(Quelle: © CGinspiration – fotolia.com. Grafik: Prometheus.
Grafiken: Voll M, Wesker K; aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U.
Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. 5. Aufl. Stuttgart:
Thieme; 2018)
In Deutschland leiden derzeit circa. 1,7–3,1 Millionen Menschen an einem
Fibromyalgiesyndrom (FMS). In der Studie von Wolfe et al. aus dem Jahre 2013 wird
eine Geschlechterverteilung von Frauen zu Männern von etwa 4:3 angegeben [1], in klinischen Einrichtungen liegt das Verhältnis
allerdings meist deutlich höher bei 8–12:1 [2].
Klinisches Bild
Das Fibromyalgiesyndrom (FMS; lat: fibra = Faser; griechisch: mys = Muskel; álgos =
Schmerz; gesamt: Faser-Muskel-Schmerz) ist ein chronisches Schmerzsyndrom mit vielen
weiteren charakteristischen Symptomen weiterhin unklarer Ätiologie.
Das FMS ist mit Faser-Muskel-Schmerz sicher nicht ausreichend charakterisiert.
Typisch für das Krankheitsbild sind die bei über 97 Prozent aller Patienten zu
findenden Kernsymptome: chronische generalisierte Schmerzen in mehreren
Körperregionen, Schlafstörungen oder nicht erholsamer Schlaf sowie Müdigkeit oder
körperliche und/oder geistige Erschöpfungsneigung (Fatigue). Des Weiteren können
viele unterschiedliche vegetative Symptome, zum Beispiel kalte Hände/Füße, trockene
Schleimhäute, vermehrtes Schwitzen und funktionelle Beschwerden (Organbeschwerden
ohne erklärende pathologische Strukturveränderungen) die Betroffenen quälen.
Typischerweise sind diese Beschwerden in den unterschiedlichen Körperregionen vom
Beschwerdecharakter und von der Intensität her häufig wechselnd, meist ohne einen
ersichtlichen Auslöser.
Pathologische oder gefährliche Strukturveränderungen sind nicht zu finden. Erfreulich
für die Patienten ist, dass sie mit geeigneter Information nicht befürchten müssen,
wegen immobilisierenden Schmerzen im Rollstuhl zu landen oder gar früher zu sterben.
Allerdings kann für diese chronische Schmerzerkrankung in der Regel keine Heilung,
höchstens eine Verbesserung eingeschränkter Funktionsfähigkeit und Lebensqualität in
Aussicht gestellt werden.
Geschichtlicher Überblick
Geschichtlicher Überblick
Aufgrund der Namensgebung könnte man meinen, dass das FMS eine neue Erkrankung ist.
Erst 1976 wurde die Krankheit als „Fibromyalgie“ beziehungsweise als
„Fibromyalgiesyndrom“ benannt [3]. Das FMS wurde
1987 von der American Medical Association (AMA) und 1990 von der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Erkrankung anerkannt sowie 1992 in die
Internationale Klassifikation der Erkrankungen (ICD-10) im Kapitel der
nicht-artikulären rheumatischen Erkrankungen mit unbekannter Ätiologie unter dem
ICD-10-Code M79.0 aufgenommen. Der aktuelle ICD-10-Code lautet inzwischen
M79.70.
Die Antike
Die Geschichte der Schmerzmedizin und die Beschreibung generalisierter Schmerzen,
wie sie beim FMS vorliegen, gehen allerdings zumindest bis in die Antike zurück.
Der griechische Arzt Theophrastus (372 bis 287 v. Chr.), ein
Aristoteles-Schüler, beschrieb generalisierte Schmerzen in Muskeln oder Sehnen
und bezeichnete dabei die spezielle Wesensart als „Mattheit“. Damals waren damit
bereits die wichtigsten Charakteristika des FMS aufgeführt.
Die letzten beiden Jahrhunderte
In der neueren Zeit der letzten zwei Jahrhunderte wurden entzündete Fasern, eine
Muskelpathologie oder psychischer Rheumatismus als hypothetische Ursachen der
heute mit FMS beschriebenen Erkrankung genannt, die aber aufgrund der
Studienergebnisse im 20. Jahrhundert nicht bestätigt werden konnten.
Das FMS wird, wie Yunus schon in den 1980er Jahren formulierte [4], nicht als Ausschlussdiagnose verstanden,
sondern als eine Erkrankung, die anhand der Gesamtheit der charakteristischen
Symptome klinisch gestellt wird. Dieses Vorgehen kann mit den ACR 2010 Kriterien
(ACR = American College of Rheumatology), die „vorläufige Diagnosekriterien“
genannt werden, besser verstanden werden [5].
Das 21. Jahrhundert
Der Beginn des 21. Jahrhunderts kann für das Krankheitsbild FMS als Zeit der
Neurowissenschaften und Genetik angesehen werden. Ergebnisse geben zumindest
Subgruppen der Patienten mit FMS Hoffnung, eine gezieltere Therapie zu erhalten.
Aufgrund der Entwicklung neuerer Diagnostik mit der funktionellen
Kernspintomografie (MRT) konnte 2002 eine veränderte Schmerzwahrnehmung bei
Patienten mit FMS sichtbar gemacht werden [6].
Ein verbessertes Verständnis für das chronische Krankheitsbild kann zusammen mit
weiteren teils überlappenden chronischen Krankheitsbildern ohne nachgewiesene
spezifische Strukturpathologie gegebenenfalls das von Yunus im Jahre 2007
veröffentlichte Konzept der „Zentralen Sensitivierung“ bieten [7].
Anhand von funktionellen Kernspin-Aufnahmen wurde eine veränderte
Schmerzwahrnehmung bei Patienten mit FMS nachgewiesen [6].
Verminderte antiinflammatorische und vermehrte proinflammatorische Zytokinprofile
bei Patienten mit FMS wurden beschrieben [8],
[9]. Sie sind gegebenenfalls auch auf die
bekannten und für diese Patienten typischen Schlafstörungen mit
EEG-Veränderungen [10] (Alpha- statt
Delta-Wellen in NREM-Schlafphasen) zurückzuführen [11]. Eine verminderte Stressbelastbarkeit resultiert eventuell aus
den typischen Schlafstörungen mit nicht-erholsamem Schlaf und der daraus
folgenden gesteigerten Erschöpfbarkeit. Ein verbesserter Umgang mit Stress und
Schmerz kann zu besserem Schlaf und umgekehrt führen. Deshalb sind
therapeutische Ansätze aus verschiedenen Therapiebereichen wie aerobes
Ausdauertraining, Krafttraining, meditative Bewegungstherapien,
verhaltensorientierte Psychotherapie/Entspannungstraining und medikamentöse
Therapie jeweils einzeln und vor allem auch in Kombination so wichtig und
erfolgreich, da sie diese Faktoren beeinflussen.
Neben den Veränderungen der zentralen Schmerzverarbeitung konnten in einigen
Arbeitsgruppen, beginnend mit der Publikation von Üçeyler aus dem Jahr 2013
[12], Hinweise auf Veränderungen im
peripheren Nervensystem (eine Verminderung der Small Fibres) bei einer Subgruppe
von Patienten mit FMS gezeigt werden. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurde
diskutiert, diese Patienten möglicherweise im Rahmen neuropathischer
Erkrankungen einzuordnen.
Begleitende Faktoren und Risikofaktoren
Begleitende Faktoren und Risikofaktoren
Folgende bio-psycho-sozialen Faktoren/Erkrankungen können als FMS assoziierte
Faktoren beziehungsweise Risikofaktoren genannt werden [13]:
-
biologische Faktoren: entzündlich-rheumatische Erkrankungen (wie zum Beispiel
die rheumatoide Arthritis), Genpolymorphismen des 5HT2-Rezeptors
(Serotonintransportergen, Serotoninsystem), Vitamin D Mangel
-
Lebensstilfaktoren (diese können durch Verhaltensänderungen positiv
beeinflusst werden): Rauchen, Übergewicht, mangelnde körperliche
Aktivität
-
psychische Faktoren: körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch in der
Kindheit, sexuelle Gewalt im Erwachsenenalter, depressive Störungen
Diagnostik
Ab 1990 wurde die Diagnose des FMS meist unter Anwendung der Klassifikationskriterien
des American College of Rheumatology (ACR) [14]
gestellt. Allerdings erfüllte bis zu ein Viertel der Patienten, bei denen ein FMS
diagnostiziert worden war, die ACR Klassifikationskriterien nicht [5]. Deshalb war es notwendig, neue Kriterien für die
Diagnosestellung des FMS zu entwickeln. Wolfe et al. führten dafür im Jahr 2010
schließlich eine Multicenter Studie mit Patienten mit FMS und einer Kontrollgruppe
mit Patienten, die an einer nicht-entzündlichen rheumatischen Erkrankung litten,
durch. Hieraus wurden die vorläufigen Diagnosekriterien nach ACR 2010 entwickelt
[5].
Diagnosekriterien des FMS – ACR 2010 [5]
Die Diagnosekriterien sind erfüllt, wenn die folgenden drei Bedingungen vorhanden
sind:
-
Widespread Pain Index (WPI) ≥ 7 und Symptom Severity (SS) Scale Score ≥ 5
oder WPI 3–6 und SS ≥ 9
-
Die Symptome bestehen in ähnlicher Intensität seit mindestens drei
Monaten.
-
Der Patient leidet nicht an einer anderen Krankheit oder Störung, die die
Beschwerden und Schmerzen erklärt.
In der ursprünglichen ACR 2010 Version wurde eine Vielzahl vegetativer und
funktioneller Symptome abgefragt und bezüglich Anzahl und Stärke bewertet. Da
dies jedoch für den klinischen Alltag zu umfangreich war, wurde eine
vereinfachte Symptomabfrage (drei Symptome stellvertretend) entwickelt, die eine
ähnliche Zuverlässigkeit wie die ursprüngliche Version zeigte ([
Abb. 1
]; Abschnitt II.). Um die
modifizierten und sogenannten „vorläufigen Diagnosekriterien ACR 2010, 2011
modifizierte Kriterien“ [15] zu erfüllen, ist
die Angabe von mindestens 7 Schmerzorten an 19 möglichen Lokalisationen des
„Widespread Pain Index“ (WPI) ([
Abb.
1
]; Abschnitt III.) [15], [16] und zusätzlich ein Score der Symptom
Severity Scale von ≥ 5 von maximal 12 Punkten ([
Abb. 1
]; Summe Abschnitte I. und II.) nötig. Die Kriterien
sind auch erfüllt, wenn an 3–6 definierten Regionen (WPI) Schmerzen auftreten
und eine Symptomschwere von ≥ 9 vorliegt. Somit wird die Diagnose
Fibromyalgiesyndrom vergeben bei Vorliegen von WPI ≥ 7 und SS ≥ 5 oder WPI 3–6
und SS ≥ 9 [5]. Vorausgesetzt wird, dass auch
der Abschnitt IV des FMS-Symptomfragebogens mit „Ja“ beantwortet wird oder die
Beschwerden im WPI (I.) und SS (II. + III.) zumindest die letzten drei Monate
ähnlich vorhanden waren.
Abb. 1 Fibromyalgiesymptomfragebogen [18]. (Quelle: AWMF, DGSS, Hrsg. S3-Leitlinie
Fibromyalgiesyndrom Langfassung, 2. Aktualisierung, 2017. Im
Internet:
https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/145–004l_S3_Fibromyalgiesyndrom_2017–12.pdf;
Stand: 04.03.2019; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)
Nach der Fibromyalgie Leitlinie sollen folgende diagnostische Schritte vor der
Vergabe der Diagnose Fibromyalgiesyndrom durchgeführt werden [17], [18]:
-
Ausfüllen einer Schmerzskizze und des Fibromyalgiesymptomfragebogens
-
explizite Exploration weiterer Kernsymptome (u. a. Müdigkeit,
Schlafstörungen)
-
vollständige medizinische Anamnese (u. a. Abfrage psychiatrischer
Erkrankungen und Behandlungen), vollständige Medikamentenanamnese
-
vollständige körperliche Untersuchung (inkl. der Haut sowie des
neurologischen und orthopädischen Befunds)
-
Labor: kleines Blutbild, Blutsenkungsgeschwindigkeit, C-reaktives
Protein, Kreatininkinase, Kalzium, TSH, 25-OH-Vitamin D
-
nur bei Verdacht auf andere Pathologien als Ursache für die Symptomatik
ist weitere Diagnostik zu veranlassen
Vereinfacht wird der Prozess der Diagnosestellung folgend in [
Abb. 2
] dargestellt.
Abb. 2 Algorithmus Diagnosestellung mit modifizierter Darstellung
nach Leitlinie ([17]; Darstellung wie
in eingereichter Dissertation von Oettl B. [19]). (Quelle: B. Oettl; graf. Umsetzung: Thieme
Gruppe)
Trotz vorhandener Leitlinien und vereinfachter Kriterien zur Diagnosestellung
berichten Patienten noch häufig über einen langen Weg bis zur Diagnosestellung,
was unter anderem hohe Kosten für das Gesundheitssystem mit sich bringt und mit
einer Verschlechterung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität einhergeht. Nach
Diagnosestellung können sowohl Kosten gesenkt als auch die Lebensqualität
gebessert werden [20], [21], [22].
Deswegen ist eine rasche leitlinienbasierte Diagnosestellung mit Erfassung von
Funktions- und Aktivitätseinschränkungen wichtig, um eine leitliniengerechtes
und auf die individuelle Situation und Begleiterkrankung abgestimmtes
Therapiekonzept zu erstellen und zu starten.
Therapieansätze beim Fibromyalgiesyndrom
Therapieansätze beim Fibromyalgiesyndrom
Bei den allgemeinen Behandlungsgrundsätzen nach der Leitlinie [23] steht an erster Stelle, die Betroffenen über die
Erkrankung zu informieren. Unter Berücksichtigung der Patienten-Präferenzen, der
Begleiterkrankungen sowie bisheriger Therapien soll eine gemeinsame
Entscheidungsfindung mit den Betroffenen über realistisch erreichbare Ziele und die
Anwendung verschiedener Therapieoptionen erfolgen. Realistisches Ziel ist eine
Verbesserung der Funktion und Lebensqualität, nicht jedoch Schmerzfreiheit. In
Abhängigkeit vom Schweregrad des FMS oder von den vorhandenen
Aktivitätseinschränkungen wird eine stufenweise Behandlung empfohlen. Dabei stehen
individuell dosierte und auf längere Sicht selbstständig durchführbare
Therapiemaßnahmen im Vordergrund.
Die Behandlung des FMS orientiert sich an der aktuellen S3-Leitlinie
Fibromyalgiesyndrom von 2017 [18]. Als wichtige
Therapiesäulen werden hier physikalische Therapieverfahren wie zum Beispiel
dosiertes Ausdauer-/Krafttraining, Balneo-/Hydrotherapie, meditative
Bewegungstherapien (z. B. Qigong, Yoga, Feldenkrais) und
kognitive-/Verhaltenstherapie für einen besseren Umgang mit den Beschwerden genannt.
Medikamentöse Therapieoptionen sind oft begrenzt. Amitriptylin wird von Patienten
mit FMS häufig in sehr geringer Dosierung als hilfreich für den Schlaf und teils
auch für Schmerz empfunden. Je nach individueller Situation kann die Therapie
abhängig von Aktivitätseinschränkungen und Begleiterkrankungen meist ambulant
durchgeführt, teils auch teilstationär oder stationär notwendig werden. Bei
verstärkten Aktivitätseinschränkungen wird ein multimodales Therapiekonzept
empfohlen [24]. Als wichtigster Zielparameter
sollen die Lebensqualität und die Funktionsfähigkeit für Alltagsaktivitäten
fokussiert, erhalten und optimiert werden.
Die S3-Leitlinie Fibromyalgiesyndrom empfiehlt bei einer schweren Ausprägung des
FMS eine multimodale Therapie [18].
Der Start oder die Optimierung eines regelmäßigen Trainings, oft beginnend in
kleinen, möglichst leicht ausführbaren Schritten, kann psychoedukativ, im Rahmen
eines ärztlich verordneten Funktionstrainings oder Rehasports sowie einer
Physiotherapie als Einzeltherapie (KG kann bei Indikationsschlüssel CSa verordnet
werden) unterstützt werden. Individuelle Anleitung zur Selbsthilfe fördert
Selbstkompetenz, eigenverantwortliches Handeln, Akzeptanz und Lebensqualität. Die
Betroffenen sollen in der Lage sein, die Strategien langfristig selbst und
unabhängig durchzuführen.
Im Rahmen diese Artikels wird insbesondere auf für Physiotherapeuten relevante
Therapieverfahren inklusive psychoedukativer Handlungsstrategien eingegangen.
Physiotherapie, Ergotherapie, Physikalische Verfahren
Physiotherapie, Ergotherapie, Physikalische Verfahren
Leitlinie FMS: starke positive Empfehlung [18], [25]
Mit jeweils geringer bis mittlerer Intensität, in einer Frequenz von zwei bis
dreimal pro Woche für mindestens eine halbe Stunde (zu Beginn gegebenenfalls
auch in kürzeren Zeitintervallen):
-
Ausdauertraining (zum Beispiel schnelles Spazierengehen, Walking,
Fahrradfahren, Ergometertraining, Tanzen oder Aquajogging)
-
Trocken- und Wassergymnastik ([
Abb.
3
], [
Abb. 4
])
(Kombination von aerobem Training, Flexibilitäts-, Koordinations- und
Kräftigungsübungen), auch als Funktionstraining. Besonders, wenn
aufgrund kognitiver oder physischer Beeinträchtigungen eine autonome,
kontinuierliche Durchführung eines Übungsprogramms nicht oder noch nicht
möglich ist, wird die Verordnung und Durchführung von Funktionstraining
empfohlen.
Abb. 3 Wassergymnastik wird von der S3-Leitlinie
Fibromyalgiesyndrom empfohlen [18]. (Quelle: Rido/adobestock.com
(Symbolbild))
Abb. 4 Funktionstraining wird von der Leitlinie vor allem bei
Patienten empfohlen, die ein Übungsprogramm aufgrund kognitiver oder
physischer Beeinträchtigungen nicht selbstständig durchführen können
[18]. (Quelle: JackF/AdobeStock.com
(Symbolbild))
Leitlinie: positive Empfehlung [18], [25]
Leitlinie: offene Empfehlung [18], [25]
-
Vibrationstraining (Whole Body Vibration, Beschleunigungstraining,
Schwingungstraining mit einer Vibrationsplatte)
-
Muskeldehnung
-
In der aktuellen Leitlinien-Version wurde der klinische Konsenspunkt
ergänzt, dass Physiotherapie und Ergotherapie bei Einschränkungen der
Aktivitäten des täglichen Lebens im Rahmen eines multimodalen
Therapiekonzepts zeitlich befristet erwogen werden können. Dabei kann
die Physiotherapie über Anleitung zu einem dosierten Training und
Vermittlung von Freude an Bewegung einen wichtigen Beitrag leisten.
Leitlinie: keine Empfehlung, aber Expertenempfehlung
Auch wenn in der Leitlinie keine Empfehlung für Physiotherapie bei FMS
ausgesprochen wird, so kann Physiotherapie im Sinne einer Anleitung zur
Selbsthilfe vom Experten angeraten werden. Unter dem Indikationsschlüssel CSa
wird dafür eine ärztliche Heilmittel-Verordnung (KG) ausgestellt. In der
Therapie wird dabei für die verschiedenen Ziele ein Heimprogramm erarbeitet. Die
Übungen werden kontrolliert und optimiert. Nicht hilfreich erscheint es dabei,
wenn sich Therapeuten bei der Erarbeitung von Übungen durch die Patienten wegen
häufig wechselnder Beschwerden, die typisch für ein FMS sind, zu sehr leiten
lassen und damit (in der Regel unbewusst) Quantität vor Qualität bei den Übungen
setzen.
Aufgrund der eigenen 20-jährigen klinischen Erfahrung bei der Behandlung von
Patienten mit dem FMS kann außerdem festgestellt werden, dass für einige der
Betroffenen auch eine Serie Manuelle Therapie bei teilweise begleitend
auftretenden Funktionsstörungen der Wirbelsäule (segmentale Dysfunktionen in den
verschiedenen Abschnitten der HWS, BWS, LWS oder SIG) oder der Gelenke (zum
Beispiel der Schultergelenke bei teils fehlhaltungsbedingtem Impingement)
empfohlen werden kann. Hier handelt es sich dann um die Behandlung von
Begleiterkrankungen oder einer begleitenden Funktionsstörung mit einem anderen
ICD-10-Diagnoseschlüssel als M79.70 für FMS.
Weitere Expertenempfehlungen
Zu Thermotherapie gibt es viele Rückmeldungen von FMS-Betroffenen im Deutschen
Fibromyalgie-Verbraucherreport [26], [27], allerdings bisher keine ausreichende
Evidenz für leitlinienbasierte Empfehlungen. Von den Patienten wird in der Regel
Wärme als hilfreichste Therapie genannt [26],
[27]. Wegen geringer Gefahren und leicht
umsetzbarer Selbstanwendung kann, soweit keine Kontraindikationen bestehen,
lokale Wärme oder Wärme in vielen Körperregionen (Vollbad, Sauna, IR-Kabine) bei
Bedarf ergänzend eingesetzt werden. Auch wenn im Verbraucherreport Kälte (zum
Beispiel auch lokale Kälte) als häufig schädlich beurteilt wird, so kann mit
einer Kälteanwendung, zum Beispiel Eiswickel oder kalte Güsse, im Rahmen eines
multimodalen Therapieprogrammes in geschützter Umgebung und mit Anleitung oft
eine positive Wirkung wahrgenommen werden.
Psychotherapie und psychologische Verfahren [18], [28]
Psychotherapie und psychologische Verfahren [18], [28]
Eine starke Empfehlung gibt es nach aktueller Leitlinie FMS für Kognitive
Verhaltenstherapie [28]. Diese soll bei
FMS-Betroffenen bei maladaptiver Krankheitsbewältigung (Katastrophisieren,
Vermeidungsverhalten, dysfunktionellen Durchhaltestrategien), bei relevanter
Modulation der Beschwerden durch Alltagsstress und/oder interpersonellen Probleme
und/oder komorbid psychischen Störungen durchgeführt werden.
Offene Empfehlungen nach Leitlinie („… kann erwogen werden“) gibt es für
psychotherapeutisch eingesetzte Verfahren wie Biofeedback, Hypnose und geleitete
Imagination.
Medikamentöse Behandlung [18], [29]
Medikamentöse Behandlung [18], [29]
Das von der Weltgesundheitsorganisation vorgeschlagene Stufenschema zur Behandlung
chronischer Schmerzen greift beim FMS nicht.
-
Aufgrund möglicher Gefahren durch Nebenwirkungen gibt es in der aktuellen
Leitlinienversion eine negative Empfehlung für NSAR.
-
Eine stark negative Empfehlung gibt es für starke Opiate wegen möglicher
Nebenwirkungen und eines Abhängigkeitsrisikos sowie fehlender analgetischer
Effekte.
-
Aufgrund fehlender Studien ist keine positive oder negative Empfehlung für
Paracetamol und Metamizol möglich. Wegen relativ geringer Nebenwirkungsraten
ist dies schon die beste Empfehlung, die für reine Analgetika ausgesprochen
werden kann.
-
Empfohlen wird der Einsatz von Amitriptylin in kleiner Dosis von 10–50 mg,
früh am Abend (um möglichst wenig Überhang des dämpfenden Medikamentes zu
haben). Dieses trizyklische Antidepressivum ist in Deutschland zur
Behandlung chronischer Schmerzen im Rahmen eines Gesamttherapiekonzeptes
zugelassen.
-
Bei psychiatrischen Begleiterkrankungen, depressiven Störungen oder
generalisierter Angststörung können ärztlich je nach Art der Beschwerden
sowie Ansprechen auf die Medikation Duloxetin (soweit nicht ausreichend
antidepressiv wirksam gegebenenfalls Quetiapin oder auch andere
Antidepressiva) oder bei generalisierter Angststörung Pregabalin empfohlen
werden.
Es ist zu betonen, dass bei allen Medikamentenempfehlungen, die in der aktuellen
Leitlinie ausgesprochen wurden, mangels Studien mit längerem Beobachtungszeitraum
stets die zeitliche Befristung und wiederholte Indikationsprüfung empfohlen
werden.
Multimodale Therapie
Bei der leitlinienbasierten Feststellung, dass das bio-psycho-soziale Modell
bezüglich Prädisposition, Auslösung und Chronifizierung zu beachten ist, erscheint
es für chronifizierte Patienten mit FMS nur logisch, bei Aktivitätseinschränkungen
auch eine multimodale Therapie einzusetzen. Diese ist definiert als eine Kombination
aus mindestens einem körperlich aktivierenden Verfahren (Ausdauer-, Kraft-,
Flexibilitätstraining) und mindestens einem psychotherapeutischen Verfahren
(Patientenschulung und/oder Kognitive Verhaltenstherapie). Multimodale Therapie kann
ambulant oder teilstationär/stationär in multidisziplinären
Gruppentherapieprogrammen durchgeführt werden. Nach Leitlinie soll ein multimodales
Therapieprogramm mindestens 24 Stunden umfassen [18], [24].
Therapiemodule
Im Rahmen der mittlerweile 20-jährigen Erfahrung mit der Behandlung von Patienten
mit FMS in vierwöchigen multimodalen Behandlungsprogrammen haben sich folgende
ineinandergreifende Therapiemodule etabliert und können für viele Patienten als
hilfreich beschrieben werden:
Über einen Zeitraum von 4 Wochen befinden sich die Teilnehmer von Montag bis
Freitag ganztägig in der Klinik. Das Programm umfasst insgesamt mehr als 100
Therapieeinheiten à 45–90 Minuten.
Folgende Therapiebereiche bilden die Bausteine unseres multidisziplinären
Gruppen-Programms (Auflistung nach zeitlichem Einsatz von Therapiestunden):
-
Physiotherapie (Kleingruppen 5–6 Pat., teils 10–12 Pat.)
-
Psychologie (Kleingruppen 5–6 Pat., teils 10–12 Pat.,
Einzelsprechstunden)
-
Ergotherapie (Kleingruppen 5–6 Pat.)
-
Hydro- Balneotherapie (Kleingruppen 5–6 Pat.)
-
Ärztliche Information und Beratung (meist 10–12 Pat.,
Einzelsprechstunden)
Inhalte der Physiotherapie
In den fast täglichen Physiotherapiestunden sind die übergeordneten Ziele:
-
Erlangen von Selbst- und Gesundheitskompetenz
-
bessere Schmerzbewältigung
-
gesteigerte Ausdauer
-
bessere Beweglichkeit und Koordination
-
mehr Bewegungsfreude im täglichen Leben
Die Ziele werden in Gruppenstunden mit den Teilnehmern Schritt für Schritt
erarbeitet.
Aufwärmen, spielerisches Bewegen, aktive Bewegung wie Gehen/Laufen, Dehn-,
Mobilisierungs- und Koordinationsübungen, auch mit Musik, können als Inhalte
genannt werden. Hierbei steht das gezielte Erlernen und individuelle Variieren
einfacher und effektiver Übungen im Vordergrund. Die Teilnehmer sollen in der
Lage sein, das Erlernte leicht in den Alltag integrieren zu können [30]. Somit kommt es zu einer allgemeinen
Steigerung der physischen und psychischen Leistungsbereitschaft. Die Teilnehmer
stimmen sich auf ihre Gruppe ein und werden für die nachfolgenden
Bewegungsaufgaben sensibilisiert. Ein weiterer Schwerpunkt ist das Erarbeiten
von gezielten Stabilisations- und Gleichgewichtsübungen. Hierbei werden den
Teilnehmern verschiedene Übungsgeräte für ein abwechslungsreiches und an die
individuelle Fitness angepasstes Training, auch zur Verbesserung der
Körperwahrnehmung, vorgestellt. Für ein besseres Verständnis der körperlichen
Funktionen werden die muskulären Zusammenhänge anschaulich mit Bildern erklärt.
Kurze Theorieeinheiten vermitteln Kenntnisse zur Wirkung und Durchführung der
angebotenen Übungen. Damit wird die Umsetzung unterstützt und versucht,
Einstellungen und Verhaltensweisen positiv zu beeinflussen [30]. Entspannung und Körperwahrnehmung
unterstützen das Erreichen eines aktuellen und langfristigen Wohlbefindens,
bewirken eine psychische und physische Gelöstheit und helfen dem Teilnehmer
verkrampfte Muskelpartien zu lösen [30]. Im
Rahmen der Tagesklinik für Fibromyalgie arbeiten die Physiotherapeuten außerdem
mit Techniken aus dem Tai Chi, Qigong (in der Leitlinie im Rahmen Komplementären
Therapieverfahren empfohlen [31]) und der
Progressiven Muskelrelaxation (PMR).
Durch oben genannte Maßnahmen soll es jedem Teilnehmer, unabhängig von seiner
aktuellen körperlichen Verfassung, möglich sein, den Bewegungsapparat gezielt
und regelmäßig im Alltag zu entlasten und zu unterstützen. Im Laufe der
Tagesklinik werden die Teilnehmer folglich im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe
angeleitet, um dann eigenverantwortlich und selbstständig Gesundheitsressourcen
zu mobilisieren.
Inhalte der Psychotherapie
Im Rahmen der fast täglich stattfindenden Psychotherapiestunden sollen neue Wege
und individuelle Möglichkeiten erarbeitet werden, auf den Schmerz Einfluss zu
nehmen. Dies geschieht beispielsweise durch Aufmerksamkeitslenkung,
Ressourcenarbeit und Strategien zur Stressbewältigung. Dabei wird darauf
geachtet, realistische Veränderungsziele zu definieren und von Beginn an
Verhaltensübungen im Alltag umzusetzen.
Inhalte der Ergotherapie
Das übergeordnete Ziel der ergotherapeutischen Maßnahmen ist es, die
Selbstständigkeit der Patienten im Alltag zu erhalten oder zu fördern. Die
Therapieinhalte lassen sich in die folgenden vier Themenbereiche gliedern:
Inhalte der Physikalischen Therapie
Im Bäderbereich erhalten die Patienten Hydro- und Balneotherapie: Bäder,
Packungen, Elektrotherapie mit dem Schwerpunkt der Anleitung zur Selbsthilfe.
Ziel ist neben der Entspannung auch, Erfahrungen mit verschiedenen Reizen zu
machen und Thermotherapie unterschiedlich zu dosieren.
Inhalte der ärztlichen Informationsstunden
Über die ärztlichen Informations-Stunden und täglichen Visiten erhalten die
Patienten Informationen über das Krankheitsbild, Therapieoptionen und im Rahmen
von Einzelsprechstunden auch über optimierte individuelle Therapieeinstellungen,
teils auch medikamentöse Einstellung. Außerdem wird für alle
Tagesklinikpatienten eine ernährungsmedizinische Informationsstunde über
Reizmagen/-darm und Ernährungsberatung angeboten.
Fazit
Bewegung und Physikalische Therapie sind wichtige Säulen in der Behandlung von
Patienten mit Fibromyalgiesyndrom. Auch wenn es beim Fibromyalgiesyndrom keine
direkte Leitlinienempfehlung für Physiotherapie gibt, so können Physiotherapeuten
über Anleitung zur Selbsthilfe und mit evidenzbasierten Therapieinhalten wie aerobem
Ausdauertraining, Krafttraining oder meditativen Bewegungstherapien einen wichtigen
Beitrag für Funktionsfähigkeit und Lebensqualität der Betroffenen leisten.