Einleitung
Ein gutes Netzwerk ist alles – nicht nur für Spinnen! © bubblegirlphoto – adobe.stock.com
[rerif]
Anatomiebücher zeichnen sich sowohl in der Human- als auch in der Veterinärmedizin
durch eine Darstellung der Muskelbäuche mit Ursprung und Ansatz aus. Das begleitende
spezialisierte Bindegewebe und Verbindungen zu anderen Strukturen im Sinne von „inneren
Häuten“ wurden über viele Jahre wenig beachtet. Wissenschaftliche Daten untermauern,
dass Faszien als spezialisiertes Bindegewebe biomechanische, strukturelle und funktionelle
Eigenschaften besitzen. Seit 2007 findet regelmäßig ein internationaler Faszienforschungskongress
statt und erst vor wenigen Jahren ist ein eigener Anatomie-Atlas zur menschlichen
Faszienanatomie erschienen.
Nomenklatur von Faszien
Die Nomenklatur von Faszien wird in der Fachwelt diskutiert [1]. Im klassisch anatomischen Sinne werden Faszien entsprechend der anatomischen Lokalisation
systematisch bezeichnet wie beispielsweise die Fascia thoracolumbalis, die Brust-
und Lendenwirbelsäule umspannt. Im Gegensatz dazu wird das Wort „Faszie“ im Sport
oder auch anderen Bereichen unscharf und beinahe synonym zu dem Begriff „Bindegewebe“
eingesetzt.
Seit dem 1. internationalen Faszienforschungskongress an der Harvard Medical School
beschäftigt sich ein Expertengremium mit der Nomenklatur. Wesentliche Eigenschaften
einer Faszie sind demnach flächige kollagenöse Strukturen mit einer dreidimensionalen Vernetzung im Körper. In diesem Sinne könnten auch bandartige Strukturen, Gelenk- und Organkapseln
als fasziales Bindegewebe bezeichnet werden.
Aufgaben von Faszien
Der Körper wird durch ein System von Druck und Spannung stabilisiert, in welchem Faszien
die Verbindungen der Elemente darstellen und der Kraftübertragung dienen. Die Knochen sind in diesem System als stabilisierende Elemente eingebunden,
d. h. dass das Skelett nicht das Gerüst für die Weichteile darstellt, sondern die
Faszie die Form bestimmt und als Metasystem Verbindung zu allen physiologischen Funktionen hat.
Abgesehen von der Kraftübertragung der Muskelkraft auf die Knochen und von Muskel
zu Muskel, als Voraussetzung jeglicher Bewegung, spielen Faszien auch eine Rolle in
der Speicherung von Energie. Bei Belastung werden diese Gewebe gespannt und setzen ihre so gespeicherte Energie
in Form von Bewegung wieder frei, wobei sich die Länge des Gewebes dabei zum Teil
nur geringfügig verändert. Die Art der Anordnung der Bindegewebszellen in den verschiedenen
Faszien und deren Verbindungen untereinander (crosslinks) haben dabei großen Einfluss
auf die physikalischen Eigenschaften. Wer schon einmal aus Versehen einen Wollpullover
in den Trockner gesteckt hat, konnte selbst feststellen, welche Auswirkungen eine
Veränderung der Struktur auf die Eigenschaften des Gewebes haben kann. Ähnlich verhält
es sich mit der Vorstellung in einem zu kleinen Taucheranzug zu stecken.
Schädigungen durch Trauma, Operationen, Narben oder auch der natürliche Alterungsprozess haben Auswirkungen auf die Struktur der Faszien, die dann funktionelle Beeinträchtigungen
nach sich ziehen. So nimmt im Alter nicht nur die generelle Fähigkeit der Zellen,
Wasser zu speichern, ab. Auch die Zusammensetzung der Matrix (der Substanz zwischen
den Zellen) ändert sich. In den energiespeichernden Sehnen nimmt das enthaltene Elastin
mit dem Alter ab [2]. Elastin ist ein für die Vernetzung von Gewebe wichtiges Strukturprotein. Dies führt
zu einer erhöhten Desorganisation des Gewebes und einer verringerten Fähigkeit, Energie
zu speichern.
In Bezug auf die Histologie der Faszie der Vordergliedmaße des Pferdes stellten Untersuchungen
fest, dass die generelle Struktur jener Struktur der menschlichen tiefen Faszie der
Beine entspricht [3].
Die Form folgt der Funktion (FFF): Dieser Begriff entstammt der Architektur. Ähnlich
verhält es sich mit dem Körper, wobei Faszien das formgebende Gewebe des Körpers sind.
Sie durchziehen den gesamten Körper und ähnlich einer aufgeschnittenen Orange [Abb. 1]. geben sie dem Zellverbund, der einen hohen Wassergehalt aufweist, ihre Form. Betrachtet
man ein gut trainiertes Tier oder das Sixpack eines Menschen, so sind das, was sich
als Muskelgruppe darstellt, im Grunde genommen Faszien. Man kann oberflächliche Faszien
also sehen. Der geübte Manualtherapeut „sieht“ auch die tiefer liegenden Faszien –
mit den Händen. Übung macht auch hier den Meister, denn auch die Wahrnehmung von pathologischen
Veränderungen in Faszienstrukturen muss das sensorische System des Therapeuten erst
trainieren.
Abb. 1 Wie bei einer Orange wird unser Körper von Faszien durchzogen und in kleine Kompartimente
unterteilt. © Doris Börner
Bei der Milz des Pferdes hat die Faszie nicht nur eine formgebende Funktion, sondern ist auch für eine besondere
Fähigkeit des Pferdes verantwortlich [Abb. 2]. Bei Pferden sind bis zu 30 % der Erythrozyten in der Milz gespeichert. So ist das
Pferd in der Lage, in einer Fluchtreaktion zusätzliche Reserven aus der Milz in den
Kreislauf abzugeben. Das Pferd ist mithilfe der Faszie als Organkapsel in der Lage,
eine Autotransfusion durchzuführen. Auf diese Weise wird die Versorgung des Körpers, insbesondere der
auf Hochtouren arbeitenden Muskulatur, mit Sauerstoff deutlich verbessert. So manch
ein Profi-Radsportler würde sich sicher auch eine solche Milz wünschen.
Abb. 2 Autotransfusion: Die Milz des Pferdes speichert bis zu 30 % der Erythrozyten und
kann diese Dank des faszialen Gewebes bei der Flucht spontan in den Kreislauf freisetzen.
Hier sieht man am Milzanschnitt eines Sektionspräparats die entspeicherte rote und
weiße Pulpa mit Bauchfell und Kapsel überzogen. © Klinik Karthaus
Eine weitere zentrale Rolle spielen die Faszien auch in der Eigenwahrnehmung des Körpers (Propriozeption). Die gleitenden Schichten melden dem zentralen Nervensystem sensorische
Daten, die zur neuromuskulären Steuerung und Koordination essenziell sind. Kommt es
zu Funktionsverlusten des Gewebes durch ein Trauma (Unfall, Operation, Narbe etc.),
kann dies zu „Falschmeldungen“ führen. Als Folge werden dementsprechend auch falsche Befehle an den Körper als
Bewegungsimpuls zurückgeschickt. Bestehen diese Einschränkungen über einen längeren
Zeitraum, lernt das (autonome) Nervensystem im ungünstigsten Fall alternative Bewegungsabläufe
bzw. Haltungen. Diese Fehlhaltungen und fehlerhaften Bewegungsabläufe können infolge
zu asymmetrischen Belastungen führen, die andere Strukturen (z. B. Gelenke) schädigen.
Propriozeption ist die Tiefensensibilität mit welcher der Körper das zentrale Nervensystem
über die Position und den Zustand der Aktivität von Muskeln, Sehnen, Faszien und Gelenken
informiert.
Strukturschäden der Faszie können den reibungslosen Bewegungsablauf verzögern und
zu langsameren Korrekturreaktionen führen. Für das Nervensystem und insbesondere für
die Propriozeption gilt die Devise: „Use it or lose it!“ [Abb. 3]. Nicht umsonst sieht man in letzter Zeit in den Fitnesszentren immer öfter ältere
Menschen auf Wackelbrettern stehen, denn wer seine Zeit meist sitzend auf dem Sofa
verbringt, büßt nicht nur die Spannungsfähigkeit von faszialem Gewebe ein, sondern
verlangsamt auch die Fähigkeit zur Korrekturreaktion. Als Folge wird dann auch das Stolpern über die Teppichkante gleich zum Verhängnis.
Auch bei unseren Haustieren ist Bewegungsmangel und somit ein Training des propriozeptiven
Systems eine – oft von Menschen verursachte – Wohlstandserscheinung.
Abb. 3 Use it or lose it! Balance Boards bieten für Mensch und Tier eine sehr gute Möglichkeit,
Haltungs- und Stellreaktionen zu trainieren. © Doris Börner
Faszien und Schmerz
Auch bei der Entstehung von Schmerz spielen Faszien eine Rolle. Schmerz entsteht im
Kopf und ist die individuelle Bewertung von den über die Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren) gemeldeten sensorischen Informationen (nozizeptive Afferenzen) im Körper. Wird im Rahmen einer Operation unter Allgemeinanästhesie
ein Eingriff vorgenommen, ist zwar die bewusste Verarbeitung blockiert, jedoch werden
nach wie vor Informationen von den Nozizeptoren an das zentrale Nervensystem gemeldet.
Es lassen sich Reaktionen des Organismus auf diese Reize verzeichnen (ansteigender
Blutdruck, steigende Herzfrequenz etc.).
Nozizeption ist die Wahrnehmung von Reizen, die vom Gehirn als Schmerz wahrgenommen
werden. Die Rezeptoren der Schmerzreize nennt man Nozizeptoren.
In einer humanmedizinischen Studie [4], in welcher in der thorakolumbalen Faszie experimentell eine Entzündung erzeugt
wurde, wurde der von den Probanden wahrgenommene fasziale Schmerz deutlich „emotionaler“ bewertet als Schmerzen in der Muskulatur. Beschreibungen wie „brutal“, „quälend“ oder „furchtbar“
waren einige der Adjektive, die zur Beschreibung vorwiegend genutzt wurden. Auch am
Tiermodell zeigten Studien, dass das Nervensystem bei pathologischen Prozessen in
der Lumbalregion verstärkt auf die Impulse aus den Faszien reagiert [5]. Überwiegend sind in den Faszien Neurone zu finden, die multiple Qualitäten detektieren
können (wide dynamic range neurons). Zudem wurden in Faszien Substanz-P und Calcitonin-Gene-Related-Peptide-abhängige
Neurone nachgewiesen – Substanzen, die im Zusammenhang mit chronischem Schmerz stehen
[6].
Faszien haben eine direkte Verbindung zum limbischen System. Das limbische System ist ein Teil des Gehirns, welcher primär für die Verarbeitung von Emotionen und Triebverhalten zuständig ist. So gesehen liegt es nahe, dass Erkrankungen des myofaszialen Systems
häufig auch in Zusammenhang mit Stress zu finden sind, wie es von manchen Formen des
Rückenschmerzes oder des Fibromyalgie-Syndroms des Menschen diskutiert wird. Psyche
und Körper bilden eine Einheit und so sind psychische Belastungen manchmal die alleinige
Ursache von Erkrankungen.
Beim Menschen sind einige Erkrankungen bekannt, denen eine Schädigung des faszialen
Systems zugrunde liegt. Diese schmerzhaften Erkrankungen rühren von Verhärtungen in bindegewebigen Strukturen (z. B. Läuferknie, Frozen Shoulder) beziehungsweise werden durch Kompression von Nerven infolge von verdicktem Bindegewebe (Tennisellenbogen) hervorgerufen. Chirurgisch
wird diese Erkrankung durch die Spaltung einer bestimmten Faszie (Osborne Faszie)
angegangen. Denkt man an die Strukturen und Erkrankungen des Fesselträgers beim Pferd
und der bei Pferden durchgeführten Durchtrennung des Fesselringbands, lassen sich
einige Parallelen herstellen. Interessanterweise können beim Ellbogen des Menschen
allerdings auch Verdickungen, die außerhalb des eigentlichen Tunnels auftreten, zu
einer relevanten Kompression führen.
Faszien in der Therapie
Ob manuelle Therapie, Akupunktur, Laser oder Ultraschall, all diese Methoden wirken
auf das Bindegewebe und dienen der Wiederherstellung einer möglichst ursprünglichen
Integrität und Funktion des Gewebes.
Genutzt werden dabei unterschiedliche Mechanismen wie:
-
Piezoelektrizität bei der Stoßwellentherapie
-
das manuelle Lösen von Verklebungen
-
die Aktivierung des Flusses von Gewebsflüssigkeiten
-
neurophysiologische Mechanismen
In einem Versuch mit Ratten wurde nach experimentell erzeugten Verklebungen im Abdomen
festgestellt, dass myofasziale Massage in der Lage war, diese frischen Adhäsionen zu lösen [7].
Weiterhin sind Therapieauswirkungen auf den lokalen Muskeltonus, die Verbesserung
des Grades der Hydratation der Grundsubstanz, die Ausschüttung von humoralen Faktoren
und der Einfluss auf die lokale Propriozeption über die zahlreichen faszialen Mechanorezeptoren
beschrieben. In einem Versuch beim Menschen mit Bezug auf die lumbale Faszie zeigte
sich, dass Propriozeption und Nozizeption im Prinzip gegenläufig sind. Das heißt,
dass ein (lokal) erzeugter propriozeptiver Reiz den Schmerz reduzieren kann.
Die Gretchenfrage: Boxenruhe oder nicht?
Die Gretchenfrage: Boxenruhe oder nicht?
Einen Hinweis geben die Studien von Prof. Langevin et al. in Kanada [8], [9], nach welchen mechanische Reizungen in Form von statischer Gewebedehnung in vitro
und in vivo entzündungshemmende und antifibrotische, d. h. gegen eine pathologische
Vermehrung des Bindegewebes gerichtete Wirkung zeigen.
Auch eine chinesische Studie befasste sich mit dem Thema Bewegung in der Rehabilitation
[10]. In dieser Studie an Schweinen wurde experimentell eine Entzündung der thorakolumbalen
Faszie verursacht und die Rehabilitation beobachtet. Eine der Gruppen erhielt eine
Bewegungseinschränkung, indem eine Hintergliedmaße für 8 Wochen mit einem Brustgurt
verbunden wurde. Im Anschluss wurden per Ultraschall Messungen der Fasziendicke und
der Scherbeanspruchung (Verschieblichkeit der Schichten gegeneinander) während der
passiven Flexion der Hüfte gemessen. Eine Verletzung verursachte sowohl eine Zunahme
der Fasziendicke als auch eine Abnahme der Scherbeanspruchung auf der nicht verletzten
Seite.
Bewegungseinschränkungen allein änderten die Fasziendicke nicht, verringerten jedoch
die Scherbeanspruchung auf der nicht eingeschränkten Seite.
Additive Auswirkungen hatte die Kombination aus Verletzung und Bewegungseinschränkung auf die Verringerung der Faszienmobilität. Dieses zeigte sich durch eine Verringerung
der Scherbeanspruchung um mehr als die Hälfte im Vergleich zu Kontrollen und einer
Verringerung um fast ⅓, im Vergleich zur Bewegungseinschränkung allein. Im Ergebnis
weist diese Studie darauf hin, dass eine Rückenverletzung an der eine Faszie beteiligt
ist, insbesondere dann die relative Beweglichkeit der Faszienschichten einschränken
kann, wenn die Bewegung eingeschränkt wird.
Take home
Und was sagt uns das nun alles? Die gute Nachricht: Fasziale Strukturen sind wie das
Nervensystem veränderbar. Auch wer lange im Sessel gesessen oder in der Box gestanden
hat, kann immer noch sein Nervensystem und seine faszialen Strukturen beeinflussen.
Generell sind Studienergebnisse an Menschen oder Versuchstieren nicht eins zu eins
auf alle Tierarten übertragbar, aber sie geben uns erste Hinweise. Wünschenswert wäre
also, dass Erfahrungen gesammelt und mehr belastbare Studien durchgeführt werden,
die diese Erkenntnisse auch bei anderen Tierarten bestätigen. Neben den pathologischen
Veränderungen ist es zudem notwendig, funktionell anatomische Grundlagen zu klären.
Dies ist hilfreich, um die Funktion und Rolle von Faszienketten zu belegen oder andere
funktionelle Synergien beschreiben zu können, auf die therapeutische Ansätze aufbauen
können.
Was die Botschaft an den Tierhalter anbelangt, so sollte die Bedeutung von Bewegung
für eine gute Pro- und Metaphylaxe Teil eines jeden Besitzergesprächs sein. Wie jedes
System muss auch das Nervensystem trainiert werden. Ein immer einheitlicher Boden
sowie der gleichförmig reduzierte Input bei der Boxenhaltung oder das gleichförmige
Laufen am Fahrrad stellen keine vielseitige Herausforderung für das neuromotorische
und das myofasziale System da. Es ist für den „Ernstfall“ nicht gut vorbereitet. Aus
diesem Grund ist es wichtig, dass auch die Tierbesitzer die Hintergründe verstehen,
um auf diesem Weg auch in der Haltung und im Training ihrer Tiere entsprechende Veränderungen
zu initiieren, denn auch bei den Faszien gilt: Vorbeugen ist besser als heilen!