Manfred Wildner
Damit wird der Standpunkt auch zur (gesundheits)politischen Frage. Eine Definition
von Politik als „die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens durch verbindliche
Entscheidungen“ [2] ist dabei nur eine erste Annäherung an den schillernden, facettenreichen Begriff
„Politik“ und bedarf weiterer Differenzierungen. In den angloamerikanischen Politikwissenschaften
wird bereits sprachlich eine feinere Unterteilung des Politikbegriffs vorgenommen:
währende policy die inhaltlichen und strategischen politischen Ausrichtungen meint,
bezieht sich die Bezeichnung politics auf – teilweise auch taktisch motivierte – politische
Aushandlungsprozesse. Polity hingegen bezieht sich auf strukturelle und institutionelle
Aspekte wie z. B. die gesetzlich vorgegebenen Organe und Verfahrenswege, innerhalb
derer politische Inhalte ver- und ausgehandelt werden.
Im Gesundheitswesen sind solche gesetzlich vorgegebenen Verortungen von Entscheidungs-
und Aushandlungsprozessen allgegenwärtig und von größter Bedeutung, das Wissen um
die „polity“- Aspekte damit unverzichtbar. Diese politischen Verortungen gründen sich
zum einen in der föderalen Ordnung der Bundesrepublik als demokratischem und sozialem
Bundesstaat (Art. 20 Grundgesetz). Dabei finden sich auf der Bundesebene die Zuständigkeiten
für die verschiedenen Sozialgesetzbücher und die damit auch geschaffenen Körperschaften
und Institutionen: die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, die Unfallversicherung,
die Rentenversicherung. Hinzu kommen direkte staatliche Verwaltungsorgane wie die
obersten (Ministerien) und oberen Bundesbehörden, z. B. Robert Koch-Institut (RKI),
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung (BZgA), aber auch weitere Institutionen mittelbarer staatlicher Verwaltung
wie der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen (IQWiG), das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im
Gesundheitswesen (IQTiG) u.v.a.m. Auf Länderebene betreffen die gegebenen Zuständigkeiten
beispielsweise Forschung und Lehre, die Organisation des Öffentlichen Gesundheitsdienstes,
Krankenhausplanungen und sektorenübergreifende Versorgungsfragen (Landesgremium nach
§90a SGB V). Am bürgernächsten ist letztlich die kommunale Ebene mit Ihren Aufgaben
der Daseinsfürsorge, den von den Bezirken getragenen Kliniken, den regionalen Gremien
wie bspw. den psychosozialen Arbeitsgemeinschaften und den diversen Gesundheitskonferenzen
[3].
Diese Verortungen spiegeln sich, teilweise in Folge der föderalen Ordnung, auch in
den institutionellen Interessen und Leitideen. Beispiele dafür sind die nicht selten
divergierenden Standpunkte von Leistungserbringern in der stationären und ambulanten
Versorgung und den Financiers dieser Leistungen, verkörpert z. B. durch die gesetzlichen
und privaten Krankenversicherungen, welche sich wiederum von den Präferenzen auf Seiten
der Versicherten bzw. Patienten unterscheiden können. Zusätzlich lassen sich auch
innerhalb solcher Akteursgruppen weitere Standpunkte differenzieren: bei den Leistungserbringern
die Interessen der unterschiedlichen Facharztgruppen, z. B. bei den Verhandlungen
der Zuordnung von Punktwerten im ambulanten Bereich oder von Räumlichkeiten und Ressourcen
im stationären Bereich, bei den Financiers der politisch beförderte Wettbewerb zwischen
den Kassen und nicht zuletzt finden sich auch unterschiedliche Interessen und Präferenzen
bei den Versicherten bzw. Patientengruppen selbst, auch abhängig vom jeweils eigenen
Gesundheitszustand oder der jeweils gegebenen finanziellen Leistungsfähigkeit.
Und während bspw. wissenschaftlich oder unternehmerisch geprägte Akteure auf Innovation,
Erneuerung und Änderung im Sinne einer erhofften Verbesserung drängen und dafür auch
bereit sind, Risiken einzugehen, sind Entscheidungsträger in Politik und Körperschaften
öffentlichen Rechts oft konservativ und risikoavers: das Streben nach Erfolg ist eben
doch etwas anderes als das Vermeiden von Misserfolg. Gleichzeitig kann, themenabhängig,
auch das Gegenteil der Fall sein: z.B. das langjährige politische, in weiten Bereichen
erfolglose, Ringen um Fortschritte in der Digitalisierung und damit auch um mehr Effizienz
und Transparenz im deutschen Gesundheitswesen ist ein Geschehen, dass mancherorts
gar nicht verstanden würde. Ein geografisch zu verortendes Gegenbeispiel ist bspw.
Estland mit seiner fortgeschrittenen digitalen Infrastruktur [4].
Deutlich wird so die erhebliche Komplexität und teilweise Vielfachsteuerung im „System
Gesundheitswesen“ [5] mit einer Beeinflussung der vielfältigen Standpunkte durch Regionalität, Professionalität,
institutionelle und persönliche Interessen. So wundert es auch nicht, dass der Erfolg
bzw. Misserfolg von Maßnahmen in hohem Maße eben nicht nur von der Maßnahme selbst,
sondern auch von den verschiedenen Kontexten der (versuchten) Umsetzung mit beeinflusst
wird. Diese Kontextsensitivität trägt noch einmal erheblich zur Komplexität im Gesundheitswesen
bei. „Gib mir einen festen Punkt…“ – dieser Seufzer wird in diesem politischen und
argumentativen Ringen wohl des Öfteren im Stillen formuliert worden sein. Die Auflösung
wiederstreitender Interessen benötigt daher dezidiert auch strukturelle Unterstützungen
im polity-Sinn: Institutionen und institutionalisierte Vermittlungsformen, welche
mit legitimiertem Mandat schlichtend und gestaltgebend und unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit
unterstützen und ermöglichen. Dies kann als eine flankierende Handlungsoption auch
ein beständiges Aussieben von gesundheitspolitischen und pseudowissenschaftlichen
„Fake News“ beinhalten sowie als eine weitere beispielhafte Handlungsoption eine nachhaltige
Anwaltschaft mit langfristiger Perspektive bezüglich verschiedener Verteilungsaspekte.
Diese Sensibilität für regionale und institutionelle Verortungen und Standpunkte spiegeln
und leben auch die Beiträge dieser Ausgabe: Zum Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz
und seiner Notwendigkeit, seinen Zielen und Inhalten, zur Inanspruchnahme der ambulanten
Notfallversorgung in Westfalen-Lippe mithilfe einer medizingeografischen Studie, zur
Bereitschaft zur Teilnahme an der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV),
zur ambulanten Notfallversorgung von Pflegeheimbewohner aus pflegerischer Sicht, ebenso
der Beitrag zu Family Health Teams in Ontario, die Vorstellung eines kanadischen Primärversorgungsmodells
mit Anregungen auch für Deutschland, die Befragung der Bevölkerung zur hausärztlichen
Versorgungssituation und zur Einführung neuer Versorgungsformen in schwer zu versorgenden
Regionen, die systematische Übersicht zur Epidemiologie des Dekubitus in Deutschland
sowie die Ergebnisse einer Befragung von Hausarztpatienten zu Patientenverfügungen
in Hausarztpraxen.
Der praktische Nutzen solcher Überlegungen zu Orten, Verortungen und damit ein Stück
weit vorgegebenen Standpunkten? Die Frage nach dem „archimedischen Punkt“, einem festen
und sicheren Boden als Grundlage eines Standpunktes ist nur ein Aspekt. Häufig bestimmt
auch unsere institutionelle Verortung unsere Sichtweise: wo wir sitzen, d. h. wo unser
Schreibtisch steht, bestimmt oft auch, wo wir argumentativ stehen. Die unterschiedlichen
Standpunkte zu kennen und zu erkennen, ist eine Notwendigkeit, die keinem und keiner
im Gesundheitswesen Tätigen erspart bleibt und gleichsam die Voraussetzung dafür ist,
wirksam den einen oder anderen Hebel anzusetzen. Dieses Erkennen sollte dabei auch
eine Reflexion der eigenen impliziten und expliziten Standpunkte beinhalten: Auch
unser Schreibtisch hat seinen Ort. Institutionelle Interessen sind legitim, allerdings
nicht absolut zu setzen und so hat der Hebel, den wir ansetzen wollen oder sollen,
nicht nur den technischen Aspekt der Wirksamkeit, sondern in seiner Hebelrichtung
und Motivation auch eine moralische Dimension. Um etwas, im Sinne „guter Stewardship“
[6], auch in die „richtige“ Richtung bewegen zu können, bedarf es neben den Institutionen
und Verfahren, gerade im Gesundheitswesen, als archimedischem Punkt v. a. auch tragfähiger,
transparenter und akzeptierter gemeinsamer Stand- und Eckpunkte. Standpunkte, welche
sich mit dem Anspruch von Humanität, neben Qualität und Wirtschaftlichkeit (§ 70 SGB
V), vor allem auch in den gesellschaftlich verbindenden Werten gründen, welche menschliche
Gemeinschaft erst ermöglichen. Soziale Verantwortung, Mitgefühl und Reziprozität als
Grundlagen von Fairness und Würde sollten im Gesundheitswesen als quasi-archimedische
Standpunkte keine Frage des Standpunktes sein [7]
[8]
[9].