Abb. 1 Position und Bewegung sind im Sport und auch in der klinischen
Forschung die beiden meistuntersuchten Sinnesmodalitäten der Propriozeption. (Quelle: Kzenon/stock.adobe.com;
Symbolbild)
Unser Köper besitzt eine Vielzahl an sensorischen Systemen. Gardner und Johnson [7] unterscheiden sechs Sinnessysteme: das visuelle,
das auditive, das vestibuläre, das somatosensorische, das gustatorische und das
olfaktorische Sinnessystem. Zu allen diesen Sinnessystemen gehören spezifische
Rezeptoren, die bei Stimulation Informationen an das zentrale Nervensystem senden,
wo sie weiterverarbeitet werden. Die Wahrnehmung der Körperorientierung zur
Erdvertikalen wird z. B. durch die Information von vestibulären, somatosensorischen
und visuellen Sensoren bestimmt [18]. Jeder dieser
Sinne liefert dem zentralen Nervensystem unterschiedliche Informationen über die
Orientierung im Raum oder auch der Körpersegmente zueinander.
Allerdings sind nicht alle sensorischen Informationen immer in gleicher Weise an
einer Bewegung beteiligt, sondern können unter verschiedenen Bedingungen
unterschiedlich gewichtet sein. Experimente von Lee und Aronson [14] z. B. konnten zeigen, dass Kleinkinder im Alter
von 13–16 Monaten beim Stehen stärker auf visuelle Einflüsse reagieren als
Erwachsene. Die Autoren führen dies u. a. auf eine noch limitierte Expertise das
Stehen betreffend zurück. Kleinkinder zeigten als Reaktion auf den sogenannten
„moving room“ (eine Bewegung der Seitenwände eines Raumes, die ein visuelles
Fließmuster erzeugt, während die Versuchsperson auf einem stabilen, nicht bewegten
Untergrund steht) eine stark ausgeprägte Körperschwankung, die in vielen Versuchen
so ausgeprägt war, dass die Kinder sogar umfielen. Erwachsene schwankten in deutlich
geringerem Ausmaß. Dies nimmt allerdings im höheren Lebensalter (d. h. 60 Jahre und
älter) wieder zu. Durch alterskorrelierte Leistungseinbußen des somatosensorischen
Systems, wie z. B. degenerative Veränderungen von peripheren Nervenfasern,
orientieren sich die älteren Erwachsenen wieder stärker am visuellen Fließmuster
[4].
Integrationsleistung Eine gute posturale Kontrolle verlangt also einen
Abgleich der verschiedenen gleichgewichtsrelevanten Sinnessysteme miteinander und
eine situationsabhängige Gewichtung. Diese Integrationsleistung ist abhängig von
Übung und damit als Lernprozess zu verstehen [3].
Eine gute posturale Kontrolle ist die Basis für einen Großteil unserer motorischen
Handlungen. Sowohl für die gleichgewichtsregulatorische Komponente jeder motorischen
Handlung als auch für die Steuerung der spezifischen willkürmotorischen Handlung ist
die sensorische Information wichtig. Der Integrationsleistung und ganz speziell der
situationsabhängigen Gewichtung kommen damit nochmals eine besondere Bedeutung zu.
Je geringer der gleichgewichtsrelevante Anteil und je geringer der visuelle Anteil,
desto wichtiger ist die propriozeptive Information am motorischen Lernprozess.
Zwar sind die Informationen der verschiedenen Systeme unabhängig voneinander [12], werden aber zur Orientierung im Raum zentral
integriert und beeinflussen sich gegenseitig [5],
[15]. Auch das Bewusstsein über die
Körperposition scheint die Repräsentation z. B. der Erdvertikalen zu modulieren
[2].
Kinetosen Besonders deutlich wird die gemeinsame Verarbeitungsleistung dann,
wenn es zu widersprüchlichen sensorischen Informationen kommt. Folgeerscheinungen
werden z. B. unter dem Begriff der Kinetosen zusammengefasst, zu denen die Flug-,
See- und Reisekrankheit zählen [20]. Eine besondere
Bedeutung in der Verarbeitung sensorischer Information wird dabei dem Thalamus
zugesprochen, der als Schaltstation zwischen afferenten Leitungsbahnen und der
Großhirnrinde gilt [16].
Propriozeption messen
Zum somatosensorischen Sinnessystem zählen neben dem Berührungssinn, dem Schmerz, dem
Juckreiz und der viszeralen Information auch die Propriozeption. Dieses Sinnessystem
erfasst verschiedene Sinnesmodalitäten:
-
Position der Körpersegmente und des Körpers
-
Bewegung der Körpersegmente und des Körpers
-
Grad der körperlichen Anstrengung
-
Kraft
-
Schweregefühl
Position und Bewegung Die beiden ersteren, Position und Bewegung, sind im
Sport und auch in der klinischen Forschung die beiden meistuntersuchten
Sinnesmodalitäten. Häufig werden diese allerdings nur sehr grob erfasst. Für den
neurologischen Befund zum Beispiel erfolgt die Einteilung der Wahrnehmung häufig in
nur drei Kategorien: normal, reduziert oder fehlend. In den letzten Jahren wurden
daher verschiedene Geräte entwickelt, anhand derer die Propriozeption sogar
gradgenau erfasst werden kann [6], [8], [9]. Bevor eine
Testung durchgeführt wird, sollte aber nicht nur klar sein, welche der oben
genannten Sinnesmodalitäten man adressiert, sondern auch, welcher Aspekt der
jeweiligen Sinnesmodalität untersucht werden soll. Unterschieden werden hier zwei
grundlegende Aspekte: Man sucht entweder nach der Schwelle, bei der ein Stimulus
noch wahrnehmbar ist (Detektionsschwelle), oder nach der Schwelle, bei der zwei
wahrnehmbare Stimuli noch unterschieden werden können (Diskriminationsschwelle)
[13].
Robotergestützte Testoption Konczak und Mitarbeiter verwenden z. B. den
sogenannten Wristbot, ein robotergestütztes Messsystem, mit dem die Propriozeption
des Handgelenks erfasst werden kann [6]. Dieser
Handgelenkroboter kann die drei Freiheitsgrade des Handgelenks ansprechen, das
heißt, Bewegungen in jeder Gelenkachse zulassen, unterbinden oder durch
entsprechende Aufschaltung von Kräften die Bewegungsausführung assistieren oder
erschweren. Angetrieben über 4 Elektromotoren sind selektive Flexion/Extension,
Ab-/Adduktion und Pro-/Supination oder aber Kombinationsbewegungen dieser drei
Freiheitsgrade möglich. Zur Bestimmung der Diskriminationsschwelle der
Handgelenkpositionen in Flexion/Extension wurden zwei passive Positionsstimuli
präsentiert und mit der Forced-Choice-Methode überprüft. Das heißt, das Handgelenk
des Probanden wurde durch den Wristbot in zwei unterschiedliche Handgelenkpositionen
gebracht, von denen dann derjenige Stimulus zu benennen war, der am weitesten von
der Neutral-Null-Stellung des Handgelenks entfernt war. Für eine einzige Testung
wird so eine Reihe unterschiedlicher Stimuli-Paarungen präsentiert, bei denen die
beiden Stimuli mal weiter und mal weniger weit voneinander abweichen. Man sucht in
dieser Testung nach der kleinsten noch wahrnehmbaren Differenz, die richtig erkannt
wird. Die computergestützte Testung ermöglicht es, über einen adaptiven Algorithmus
die jeweils nächste Stimuli-Paarung und letztlich auch die sensorische Schwelle zu
berechnen.
Gerätegestützte Testoption Eine andere Möglichkeit, Propriozeption zu messen,
wird in der Studie von Holst-Wolf et al. [10]
beschrieben. In dieser Studie an 308 gesunden Kindern im Alter zwischen 5 und 17
Jahren wurde das bilaterale Messsystem Manipulandum verwendet. Es handelt sich hier
um ein Testsetting, das verwendet wurde, um die Detektion der Ellbogenposition in
Extension/Flexion zu untersuchen. Die Versuchsperson hat beide Unterarme auf
beweglichen Schwenkelementen. Ein Schwenkarm wird durch den Untersucher in eine
bestimmte Position gebracht, und die Versuchsperson soll den anderen Schwenkarm
selbstständig durch Bewegung des Unterarms, der sich auf diesem Schwenkarm befindet,
matchen (also in die gleiche, spiegelverkehrte Position bringen). Je fünf Durchgänge
wurden für drei unterschiedliche Positionen durchgeführt, und so wurde der
Positionsfehler, also die Abweichung zur vorgegebenen Ellbogenposition,
bestimmt.
Vergleich In beiden Beispielen wird die Modalität „Position“ gemessen. Beide
Beispiele unterscheiden sich jedoch in drei Aspekten: Im Vergleich zum ersten
Beispiel wird im zweiten Testsetting nur ein Stimulus präsentiert (Diskrimination
versus Detektion), dessen richtiges Erkennen durch eine aktive Eigenbewegung
(passive versus aktive Testung) im gleichen Gelenk der anderen Körperseite angezeigt
wird (unilateral versus bilateral). Diese drei Aspekte können je Testung der
Propriozeption variiert werden.
Egal welche dieser beiden Methoden für die Testung verwendet wird – wichtig ist,
dass die Testung der Propriozeption unter Ausschluss visueller Information
stattfindet, um so sicherzustellen, dass die relevante Information über die
propriozeptiven Rezeptoren aufgenommen wird.
Neurologische Rehabilitation
Neurologische Rehabilitation
Neurologische Erkrankungen können Störungen oder sogar komplette Ausfälle
sensorischer Informationen verursachen. Diese Leistungseinschränkung kann durch eine
Schädigung der peripheren und oder der zentralen Komponenten des jeweiligen
Sinnessystems bedingt sein. Zum einen können also Aufnahme (Rezeptoren) und
Weiterleitung (Neurone) der Informationsverarbeitung beeinträchtigt sein und zum
anderen auch die nichtattentionalen und attentionalen zentralen
Verarbeitungsanteile. Nichtattentionale Anteile betreffen die impliziten Aspekte des
sensomotorischen Lernens [1], die attentionalen
Anteile kommen bei der Wahrnehmung, also der Perzeption der Sinnesinformation, zum
Tragen.
Umgewichtung der sensorischen Information Für die neurologische Rehabilitation
sind folgende Phänomene interessant: Führt z. B. eine bilaterale Vestibulopathie zu
einem peripheren Ausfall der vestibulären Information, kommt es zu einer
sensorischen Umgewichtung (engl.: sensory reweighting). Medendorp et al. [17] führten bei Patienten mit und ohne bilaterale
Vestibulopathie den Stab-Rahmen-Test (engl.: Rod and Frame Test) durch. Der
Stab-Rahmen-Test ist eine Raumorientierungsaufgabe, bei der ein leuchtender Stab und
ein leuchtender rechteckiger Rahmen in einem abgedunkelten Raum präsentiert werden.
Sowohl Stab als auch Rahmen sind beide verkippt. Auch die Kopfposition wird für
diese Aufgabe variiert. Aufgabe ist es nun, den Stab zu repositionieren und
senkrecht zur Erdvertikalen zu orientieren. Die Autoren konnten zeigen, dass
Patienten mit bilateraler Vestibulopathie im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen
einen größeren Bias und eine größere Variabilität in der Vertikalenwahrnehmung
haben. Unter Berücksichtigung des variierenden Testsettings kommen die Autoren zu
dem Schluss, dass die Patienten zur Bearbeitung der Aufgabe stärker die visuellen
Informationen nutzen als die gesunden Kontrollpersonen, die sich stärker auf die
vestibuläre Information stützen, und interpretieren dies als Umgewichtung der
sensorischen Information.
Willkürmotorisches Bewegungstraining Ein weiteres Phänomen, das bereits in
mehreren Studien beschrieben ist, ist bei zentralen Erkrankungen zu beobachten.
Durch ein willkürmotorisches Bewegungstraining lässt sich neben der motorischen
Funktion auch die propriozeptive Funktion verbessern. Bei Patienten mit
idiopathischem Parkinson-Syndrom konnte dies für die Funktionen des Handgelenks
nachgewiesen werden. Elangovan et al. [6]
trainierten 13 an Parkinson erkrankte Erwachsene mit dem Handgelenkroboter
Wristbot. Neben der Anwendung als propriozeptives Messinstrument kam in
dieser Studie der Roboter auch für die motorische Intervention zur Anwendung ([
Abb. 2
]). Durch kleinamplitudige
Flexion-Extensions-Bewegungen wird ein virtueller Ball auf einer virtuellen
Tischplatte ins Rollen gebracht, um den Ball kontrolliert über ein fixes Zielareal
zu bringen. Schafft eine Testperson es, das Zielareal für 5 Sekunden zu halten, wird
ein neues Zielareal angezeigt. Je nach Funktionslevel des Patienten können
verschiedene Schwierigkeitslevel und verschiedene Arbeitsbereiche für
Flexion/Extension definiert werden. Für die Studie wurden insgesamt 60 Zielareale
festgelegt.
Abb. 2 Durch eine Flexionsbewegung des Handgelenks wird die virtuelle
Tischplatte entgegen des Uhrzeigersinns gekippt, und der Ball bewegt sich
nach links. (Quelle: C. Krewer)
Vor und nach dieser Therapieeinheit mit 60 Zielarealen wurden jeweils verschiedene
Tests durchgeführt, u. a. die motorische Lernleistung in ebendieser Aufgabe und die
Propriozeption (s. o.). Die Patienten verbesserten sich sowohl in der motorischen
als auch in der Handgelenk-Positions-Diskriminationsaufgabe. Ein Transfer dieser
Verbesserungen auf einen Handschreibtest konnte in dieser Studie allerdings nicht
nachgewiesen werden.
Stimulation der Fingerkuppen Andere Verfahren fokussieren speziell auf die
Erhöhung der sensorischen Information mit dem Ziel, den motorischen Outcome zu
verbessern. Ein Beispiel für diese therapeutische Herangehensweise ist die
elektrische Stimulation der Fingerkuppen mit dem Therapiehandschuh tipstim
([
Abb. 3
]). Während dieser Stimulation
ruht die Hand auf einer stabilen Unterlage. Es findet zeitgleich keine Bewegung
statt.
Abb. 3 Sensible Stimulation der Fingerspitzen mittels
Therapiehandschuh tipstim®
(Bosana Medizintechnik GmbH, Dorsten, Deutschland; Quelle:
C. Krewer)
Kattenstroth et al. [11] behandelten Patienten mit
sensomotorischen Defiziten der Hand drei bis vier Wochen nach Schlaganfall mit
diesem therapeutischen Ansatz im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie.
Die elektrische 20-Hz-Stimulation wurde dabei an der paretischen Hand für 45 Minuten
täglich, fünf Tage die Woche über einen Zeitraum von zwei Wochen appliziert. Vor und
nach der Interventionsphase wurden verschiedene Tests zur Erfassung der Veränderung
durch die Therapie vorgenommen. Die Testverfahren und Assessments wurden von den
Autoren in jeweils vier funktionellen Domänen eingeteilt: Sensorik, Motorik,
Propriozeption und Alltagsaktivität. Der sensorischen Domäne wurden zwei Testungen
zur Erfassung der taktilen Funktion der Zeigefingerkuppe zugeordnet (Frey-Filamente
und Grating Orientation Task), der motorischen Domäne wurden zwei Testungen zur
Erfassung der Handgriffkraft und der Feinmotorik (Dynamometer und Nine Hole Peg
Task) zugeordnet, der Domäne Propriozeption die Erfassung der Wahrnehmung der
Gelenkposition (Joint Position Sense) und die Alltagsaktivitäten wurden mit dem
Jebsen-Taylor-Handtest erfasst. Die Propriozeption wurde in dieser Studie mit dem
Bochum Joint Position Sense Assessment erfasst. Für diese Testung werden
von der Testperson Styroporkugeln in sieben verschiedenen Größen (3, 5, 6, 7, 8, 10
und 12 cm) in der paretischen Hand gehalten. Eine Referenzkugel hält die Testperson
in der nichtparetischen Hand. Für jede Paarung erfolgt dann eine Einschätzung der
Kugelgröße für die in der paretischen Hand gehaltene Kugel. Eingeschätzt werden
soll, ob die Kugel im Vergleich zur Referenzkugel kleiner, größer oder gleich groß
ist.
Die Autoren konnten zeigen, dass die Interventionsgruppe, die zusätzlich die
sensorische Stimulation erhalten hatte, in allen vier Domänen einen besseren Outcome
hatte als die Kontrollgruppe, die keine sensorische Stimulation erhalten hatte. Am
deutlichsten waren die Verbesserungen in den beiden Domänen Sensorik (also in dieser
Forschungsarbeit die taktile Wahrnehmung) und Motorik.
Schlussbetrachtung
Diese Studien zeigen, dass die Intensivierung einer spezifischen sensorischen
Information im Rahmen eines neurorehabilitativen Konzepts das motorische Lernen
unterstützt, es also zu einem verbesserten motorischen Outcome kommen kann. Es zeigt
sich aber auch, dass primär motorische Interventionen einen positiven Effekt auf die
sensorische Wahrnehmungsleistung haben. Je besser die Verfahren zur Erfassung der
somatosensorischen Information werden und je gezielter sie zum Einsatz kommen, desto
detaillierter kann dieser Zusammenhang von motorischer und somatosensorischer
Funktion zukünftig untersucht werden. Für den interessierten Leser sei an dieser
Stelle auf das Review von Aman et al. [1]
verwiesen, das einen guten Überblick über verschiedene Verfahren bietet, die
speziell die Verbesserung der Propriozeption avisieren.