Nervenheilkunde 2019; 38(10): 707-709
DOI: 10.1055/a-0949-1444
Zu diesem Heft
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nervenheilkunde

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Stefanie Förderreuther
1   Neurologische Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians Universität München Neurologischer Konsiliardienst am Campus Innenstadt
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
15 October 2019 (online)

 
Zoom Image
PD Dr. Stefanie Förderreuther Neurologische Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians Universität München Neurologischer Konsiliardienst am Campus Innenstadt Quelle: privat

40 Jahre DMKG – ein Themenheft zum Kopfschmerz

Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) feiert ihr 40-jähriges Jubiläum und gibt aus diesem Anlass das vorliegende Themenheft zum Thema Kopfschmerzen heraus. Es lohnt sich einen Blick auf die Historie der Kopfschmerzforschung und Versorgung von Kopfschmerzpatienten in Deutschland und der Welt zu werfen. Als die heutige DMKG unter dem Namen Deutsche Migränegesellschaft von Prof. Dieter Soyka gegründet wurde, war Kopfschmerz ein absolutes Nischenthema. Die Neurologie verstand sich noch nicht als therapeutisches Fach, und es gab praktisch keine Kopfschmerzforschung in Deutschland. In der Zeit bis heute hat sich durch internationale Forschungsaktivitäten Vieles verbessert – oft unter Beteiligung von Wissenschaftlern und Klinikern aus den Reihen der DMKG [1].

Die Gründungsväter der DMKG verstanden es, junge Forscher für die Thematik zu begeistern, finanziell zu fördern und die tatsächliche Bedeutung von Kopfschmerzerkrankungen insbesondere der Migräne als deren wichtigste und häufigste Vertreterin ins Bewusstsein zu bringen. 1982 wurde die Internationale Kopfschmerzgesellschaft (IHS) offiziell gegründet. Bereits 3 Jahre später wurde auch die DMKG in der internationalen Organisation Mitglied und entsendet seit 1985 einen Repräsentanten aus dem DMKG-Präsidium in die IHS. Die erste systematische Kopfschmerzklassifikation erschien 1988 und löste eine bis dahin gebräuchliche rudimentäre Klassifikation aus dem Jahr 1962 ab. Dies war der wesentliche Grundstein für die Kopfschmerzforschung, da es nun erstmals möglich war, die verschiedenen Phänotypen von Kopfschmerz anhand objektiver Kriterien zu differenzieren. Inzwischen liegt die Internationale Kopfschmerzklassifikation in der 3. Auflage vor. Sie wurde unter Mitarbeit von DMKG Mitgliedern verfeinert, erweitert und ist die absolut unverzichtbare Basis für die Weiterentwicklung des Fachs Kopfschmerz, da sich Struktur und Aufbau der Klassifikation gleichermaßen für die Anwendung in Klinik und Forschung eignen. Es konnten daher beispielsweise Medikamentenstudien nach immer besseren Kriterien, die modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, durchgeführt werden. Sie sind die Basis für die Entwicklungen von Leitlinien in der Kopfschmerztherapie.

Schon 1944 wurde die cortical spreading depression im Tierexperiment entdeckt. Sie galt seither als Korrelat für die Migräneaura. Elektrophysiologische und bildgebende Untersuchungen mittels funktioneller Kernspintomographie konnten inzwischen gute Belege dafür liefern, dass sich in der Auraphase beim Menschen tatsächlich derartige Potentialschwankungen über den Kortex ausbreiten [2]. Zudem wurde mittels elektrophysiologischer Untersuchungen gezeigt, dass der Kortex von Patienten mit Migräne auch außerhalb der Attacke Besonderheiten aufweist und beispielsweise auf wiederholte Stimulationen mit einer verminderten Habituation reagiert [3]. Zumindest für einige seltenen Formen der familiär hemiplegischen Migräne hat die Genforschung Erklärungsmodelle für diese Phänomene geliefert: Es konnten spezifische genetische Subtypen identifiziert werden, bei denen Mutationen in Genen vorliegen, die für einen Kalziumkanal, für eine K/Na-ATPase bzw. für einen Natriumkanal kodieren [4].

In den 1980er- und 1990er-Jahren entwickelte sich die Grundlagenwissenschaft mit Tiermodellen zu Migräne und Clusterkopfschmerz. Die Entdeckung der neurovaskulären Entzündung als pathophysiologisches Korrelat für den Migräne- und Clusterkopfschmerz führte nicht nur zur Entwicklung der Triptane als spezifische Substanzen der Akuttherapie von Migräne und Clusterkopfschmerz [5]. Die auch beim Menschen nachweisbaren Abläufe der neurovaskulären Entzündung belegten einmal mehr die Bedeutung der Migräne als eine hirnorganische Erkrankung. Inzwischen haben die Triptane die bis dahin als einzige spezifische Akuttherapie verfügbaren Ergotamin-Präparate nahezu vollständig abgelöst. Mit der Entwicklung der Triptane war der erste Meilenstein in der Akuttherapie von Migräne und Clusterkopfschmerz erreicht, denn durch ihre wesentlich bessere Verträglichkeit und Wirkung sind sie bis heute ein Segen für viele Betroffene [6]. Das Wissen um die wichtigsten Mediatoren der neurovaskulären Entzündung war letztlich auch der Grundstein für die Entwicklung der ersten spezifischen Migräneprophylaktika, den CGRP-(Rezeptor)Antikörpern, die erst seit Ende des letzten bzw. Anfang dieses Jahres zur Verfügung stehen und in Studien belegen konnten, dass durch Blockade von Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) bzw. dessen Rezeptor eine signifikante Reduktion der Attackenfrequenz von Migräne und episodischem Clusterkopfschmerz erreicht werden kann. Mit dem neuen Wirkprinzip steht uns für die Prophylaxe der Migräne nicht nur eine neue Substanzklasse zur Verfügung, sondern auch eine Therapieform, die sich im Vergleich zu den etablierten Substanzen durch eine deutlich bessere Verträglichkeit auszeichnet [7].

Schon im Jahr 2000 wurde die große epidemiologische Erhebung der DMKG konzipiert. Sie lieferte nicht nur eine aktuelle Bestandsaufnahme der Kopfschmerzprävalenz in Deutschland, sondern auch eine Grundlage für zahlreiche wissenschaftliche und gesundheitspolitische Initiativen und ermöglichte, aufgrund zuverlässiger Daten aus Deutschland weitere klinische Forschung zu betreiben [8], [9]. Die epidemiologischen Daten aus Deutschland und vielen anderen europäischen und außereuropäischen Ländern zeigten viele weitere Aspekte auf, die aus der heutigen Kopfschmerztherapie nicht mehr wegzudenken sind: Die hohe Komorbidität von Migräne, aber z. T. auch von Clusterkopfschmerz mit psychiatrischen Störungen, insbesondere Depressionen und Angsterkrankungen, ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko bei Patienten mit Migräne, vor allem bei der Migräne mit Aura, aber auch die Erkenntnis, dass der Chronifizierung von Kopfschmerzerkrankungen ein enormer Stellenwert zukommt [10], [11]. Ca. 2 % der Bevölkerung hat chronische Kopfschmerzen, also über mindestens 3 Monate mehr Tage mit Kopfschmerzen als ohne [12]. Die ganz überwiegende Mehrheit dieser Patienten weist als Grunderkrankung eine Migräne auf. Lange wurde diskutiert, ob die Chronifizierung bei der Migräne allein auf einem Medikamentenübergebrauch beruht oder ob es auch reine Formen einer chronisch verlaufenden Migräne ohne Medikamentenübergebrauch gibt [13]. Heute besteht Konsens darüber, dass es eine chronische Migräne ebenso gibt wie den chronischen Clusterkopfschmerz.

Moderne Therapiekonzepte berücksichtigen alle genannten Facetten der Migräne: Komorbiditäten ebenso wie psychische Faktoren, aber auch Begleitumstände aus dem beruflichen wie privaten Umfeld, die vor allem bei schwer Betroffenen wesentlich zur Chronifizierung beitragen und nicht allein durch eine noch so gezielte und spezifische Pharmakotherapie behandelt werden können. Gerade Patienten mit einem hohen Risiko der Chronifizierung, bedürfen einer guten Kooperation von Hausärzten mit Neurologen und Schmerztherapeuten, aber auch mit Psychologen und Physiotherapeuten. Der DMKG ist es ein Anliegen, der großen Zahl von Kopfschmerzpatienten dabei zu helfen, die jeweils angemessene Behandlung zu erhalten. Die DMKG bietet deshalb vermehrt Fortbildungen für Allgemeinmediziner und hausärztliche Internisten an, um den Aufbau von regionalen Versorgungsstrukturen zu verbessern und solide Grundlagen für eine bedarfsgerechte Kopfschmerztherapie zu schaffen. Mit den Fortbildungsangeboten der DMKG, der Möglichkeit ein persönliches Kopfschmerzzertifikat zu erwerben und die eigene Praxis als Kopfschmerzzentrum zu zertifizieren, können Versorgungsschwerpunkte geschaffen und für die Patienten sichtbar gemacht werden.

Die Aktivitäten der DMKG werden im 5. Jahrzehnt ihres Bestehens darauf abzielen, mit dem DMKG Kopfschmerzregister die Dokumentation der Kerndaten, die für die diagnostische Einordnung von Kopfschmerzen und eine moderne Kopfschmerztherapie unerlässlich sind, zu erleichtern und anhand der Daten die wissenschaftliche Grundlage zu schaffen, die Aufwendungen bei der Behandlung von Kopfschmerzpatienten auch im Gesundheitswesen abzubilden. Die DMKG wird mit einer Kampagne bei Ärzten und nicht ärztlichen Therapeuten Awareness schaffen für eine Erkrankung, die in der Zukunft nicht länger in WHO-Studien bei den unter 50-Jährigen den ersten Platz einnehmen soll, wenn nach den Jahren gefragt wird, die durch die Beeinträchtigung durch eine Erkrankung verloren gehen [14]. Denn noch werden Migräne und Kopfschmerzen leider auch in Deutschland in ihrer Bedeutung unterschätzt und nicht ausreichend therapiert [15]. Das vorliegende Heft liefert ihnen einen Überblick über einige aktuelle Entwicklungen. Migräne und andere Kopfschmerzerkrankungen sind therapeutisch lohnend und wissenschaftlich ein interessantes, spannendes Gebiet. Man darf davon ausgehen, dass die Forschung unsere Therapieoptionen auch in den kommenden Jahren voranbringen wird. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende Lektüre bei diesem Themenheft.

Stefanie Förderreuther, München


#
#

Zoom Image
PD Dr. Stefanie Förderreuther Neurologische Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians Universität München Neurologischer Konsiliardienst am Campus Innenstadt Quelle: privat