswechsel ggf. zweizeitig erfolgen. Die Knochenbruchstabilisierung nach Implantatentfernung kann bei der Infektpseudarthrose vorübergehend durch Anlage eines Fixateur externe erfolgen. In bestimmten (seltenen) Situationen kann die Pseudarthrose mit dem Fixateur auch endgültig zur Ausheilung gebracht werden.

Folgende Verfahrenswechsel sind möglich:

  • Wechsel einer Plattenosteosynthese auf eine erneute Plattenosteosynthese. Hier kommen meist langstreckige winkelstabile Platten zur Anwendung, teilweise in Form einer Kompressionsplattenosteosynthese.

  • Wechsel einer Plattenosteosynthese auf einen Verriegelungsnagel

  • Wechsel einer Verriegelungsnagelung auf eine Plattenosteosynthese (winkelstabil, ggf. Kompression)

  • Wechsel einer Verriegelungsnagelung auf einer erneute Verriegelungsnagelung

  • Wechsel einer Platten- oder Nagelosteosynthese auf einen Fixateur externe (siehe oben)

Der Wechsel einer intramedullären auf eine extramedulläre Osteosynthese oder umgekehrt muss immer wohlüberlegt erfolgen, da durch den Eingriff sowohl die intramedulläre als auch die extramedulläre Vaskularisation des Knochens beeinträchtigt werden. Die iatrogene Schädigung der Knochendurchblutung begünstigt weitere Frakturheilungsstörungen.

Bei den diaphysären Frakturen ist die intramedulläre Nagelosteosynthese heute Goldstandard. Der Verfahrenswechsel erfolgt bei der Frakturheilungsstörung somit meist erneut auf einen Verriegelungsnagel, sodass nachfolgend vor allem auf diese gängig(st)e Therapievariante eingegangen wird.

Der Verfahrenswechsel durch Umnagelung erfolgt bei der hypertrophen Pseudarthrose ohne direkte Exposition. Achsfehlstellungen können – sofern vorliegend – indirekt, z. B. mit Pollerschrauben, korrigiert werden. Die Ausheilung der Pseudarthrose wird durch eine Verbesserung der biomechanischen Stabilität und durch eine lokale Knochentransplantation durch den Aufbohrvorgang erreicht [18].

Die Markhöhle wird nach Entfernen des einliegenden Nagels grundsätzlich aufgebohrt. Der Aufbohrvorgang erfolgt moderat und unter Verwendung scharfer Bohrköpfe (zur Reduzierung des thermischen Schadens), wobei der endomedulläre Kontakt zwischen Bohrkopf und Knochen im Isthmusbereich ein wichtiges Kriterium darstellt für die Wahl des finalen Nageldurchmessers. Der Aufbohrvorgang schädigt zwar die endostale Durchblutung, steigert jedoch die periostale Durchblutung um das 6-Fache. Durch Umkehr des Blutflusses von zentrifugal nach zentripetal wird die Durchblutung des Knochens durch umsichtiges Aufbohren insgesamt gesteigert.

Nach Möglichkeit sollte ein Nagel mit einem Durchmesser von mindestens 10 mm mit Verriegelungsbolzen von 5 mm eingebracht werden [19], [20]. Der Nagel muss ausreichend lang sein und er muss proximal und distal stabil verriegelt werden. Wenn möglich sollte – insbesondere bei Pseudarthrosen nach Quer- und Schrägfrakturen – die ehemalige Fraktur im Rahmen des Verfahrenswechsels unter Kompression gebracht werden. Dies erfolgt entweder durch Zurückschlagen des bereits distal verriegelten Nagels oder besser durch die Verwendung eines Implantates mit intraoperativer Kompressionsmöglichkeit [21]. Die durch den Kompressionsmechanismus des Nagels erzielte Kompressionswirkung ist um ein Vielfaches höher als die Kompression, die durch Zurückschlagen des Nagels erreicht wird. Letzteres führt im Prinzip nur zu einer Fragmentapposition, jedoch ohne wesentliche Kompression.

Eine zusätzliche (Verkürzungs-)Osteotomie der Fibula ist lediglich dann indiziert, wenn das verheilte Wadenbein die Apposition der Hauptfragmente der Tibia und die interfragmentäre Kompression verhindert.

Die Erfolgsrate der Umnagelung ohne zusätzlichen Maßnahmen liegt bei der hypertrophen Pseudarthrose bei ca. 95% [22].


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Das „diamond concept“ in der Behandlung der Tibiapseudarthrose

Bei hypo- und atrophen Pseudarthrosen sind zusätzlich zur Osteosynthese, wie oben beschrieben, zusätzliche chirurgische Maßnahmen erforderlich. Diese beinhalten die Auffüllung von nicht zirkulären und kurzen zirkulären Defekten (1 – 2 cm) mit autologer Spongiosa oder Knochenersatzmaterialien, die lokale Applikation von Wachstumsfaktoren (BMP) und die Dekortikation als biologischer Stimulus [23] ([Abb. 3]). Die Dekortikation schafft ein gut durchblutetes Lager für die Einheilung der transplantierten Spongiosa. Nach Aufbohren der Markhöhle muss die Indikation zur Dekortikation jedoch kritisch geprüft werden, da der endomedullären Gefäßschädigung durch den Aufbohrvorgang nicht noch eine periostale Schädigung hinzugefügt werden sollte.

Der Vorteil der autologen Spongiosaplastik gegenüber der Defektauffüllung mit Knochenersatzmaterialien besteht darin, dass durch die körpereigene Knochenverpflanzung nicht nur ein knöchernes Gerüst, sondern auch vitale Zellen und Wachstumsfaktoren mit transplantiert werden. Nachteilig sind Schmerzen und eine mögliche Zusatzmorbidität an der Entnahmestelle. Die endomedulläre Spongiosaentnahme mittels RIA®-System (RIA: Reamer-Irrigator-Aspirator) stellt eine Alternative zur Entnahme am Beckenkamm dar [24].


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Behandlung der Infektpseudarthrose

Infektpseudarthrosen weisen eine doppelte Problematik auf:

  1. eine tiefe Knocheninfektion und

  2. eine gestörte bzw. ausbleibende Frakturheilung.

Beide Probleme können sequenziell oder zeitgleich behandelt werden. Behandlungsmaßnahmen beinhalten:

  • ein oder mehrere chirurgische Débridements sowohl des Knochens als auch des Weichteilgewebes mit Resektion von infiziertem und nekrotischem Gewebe

  • eine adäquate Knochenstabilisierung, sofern erforderlich mit Korrektur von Achs- oder Rotationsfehlstellungen

  • die Weichteildeckung mit gut vaskularisiertem Gewebe (durch einen direkten Wundverschluss oder durch plastisch-rekonstruktive Maßnahmen inkl. Lappenplastiken)

  • die Wiederherstellung der knöchernen Integrität

Das Knochendébridement erfolgt bei einliegendem Marknagel durch die Implantatentfernung und durch Aufbohren der Markhöhle im Sinne eines endomedullären Débridements. Die Markhöhle wird in 0,5-mm-Schritten soweit aufgebohrt, bis sämtliches infiziertes fibröses Gewebe und totes Knochengewebe entfernt wurde und bis sich nur gesund erscheinendes Knochengewebe am Bohrkopf befindet.

Alternativ kann die Markhöhle in einem einzelnen Bohrvorgang mit dem RIA-System aufgebohrt werden [25], [26], [27]. Vorteile des RIA-Systems bestehen darin, dass nur einmal und nicht sequenziell aufgebohrt werden muss, sodass das Risiko eines thermischen Knochenschadens wesentlich geringer ist als beim stufenweisen Aufbohrvorgang. Zudem ist der Blutverlust geringer und auch die Operationszeit ist kürzer. Der größte Vorteil ist jedoch darin zu sehen, dass die Markhöhle während des Aufbohrens gespült wird und Débris und infiziertes Gewebe zugleich aspiriert werden, wohingegen beim konventionellen Bohrvorgang die Gefahr besteht, dass infiziertes Knochengewebe nach distal in die Markhöhle geschoben wird und dort verbleibt. Nachteil des RIA-Systems ist, dass der Durchmesser des Bohrkopfes bereits vor dem Aufbohrvorgang festgelegt werden muss.

Für das knöcherne Pseudarthrosenmanagement kommen bei der Infektpseudarthrose die gleichen Behandlungsprinzipien wie die oben beschriebenen zur Anwendung. Wichtig ist die adäquate knöcherne Stabilisierung, ggf. ergänzt durch weitere lokale Maßnahmen (Spongiosaplastik etc. …). Allerdings muss berücksichtigt werden, dass der Aufbohrvorgang die endomedulläre Durchblutung schädigt und dass der verbleibende Knochen ausschließlich über periostale Gefäße vaskularisiert wird. Daher ist die vollständige Erhaltung der periostalen Vaskularisation von entscheidender Bedeutung. Der Verfahrenswechsel auf eine Plattenosteosynthese nach Aufbohren der Markhöhle ist daher meist kontraindiziert [28].

Zur Stabilisierung von Infektpseudarthrosen können nach Infektsanierung antibiotikumbeschichtete Nägel verwendet werden [29]. Teilweise werden diese Nägel im Rahmen eines einzeitigen Verfahrens unmittelbar im Anschluss an das Débridement implantiert, sodass dem Patienten der Zweiteingriff erspart bleiben kann [30]. Das Prinzip der Behandlung beruht darauf, dass neben der Knochenstabilisierung mit dem Implantat zugleich eine lokale antibiotische Therapie erfolgt, die in Ergänzung zur kalkulierten systemischen Antibiotikumtherapie zur Infektsanierung beiträgt. Nachteil der antibiotikumbeschichteten Nägel sind die hohen Implantatkosten.

Kurzstreckige Knochendefekte können in einer infektionsfreien Umgebung durch eine Spongiosaplastik aufgefüllt werden. Neue keramische Knochenersatzmaterialien mit Beimischung eines Antibiotikums wie Gentamicin oder Vancomycin entfalten eine zusätzliche hochdosierte lokale antimikrobielle Wirkung und stellen daher insbesondere bei einer (fraglich) persistierenden Osteomyelitis oder zur Vorbeugung eines Infektrezidivs eine wertvolle Alternative zur autologen Knochentransplantation dar [31].

Infektpseudarthrosen mit langstreckigen zirkulären Knochendefekten erfordern einen aufwendigen und häufig langwierigen Aufbau nach der Masquelet-Technik [32], [33] oder durch Segmenttransport [34]. Die Stabilisierung des Knochens erfolgt hier zunächst überwiegend durch Anlage eines Fixateur externe, ggf. mit späterem Wechsel auf einen Verriegelungsnagel oder seltener auf eine Platte.

Nach der Masquelet-Technik wird zunächst ein Zementspacer in den Knochendefekt eingesetzt. Dieser induziert eine synoviale Fremdkörpermembran. In einem Zweiteingriff, der ca. 8 Wochen später erfolgt, wird der Spacer entfernt und der von der induzierten Membran umgebene Knochendefekt wird mit autologer Spongiosa aufgefüllt. Gegebenenfalls kann zu diesem Zeitpunkt ein Verfahrenswechsel auf eine interne Osteosynthese erfolgen. Sofern ein Marknagel eingebracht wird, wird die Spongiosa um das Implantat angelagert und es entsteht eine neue Markhöhle. Ohne Nagel fehlt der Markraum und ein massiver „Knochenblock“ überbrückt den Defekt. Nachteile der Masquelet-Technik sind Knochenheilungsverzögerungen in der Defektzone, spätere Knochenfrakturen aufgrund einer anderen Knochenqualität und Rezidivinfektionen [35]. Zudem sind Schmerzen und eine mögliche Morbidität an der Knochenentnahmestelle zu berücksichtigen.

Alternativ, von manchen Autoren bei langstreckigen Knochendefekten sogar bevorzugt, erfolgt die Kontinuitätswiederherstellung durch einen Segmenttransport. Unterschiedliche Verfahren und Transportsysteme sind verfügbar. Etabliert sind der Ilizarov-Ringfixateur und das Monorail-Verfahren. Mit dem Ringfixateur können während des Segmenttransports Achsfehlstellungen korrigiert werden; der Monorail-Fixateur weist dagegen einen höheren Patientenkomfort auf [36]. Pininfektionen, Gelenkkontrakturen und Knochenheilungsverzögerungen an der „docking“-Stelle sind Nachteile beider Verfahren. Bei sehr langstreckigen Defekten kann die Behandlungszeit durch einen bifokalen Transport abgekürzt werden.


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Ultraschall/Stoßwelle

Alternativ zur chirurgischen Behandlung kann die Tibiapseudarthrose auch konservativ durch Stoßwellentherapie [37] oder niedrigenergetisch pulsierte Ultraschallanwendungen (LIPUS®) behandelt werden [38]. Da sich zur konservativen Pseudarthrosenbehandlung in diesem Heft ein eigener Beitrag findet, wird an dieser Stelle auf diese Behandlungsmethode nicht weiter eingegangen.


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Autorinnen/Autoren

Martin Henri Hessmann

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Prof. Dr. med. habil., Direktor der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Klinikum Fulda

Katharina Körblein

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Dr. med., Assistenzärztin, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Klinikum Fulda

Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

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Korrespondenzadresse

Martin Henri Hessmann
Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie
Klinikum Fulda
Pacelliallee 4
36043 Fulda
Phone: 06 61/84 58 41   
Fax: 06 61/84 58 33   

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Abb. 1a Erstgradig offene Unterschenkelfraktur bei einem 68-jährigen Mann nach Treppensturz. b, c Primärer Wundverschluss nach Débridement und Osteosynthese mit einem statisch verriegelten ungebohrten Marknagel. d, e Schmerzhafte hypertrophe Pseudarthrose mit Bolzenbruch nach 10 Monaten. f, g CT-Schnittbildgebung zeigt eindeutig die fehlende Durchbauung bei überschießender Kallusbildung als typisches Merkmal der hypertrophen Pseudarthrose. h, i Verfahrenswechsel auf einen dickeren, stabileren aufgebohrten Verriegelungsnagel. j, k Vollständige Frakturheilung 6 Monate später. Metallentfernung 1 Jahr nach Umnagelung auf ausdrücklichen Patientenwunsch.
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Abb. 2a Zweitgradig offene Unterschenkelsegmentfraktur bei einem 35-jährigen polytraumatisierten Patienten nach Motorradunfall. Ipsilaterale Femur- und Unterarmfraktur. Milzruptur. b Primäre Frakturstabilisierung mit Fixateur externe nach Wunddébridement und -verschluss. c, d Frühsekundärer Verfahrenswechsel auf einen aufgebohrten 10-mm-Verriegelungsnagel mit zusätzlichen Pollerschrauben nach 6 Tagen. e, f Ausbleibende Frakturheilung mit schmerzhafter Minderbelastbarkeit nach 4 Monaten. g, h Augmentierende laterale Plattenosteosynthese mit Optimierung der Frakturreposition zeigt eine voranschreitende Frakturheilung 5 Monate später. Das Bein war zu dem Zeitpunkt ohne Schmerzen voll belastbar.
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Abb. 3a Drittgradig offene Unterschenkelfraktur bei einem 17-jährigen Quadfahrer nach Anprall gegen Baum. Begleitende erstgradig offene ipsilaterale Femurfraktur. Primäre Frakturstabilisierung mit Fixateur externe. Kompartmentspaltung, Débridement und Anlage einer Vakuumversiegelung. b, c Verfahrenswechsel auf einen aufgebohrten 8-mm-Nagel nach 1 Woche. d, e Ausbleibende Frakturheilung nach 8 Monaten mit distalem Bolzenbruch. f, g Verfahrenswechsel auf einen 2 mm dickeren Nagel nach Aufbohren der Markhöhle. Zusätzliche autogene Spongiosaplastik. h, i Metallentfernung 1 Jahr später bei vollständigem Durchbau der Fraktur.